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Als Junge hatte Sturm Geschichten über Huma verschlungen. Seine Mutter - Tochter eines Ritters von Solamnia und selbst mit einem Ritter verheiratet - hatte nur diese Geschichten gekannt und sie ihrem Sohn erzählt. Sturms Gedanken gingen zu seiner Mutter, seine Schmerzen ließen ihn an ihre liebevolle Pflege denken, wenn er krank oder verletzt war. Sturms Vater hatte sein Weib und seinen Sohn ins Exil geschickt, weil der Junge - der einzige Nachkomme - eine Zielscheibe für jene darstellte, die die Ritter von Solamnia für immer aus dem Antlitz von Krynn verbannen wollten. Sturm und seine Mutter hatten in Solace Zuflucht gefunden. Der Junge hatte schnell Freundschaften geschlossen, insbesondere mit einem anderen Knaben, Caramon, der seine Interessen an Kampfesdingen teilte. Aber für Sturms stolze Mutter waren alle Leute in Solace unter ihrer Würde. Und als das Fieber sie verzehrte, starb sie einsam, nur ihr Sohn war bei ihr. Vor ihrem Tod hatte Sturm ihr versprechen müssen, seinen Vater aufzusuchen - aber er bezweifelte allmählich, daß dieser noch lebte. Nach dem Tod seiner Mutter entwickelte sich der junge Mann unter Tanis' und Flints Anleitung zu einem erfahrenen Kämpfer. Die beiden nahmen sich Sturms an, so wie sie sich insgeheim auch Caramons und Raistlins angenommen hatten. Zusammen mit Tolpan, und gelegentlich mit Kitiara, der wilden und wunderschönen Halbschwester der Zwillinge, begleiteten Sturm und seine Freunde Flint, der als Metallschmied arbeitete, auf seinen Reisen durch die Länder von Abanasinia.

Vor fünf Jahren jedoch hatten sich die Gefährten entschlossen, sich zu trennen, um Gerüchten nachzugehen, nach denen sich das Böse im Lande vermehrt haben sollte. Sie legten einen Eid ab, nach Ablauf von fünf Jahren im Wirtshaus Zur letzten Bleibe wieder zusammenzukommen.

Sturm war in den Norden nach Solamnia gereist, entschlossen, seinen Vater und sein Erbe zu suchen. Er fand nichts und entkam nur knapp dem Tod – mit dem Schwert und der Rüstung seines Vaters. Die Reise in seine Heimat war ein qualvolles Erlebnis gewesen. Sturm hatte gewußt, daß die Ritter in Schmach und Schande lebten, aber er war erschrocken gewesen zu sehen, wie tief ihre Verbitterung ging. Huma, Lichtbringer, Ritter von Solamnia, hatte vor Jahren, während des Zeitalters der Träume, die Finsternis verdrängt. Darauf folgte das Zeitalter der Allmacht. Dann kam die Umwälzung, als die Götter die Menschen verließen – wie es landläufig hieß. Die Menschen hatten sich hilfesuchend an die Ritter gewandt - so wie sie sich in der Vergangenheit an Huma gewandt hatten. Aber Huma war lange tot. Und die Ritter konnten nur hilflos zusehen, wie der Schrecken vom Himmel herabregnete und Krynn in zwei Hälften spaltete. Die Menschen hatten um Hilfe geschrien, aber die Ritter konnten nichts tun, und die Menschen hatten ihnen das nie vergessen. Sturm hatte vor der zerstörten Burg seiner Familie gestanden und geschworen, die Ehre der Ritter von Solamnia wiederherzustellen - auch wenn es ihn sein Leben kosten würde.

Aber wie sollte er diesen Haufen von Kreaturen bekämpfen, fragte er sich verzweifelt. Der Weg verschwamm vor seinen Augen. Er stolperte, fing sich aber schnell wieder. Huma hatte Drachen bekämpft. Gebt mir Drachen, träumte Sturm. Er schaute auf. Die Blätter verschwammen zu einem goldenen Nebel, und er wußte, er würde gleich ohnmächtig werden. Dann blinzelte er. Plötzlich sah er alles scharf und überdeutlich.

Vor ihm erhob sich der Betende Gipfel. Sie hatten den Fuß des alten Gletschergebirges erreicht. Er konnte Pfade sehen, die sich an den bewaldeten Hängen hochschlängelten, von den Bewohnern Solace' benutzte Wege, um Ausflugsplätze an der Ostseite des Gebirges aufzusuchen. Neben einem der Pfade stand ein weißer Hirsch. Sturm erstarrte. Noch nie hatte der Ritter ein so wundervolles Tier gesehen. Stolz hielt es seinen Kopf hoch, sein prachtvolles Geweih glänzte wie eine Krone. Seine tiefbraunen Augen standen im Kontrast zum schneeweißen Fell des Hirsches, und er blickte aufmerksam zum Ritter herüber, als würde er ihn kennen. Dann machte er eine leichte Kopfbewegung und sprang in südwestlicher Richtung fort. »Halt!« rief der Ritter heiser.

