»Eine gute Idee«, sagte Tanis. »Danke...«
»Geh du vor«, unterbrach Flußwind. »Ich komme nach; will ich hier erst unsere Spuren verwischen.«
Tanis wollte dem Barbaren danken. Aber Flußwind hatte sich schon umgedreht und mit seiner Arbeit begonnen. Als er den Pfad hinunterging, schüttelte Tanis den Kopf. Hinter sich konnte er Goldmond hören, die leise in ihrer Sprache redete. Flußwind antwortete mit einem barschen Wort. Goldmond seufzte, dann verlor sich das weitere Gespräch im Geräusch des knisternden Busches, mit dem Flußwind ihre Spuren beseitigte.
8
Die Geschichte des Stabes. Seltsame Kleriker. Unheimliche Gefühle
Der dichte Wald des Solace-Tals war eine grüne Masse pulsierenden Lebens. Unter den Dächern der Vallenholzbäume blühten Distelbüsche. Der Boden war mit lästigen Kletterpflanzen überzogen. Man mußte vorsichtig auf diese Pflanzen treten, denn sonst schlangen sie sich einem um den Knöchel und hielten das hilflose Opfer so lange gefangen, bis es von einem der Raubtiere, die im Tal lauerten, verschlungen wurde. Auf diese Weise versorgte sich auch die Schlingpflanze mit dem, was sie zum Leben brauchte - Blut. Sie brauchten über eine Stunde, um sich durch das Gebüsch zu hacken und zur Haven-Straße zu gelangen. Alle waren zerkratzt, zerrissen und erschöpft, und die vor ihnen liegende Straße mit ihrer weichen, lockeren Erde war ihnen willkommen. Erst als sie kurz vor der Straße anhielten und sich ausruhten, bemerkten sie, daß völlige Ruhe herrschte. Ein Schweigen war über das Land gefallen, als ob jedes Lebewesen den Atem anhielt und wartete. Jetzt hatten sie die Straße erreicht, und niemand war besonders erpicht, aus dem Schutz des Gebüsches hervorzutreten.
»Glaubst du, es ist sicher?« fragte Caramon und lugte aus einer Hecke.
»Sicher oder nicht, diesen Weg müssen wir nehmen«, sagte Tanis. »Falls du nicht fliegen kannst oder wieder in den Wald zurück willst. Wir haben eine Stunde gebraucht, um einige hundert Meter zurückzulegen. Bei diesem Tempo dürften wir die Kreuzung nächste Woche erreichen.«
Caramon errötete verärgert. »Ich meinte nicht...«
»Tut mir leid«, seufzte Tanis. Auch er spähte auf die Straße. Die riesigen Vallenholzbäume bildeten einen dunklen Korridor im grauen Licht. »Mir gefällt es genauso wenig.«
»Trennen wir uns, oder bleiben wir zusammen?« unterbrach Sturm das seiner Meinung nach müßige Gespräch mit eiskaltem, praktischem Verstand. »Wir bleiben zusammen«, entgegnete Tanis. Und fügte nach einem Moment hinzu: »Trotzdem sollte jemand kundschaften gehen.«
»Das mache ich, Tanis«, bot sich Tolpan an, der aus dem Busch unter Tanis' Ellbogen hervorsprang. »Niemand würde es verdächtig finden, daß ein Kender allein reist.«
Tanis runzelte die Stirn. Tolpan hatte recht - niemand würde ihn beargwöhnen. Es war im allgemeinen bekannt, daß Kender gern auf Wanderschaft gingen und Krynn auf der Suche nach Abenteuern durchreisten. Aber Tolpan hatte die beunruhigende Angewohnheit, seine Mission zu vergessen und die Reiseroute zu ändern, wenn irgend etwas Interessanteres seine Aufmerksamkeit fesselte.
»Nun gut«, sagte Tanis schließlich. »Aber vergiß nicht, Tolpan Barfuß, halte deine Augen offen und deine Gedanken zusammen. Kein Umherstreifen, und vor allem« - Tanis fixierte den Kender mit strengen Augen – »halte deine Hände aus den Taschen anderer Leute.«
»Solange es keine Bäcker sind«, fügte Caramon hinzu. Tolpan kicherte, schob sich durch das Gestrüpp und hatte bald die Straße erreicht; sein Hupakstab bohrte Löcher in den Sand, seine Beutel hüpften beim Gehen auf und ab. Und dann sang er ein Liedchen.
Tanis grinste, ließ noch einige Minuten vergehen, und nachdem er den letzten Vers des Liedes gehört hatte, trat er vor. Schließlich traten alle auf die Straße mit genauso viel Angst wie ein Trupp schlechter Schauspieler vor einer feindseligen Zuschauerschaft. Ihnen war, als ruhte jedes Auge aus Krynn auf ihnen.
