Zum ersten Mal wurden ihnen die Umhänge zu schwer, außer Raistlin, der seinen roten Kapuzenmantel anbehielt. Flint hatte den ganzen Morgen damit verbracht, sich über den Regen zu beklagen, und nun beschwerte er sich über die Sonne - sie war zu stark und blendete ihn, brannte auf seinen Helm.
»Ich schlage vor, wir werfen den Zwerg den Berg hinunter«, knurrte Caramon Tanis zu.
Tanis grinste. »Er würde den ganzen Weg hinunterklappern und unsere Position verraten.«
»Wer würde ihn hier schon hören?« fragte Caramon und zeigte auf das Tal. »Ich wette, wir sind die ersten Lebewesen, die dieses Tal erblicken.«
»Die ersten Lebewesen«, hauchte Raistlin. »In diesem Punkt hast du recht, mein Bruder. Denn du schaust auf den Düsterwald.« Niemand sprach. Flußwind bewegte sich unruhig, Goldmond ging zu ihm hinüber. Sie starrte mit aufgerissenen Augen auf die grünen Bäume. Flint räusperte sich, schwieg dann und strich über seinen langen Bart. Sturm betrachtete den Wald ruhig, ebenso Tolpan.
»Er sieht gar nicht so schlimm aus«, sagte der Kender fröhlich. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, ein Pergamentbogen war auf seinen Knien ausgebreitet, mit einem Stück Kohle zeichnete er eine Karte über ihren Weg zum Betenden Gipfel. »Anblicke sind genauso irreführend wie diebische Kender« wisperte Raistlin grob.
Tolpan runzelte die Stirn, wollte gerade eine scharfe Antwort zurückgeben, als er Tanis' Blick gewahrte und sich wieder seiner Zeichnung zuwandte. Tanis ging zu Sturm hinüber. Der Ritter stand an einem Felsvorsprung.
»Sturm, wo ist der Hirsch? Siehst du ihn?«
»Ja«, antwortete Sturm. Er zeigte nach unten. »Er läuft über die Wiesen; ich kann seine Spur im hohen Gras erkennen. Er ist dort in den Espenwald gelaufen.«
»In den Düsterwald«, murmelte Tanis.
»Wer sagt, daß es der Düsterwald ist?« Sturm wandte sein Gesicht zu Tanis.
»Raistlin.«
»Pah!«
»Er ist Magier«, sagte Tanis.
»Er ist verrückt«, erwiderte Sturm. Dann zuckte er die Schultern. »Aber schlag hier ruhig Wurzeln, wenn du willst, Tanis. Ich werde dem Hirsch folgen – wie Huma —, auch wenn er mich in den Düsterwald führt.« Er zog seinen Umhang fester um sich, kletterte den Fels hinunter und begann, dem Pfad, der sich am Berg hinunterschlängelte, zu folgen.
Tanis ging zu den anderen. »Der Hirsch führt ihn auf direktem Weg in den Wald«, sagte er. »Wie sicher bist du dir, daß dieser Wald der Düsterwald ist, Raistlin?«
»Wie sicher ist man sich der Dinge überhaupt, Halb-Elf?« entgegnete der Magier. »Ich bin mir nicht einmal meines nächsten Atemzugs sicher. Aber gehe nur. Geh in den Wald, aus dem kein Lebewesen je herausgekommen ist. Der Tod ist die einzige große Sicherheit im Leben, Tanis.«
Der Halb-Elf spürte einen plötzlichen Drang, Raistlin den Berg hinunterzustoßen. Er starrte Sturm nach, der schon fast die Hälfte des Weges zum Tal geschafft hatte.
»Ich gehe mit Sturm«, sagte er plötzlich. »Aber ich trage diese Entscheidung nur für mich. Ihr anderen könnt folgen, wenn ihr wollt.«
»Ich komme mit!« Tolpan rollte seine Karte zusammen und verstaute sie. Er rappelte sich auf und rutschte auf einem lockeren Stein aus. »Geister!« knurrte Flint Raistlin an, schnippte spöttisch mit den Fingern, dann stampfte er zum Halb-Elf. Goldmond folgte, ohne zu zögern, obwohl ihr Gesicht blaß war. Flußwind gesellte sich langsamer zu der Gruppe, sein Gesicht war nachdenklich. Tanis war erleichtert – er wußte, daß sich die Barbaren viele beängstigende Legenden über den Düsterwald erzählten. Und schließlich bewegte sich auch Raistlin so schnell vorwärts, daß sein Bruder völlig überrumpelt war. Tanis bedachte den Magier mit einem leichten Lächeln. »Warum kommst du mit?« entfuhr es ihm.