Die anderen wirbelten beunruhigt herum und zogen ihre Waffen. Tanis kam auf ihn zugerahnt. »Was ist los, Sturm?« Der Ritter legte unwillkürlich eine Hand auf seinen schmerzenden Kopf. »Tut mir leid, Sturm«, sagte Tanis. »Mir war nicht klar, daß es dir so schlecht geht. Wir können uns ausruhen. Wir sind nun am Fuß des Betenden Gipfels. Ich werde hochsteigen und sehen ...« »Nein! Sieh doch!« Der Ritter faßte nach Tanis' Schulter, drehte ihn herum und zeigte nach oben. »Siehst du? Der weiße Hirsch!«

»Der weiße Hirsch?« Tanis starrte in die Richtung, in die der Ritter deutete. »Wo? Ich...«

»Dort«, sagte Sturm leise. Er ging ein paar Schritte weiter, auf das Tier zu, das angehalten hatte und auf ihn zu warten schien. Der Hirsch nickte mit seinem riesigen Kopf. Wieder sprang er fort, nur ein paar Schritte, dann wandte er sich wieder dem Ritter zu. »Er will, daß wir ihm folgen«, keuchte Sturm. »Wie einst Huma!«

Die anderen hatten sich inzwischen um den Ritter versammelt und bedachten ihn mit Blicken, die von tief besorgt bis zweifelnd reichten.

»Ich sehe keinen Hirsch«, sagte Flußwind, dessen dunkle Augen den Wald absuchten. »Kopfwunde.« Caramon nickte wie ein hinterlistiger Kleriker. »Sturm, leg dich hin und ruh dich aus...«

»Du großer verdammter Narr!« fauchte der Ritter Caramon an. »Mit deinem Gehirn im Bauch ist es klar, daß du den Hirsch nicht siehst. Und wenn, würdest du ihn wahrscheinlich töten und braten! Ich sage euch – wir müssen ihm folgen!«

»Der Irrsinn bei Kopfwunden«, flüsterte Flußwind Tanis zu. »Das habe ich schon oft erlebt.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Tanis. Er schwieg einige Augenblicke. Dann erklärte er, offensichtlich widerstrebend: »Obwohl ich den weißen Hirsch nicht gesehen habe, war ich mal mit jemandem zusammen, der ihn gesehen hatte, und wir sind ihm gefolgt wie in der Geschichte des alten Mannes.« Seine Hand streifte unwillkürlich den Ring an seiner linken Hand, seine Gedanken waren bei dem goldhaarigen Elfenmädchen, das geweint hatte, als er Qualinesti verlassen hatte.

»Du schlägst also vor, einem Tier zu folgen, das wir nicht einmal sehen können?« fragte Caramon mit offenem Mund. »Es wäre nicht unsere seltsamste Tat«, kommentierte Raist-lin sarkastisch mit flüsternder Stimme. »Obwohl wir nicht vergessen sollten, daß es der alte Mann war, der die Geschichte mit dem weißen Hirsch erzählt hat, und der alte Mann war es, der uns in diese...«

»Es war unsere eigene Entscheidung, die uns in diese Geschichte brachte«, sagte Tanis. »Wir hätten auch dem Obersten Theokraten den Stab überreichen und uns aus der mißlichen Lage reden können. Ich meine, wir sollten Sturm folgen. Offenbar wurde er auserwählt, so wie Flußwind auserwählt wurde, den Stab zu tragen...«

»Aber er führt uns nicht einmal in unsere Richtung!« argumentierte Caramon. »Du weißt genausogut wie ich, daß es durch den westlichen Teil des Waldes keinen Pfad gibt. Niemand ist dort je gewesen!« »Um so besser«, ließ sich plötzlich Goldmond vernehmen. »Tanis sagte, daß die Kreaturen vermutlich alle Wege blockiert haben. Vielleicht ist dies ein Ausweg. Ich denke auch, wir sollten dem Ritter folgen.« Sie wandte sich um und machte sich mit Sturm auf den Weg. Sie sah nicht einmal zu den anderen zurück - offenbar gewöhnt, daß man ihr gehorchte. Flußwind zuckte die Schultern und schüttelte finster den Kopf, aber ging Goldmond hinterher, und die anderen folgten.

Der Ritter ließ die Trampelpfade zum Betenden Gipfel links liegen und bewegte sich in südwestlicher Richtung den Abhang hoch. Zuerst schien es, als hätte Caramon recht gehabt – es gab dort keinen Pfad. Sturm kämpfte sich wie ein Wahnsinniger durch das Gebüsch. Dann plötzlich öffnete sich vor ihnen ein ebener, breiter Weg. Tanis starrte ihn erstaunt an. »Wer oder was könnte diesen Pfad angelegt haben?« fragte er Flußwind, der ebenfalls etwas verwirrt dreinschaute. »Ich weiß es nicht«, sagte der Barbar. »Er ist alt. Dieser umgestürzte Baum da liegt schon lange hier, denn er ist zur Hälfte im Sand versunken und mit Moos und Schlingpflanzen bewachsen. Aber es gibt keine Spuren - nur die von Sturm. Es gibt keinerlei Zeichen dafür, daß hier Menschen oder Tiere durchgegangen wären. Aber warum ist er dann nicht überwachsen?«