Der tiefe Schatten unter den flammenfarbigen Blättern machte es unmöglich, im Wald seitlich der Straße irgend etwas auszumachen. Sturm führte allein und im bitteren Schweigen die Gruppe. Tanis wußte, daß der Ritter sich durch eigene Dunkelheit schleppte, obwohl er den Kopf stolz hochhielt. Caramon und Raistlin folgten. Tanis hielt ein Auge auf den Magier, besorgt über seinen Zustand.
Raistlin hatte einige Schwierigkeiten gehabt, durch das Gestrüpp zu kommen, aber jetzt kam er gut voran. Er stützte sich mit einer Hand auf seinen Stab, in der anderen hielt er ein aufgeschlagenes Buch. Tanis wunderte sich anfangs, was der Magier las, bis ihm klar wurde, daß es sein Zauberbuch war. Es ist der Fluch der Magier, daß sie ständig lernen und jeden Tag ihre Zaubersprüche wiederholen müssen. Die Worte der Magie brennen sich dem Geist ein, flackern dann und erlöschen, wenn der Zauber geworfen ist. Jeder Zauber zerstört einen Teil der physischen und geistigen Energie des Magiers, bis er völlig erschöpft ist und sich ausruhen muß, bevor er seine Magie erneut anwenden kann.
Flint stapfte auf der anderen Seite neben Caramon. Die beiden begannen leise über den Bootsunfall zu streiten, der zehn Jahre zurücklag.
»Versuchen, mit bloßen Händen einen Fisch zu fangen...«, grummelte Flint voller Abscheu.
Tanis bildete mit den Barbaren das Schlußlicht. Er wandte seine Aufmerksamkeit Goldmond zu. Jetzt, wo er sie deutlich im fleckigen grauen Licht unterhalb der Bäume sah, bemerkte er um ihre Augen Linien, die sie älter als neunundzwanzig erscheinen ließen. »Unser Leben war nicht einfach«, vertraute Goldmond ihm an. »Flußwind und ich lieben uns schon seit vielen Jahren. Doch es ist das Gesetz meines Volkes, daß ein Kämpfer, der die Tochter des Stammeshäuptlings heiraten will, eine große Tat vollbringen muß, denn er muß sich ihrer würdig erweisen. Es wurde immer schlimmer für uns. Flußwinds Familie war von unserem Stamm Jahre zuvor vertrieben worden, weil sie sich geweigert hatten, unsere Vorfahren zu ehren. Sein Großvater glaubte an uralte Götter, die vor der Umwälzung existiert hatten, obwohl es keine Beweise für ihre Existenz auf Krynn gab.
Mein Vater hatte entschieden, daß ich nicht so tief unter meinem Stand heiraten sollte. Er schickte Flußwind auf eine Mission, die kaum zu erfüllen war.— Er sollte ein Objekt mit heiligen Eigenschaften finden, das die Existenz dieser alten Götter beweisen könnte. Natürlich glaubte mein Vater nicht, daß es so einen Gegenstand geben würde. Er hoffte, Flußwind würde den Tod finden oder daß ich mit der Zeit einen anderen lieben könnte.« Sie sah zu Flußwind hoch und lächelte. Aber sein Gesicht blieb hart, seine Augen starrten in die Ferne. Ihr Lächeln versiegte. Seufzend fuhr sie mit ihrer Geschichte fort. Sie schien eher zu sich als mit Tanis zu sprechen.
»Flußwind war jahrelang unterwegs. Und mein Leben war leer. Manchmal dachte ich, mein Herz würde sterben. Und dann kehrte er vor einer Woche zurück. Er war halbtot, verwirrt und hatte hohes Fieber. Er stolperte in das Lager und brach vor meinen Füßen zusammen, seine Haut brannte bei der Berührung. In seiner Hand hielt er diesen Stab umklammert. Wir mußten ihn ihm entreißen. Auch in Ohnmacht ließ er ihn nicht los.
Im Fieber sprach er über einen dunklen Ort, eine zerstörte Stadt, wo der Tod schwarze Flügel trüge. Dann, als er vor Angst und Entsetzen in Panik geriet und die Diener ihn ans Bett fesseln mußten, erinnerte er sich an eine Frau, eine in blaues Licht gekleidete Frau. Sie kam zu ihm an den dunklen Ort und heilte ihn und gab ihm den Stab. Diese Erinnerung ließ ihn ruhiger werden, und das Fieber sank.
Vor zwei Tagen...« Sie hielt inne, war es wirklich erst zwei Tage her? Es schien ein Leben zu sein! Seufzend erzählte sie weiter: »Er zeigte meinem Vater den Stab und erzählte ihm, daß er ihn von einer Göttin erhalten hätte, daß er aber ihren Namen nicht wüßte. Mein Vater sah sich den Stab an« – Goldmond hob ihn hoch - »und befahl ihm, etwas zu tun irgend etwas. Nichts geschah. Er warf ihn Flußwind wieder zu, erklärte ihn zum Betrüger und befahl dem Stamm, ihn als Strafe für seine Gotteslästerung zu Tode zu steinigen.« Goldmonds Gesicht wurde beim Sprechen blaß, Flußwinds Gesicht finster trüb.