»Weil du mich brauchen wirst, Halb-Elf«, zischte der Magier. »Außerdem, wohin sollten wir gehen? Du hast es zugelassen, uns bis hierher zu führen - es gibt kein Zurück. Du bietest uns die Wahl der Oger an, Tanis. ›Stirb schnell oder stirb langsame « Er sah zu Caramon. »Kommst du, Bruder?«
Die anderen warfen Tanis unbehagliche Blicke zu, als die Brüder losgingen. Der Halb-Elf kam sich wie ein Narr vor. Raistlin hatte natürlich recht. Er hatte sie bis hierher geführt, dann ließ er es so aussehen, als ob alles weitere ihre eigene Entscheidung und nicht die seine wäre, damit er selbst mit ruhigem Gewissen weitergehen konnte. Wütend hob er einen Stein auf und warf ihn den Berg hinunter. Warum trug er überhaupt die Verantwortung? Warum war er überhaupt in diese Sache verstrickt, da er doch eigentlich nur Kitiara suchen wollte, um ihr seine Liebe zu gestehen. Er konnte jetzt ihre menschlichen Schwächen akzeptieren, so wie er gelernt hatte, seine eigenen zu akzeptieren.
Aber Kit war nicht zu ihm zurückgekehrt. Sie hatte einen »neuen Herrn«, vielleicht war das der Grund, warum er... »Ho, Tanis!« rief ihm der Kender zu.
»Ich komme«, murmelte er.
Die Sonne begann schon im Westen unterzugehen, als die Gefährten den Waldrand erreichten. Tanis rechnete sich aus, daß sie noch mindestens drei bis vier Stunden Tageslicht haben würden. Falls der Hirsch sie weiterhin auf gut angelegten Pfaden führen würde, könnten sie vor Einbruch der Dunkelheit den Wald durchquert haben.
Sturm wartete auf sie unter den Espen, behaglich im grünen Schatten ruhend. Die Gefährten verließen langsam die Wiese, keiner von ihnen hatte es eilig, den Wald zu getreten. »Der Hirsch ist hier durchgegangen«, sagte Sturm, erhob sich und zeigte ins hohe Gras.
Tanis sah keinerlei Spuren. Er nahm einen Schluck aus seinem fast leeren Wasserschlauch und starrte in den Wald. Wie schon Tolpan gesagt hatte, der Wald wirkte keineswegs bösartig. In der Tat sah er nach dem grellen Sonnenlicht kühl und einladend aus. »Vielleicht gibt es dort Wild«, sagte Caramon und schaukelte auf seinen Fersen. »Natürlich keine Hirsche«, fügte er hastig hinzu. »Hasen vielleicht.«
»Erlegt nichts. Eßt nichts. Trinkt nichts im Düsterwald«, flüsterte Raistlin. Tanis sah zu dem Magier, dessen Stundenglasaugen weit aufgerissen waren. Die metallische Haut leuchtete gespenstisch im grellen Sonnenlicht. Raistlin stand auf seinen Stab gelehnt und zitterte, als ob er frieren würde.
»Kindergeschichten«, murrte Flint, obwohl seine Stimme nicht gerade überzeugend klang. Obwohl Tanis Raistlins Vorliebe fürs Dramatische kannte, hatte er den Magier noch nie so beunruhigt gesehen.
»Was spürst du, Raistlin?« fragte er ruhig.
»Über diesem Wald liegt ein großer und mächtiger Zauber«, flüsterte Raistlin.
»Böse?« fragte Tanis.
»Nur für die, die das Böse in den Wald hineinbringen.« »Dann bist du der einzige, der diesen Wald fürchten muß«, schleuderte Sturm dem Magier kalt ins Gesicht.
Caramons Gesicht rötete sich, seine Hand tastete nach seinem Schwert. Sturms Hand fuhr zu seiner Klinge. Tanis griff Sturms Arm, während Raistlin seinen Bruder zurückhielt. Der Magier starrte den Ritter an, seine goldenen Augen leuchteten. »Wir werden sehen«, sagte Raistlin, seine Worte waren nicht mehr als zischende Geräusche zwischen seinen Zähnen. »Wir werden sehen.« Dann stützte er sich schwer auf seinen Stab und wandte sich seinem Bruder zu. »Kommst du?«
Caramon blickte wütend zu Sturm und betrat dann an der Seite seines Bruders den Wald. Die anderen folgten ihnen und ließen Tanis und Flint im hohen Gras zurück.
»Ich werde für solche Sachen zu alt, Tanis«, sagte der Zwerg unvermittelt.
»Unsinn«, erwiderte der Halb-Elf lächelnd. »Du hast gekämpft wie ein...«
»Nein, ich meine nicht die Knochen und die Muskeln« - der Zwerg sah auf seine schwieligen Hände -, »obwohl die natürlich alt sind. Ich meine den Geist. Vor Jahren, als die anderen noch gar nicht auf der Welt waren, wären wir beide durch einen verzauberten Wald gelaufen, ohne daran irgendeinen Gedanken zu verschwenden. Jetzt...«
»Laß den Kopf nicht hängen«, sagte Tanis. Er versuchte, fröhlich zu klingen, obwohl er über die ungewöhnliche Düsterheit des Zwerges tief beunruhigt war. Er musterte Flint zum ersten Mal seit ihrem Treffen in Solace eingehend. Der Zwerg sah alt aus, aber Flint hatte immer alt ausgesehen. Sein Gesicht, zumindest was man durch den dichten grauen Bart und die überhängenden weißen Augenbrauen erkennen konnte, war braun und runzelig und rissig wie altes Leder. Der Zwerg murrte und beschwerte sich, aber Flint hatte immer gemurrt und sich beschwert. Die Veränderung lag in seinen Augen. Der feurige Glanz war verschwunden.