»Nein, nichts Böses. Bestimmt nicht«, sagte Tolpan hastig. »Es ist eine lange Geschichte. Aber da wir es nicht eilig haben und du offenbar auch nicht, werde ich sie dir erzählen.
Es fing alles im Wirtshaus Zur letzten Bleibe in Solace an. Du kennst es wahrscheinlich nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie lange es schon besteht, aber bestimmt noch nicht während der Umwälzung, und es hört sich an, als ob du in jener Zeit gelebt hast. Nun, da waren wir also und hörten dem alten Mann zu, der Geschichten von Huma erzählte, und er - der alte Mann, nicht Huma – bat Goldmond, ein Lied zu singen. Sie sang also, und ein Sucher entschloß sich, als Musikkritiker aufzutreten, und Flußwind - das ist der große Mann da drüben schubste den Sucher ins Feuer. Es war ein Unfall - er wollte es nicht. Aber der Sucher lief wie eine Fackel umher! Das hättest du sehen sollen! Egal, der alte Mann gab mir den Stab und sagte, ich solle ihn damit schlagen. Das tat ich, und am Stab leuchtete auf einmal ein blauer Kristall, und die Flammen erloschen und...«
»Blauer Kristall!« Die Geisterstimme echote hohl aus Raistlins Kehle, als er auf Tolpan zuging. Tanis und Sturm sprangen vor, ergriffen Tolpan und zogen ihn aus dem Weg. Aber der Geist schien nur die Gruppe aufmerksam prüfen zu wollen. Seine flackernden Augen blieben an Goldmond hängen. Er hob eine blasse Hand und winkte sie zu sich.
»Nein!« Fluß wind versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie schob ihn sanft weg und ging zu dem Geist mit dem Stab in ihrer Hand. Die Geisterarmee umzingelte sie.
Plötzlich zog der Geist sein Schwert aus der glänzenden Scheide. Er hielt es hoch über seinen Kopf, und weißes Licht vermischte sich mit der blauen Flamme, die von der Klinge aufflackerte.
»Sieh auf den Stab!« keuchte Goldmond.
Der Stab glühte blaßblau, als würde er dem Schwert antworten. Der Geisterkönig wandte sich an Raistlin und streckte seine blasse Hand nach dem entrückten Magier aus. Caramon bellte heiser auf und befreite sich aus Tanis' Griff. Er zog sein Schwert und machte einen Satz auf den untoten Kämpfer. Die Klinge durchbohrte den schimmernden Körper, aber es war Caramon, der vor Schmerzen schrie und sich krümmend zu Boden stürzte. Tanis und Sturm knieten neben ihm. Raistlin starrte vor sich hin, sein Gesichtsausdruck war unverändert, bewegungslos.
»Caramon, wo...«, Tanis versuchte hektisch, die Verletzung des Mannes zu finden.
»Meine Hand!« Caramon wand sich schluchzend hin und her, seine linke Hand - seine Schwerthand - steckte fest unter seinem rechten Arm.
»Was ist los?« fragte Tanis. Dann sah er das Schwert des Kämpfers und wußte: Caramons Schwert war mit Eis bedeckt. Tanis sah entsetzt auf: Die Geisterhand hatte sich um Raistlins Handgelenk geklammert. Ein Schaudern peinigte den zerbrechlichen Körper des Magiers; sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, aber er fiel nicht. Er hielt die Augen geschlossen, die zynischen und bitteren Züge waren geglättet, und der Frieden des Todes überfiel ihn. Tanis sah in Ehrfurcht zu, nahm nur wie von fern Caramons heisere Schreie wahr. Wieder verwandelte sich Raistlins Gesicht, dieses Mal von Ekstase durchdrungen. Die mächtige Ausstrahlung des Magiers verstärkte sich, bis sie mit einer aurahaften Helligkeit um ihn glühte.
»Wir sind vorgeladen«, sagte Raistlin. Er sprach nun mit seiner eigenen Stimme, und dennoch kam sie Tanis sehr fremd vor. »Wir müssen gehen.«
Der Magier wandte ihnen den Rücken zu und ging in den Wald, die fleischlose Hand des Geisterkönigs hielt ihn immer noch am Handgelenk. Der Kreis der Untoten teilte sich, um ihn durchzulassen.
»Haltet sie auf«, stöhnte Caramon. Schwankend erhob er sich. »Das können wir nicht!« Tanis schlug auf ihn ein, um ihn zurückzuhalten, und schließlich brach der Kämpfer in den Armen des Halb-Elfs zusammen und weinte wie ein Kind. »Wir werden ihm folgen. Mit ihm ist alles in Ordnung. Er ist Magier, Caramon – wir können es nicht verstehen. Wir folgen nur...«
Die Augenhöhlen der Untoten schimmerten in einem scheußlichen Licht, als sie die Kameraden beobachteten, die an ihnen vorüberschritten. Hinter ihnen schlössen sich die Reihen der Geisterarmee.
Die Gefährten betraten ein Schlachtfeld. Stahl klirrte; verwundete Männer schrien um Hilfe. Der Kampf der Soldaten in der Dunkelheit war so real, daß Sturm instinktiv sein Schwert zog. Der Tumult betäubte ihn; er duckte sich und wich Schlägen aus, von denen er meinte, daß sie auf ihn gerichtet waren. Er schwang verzweifelt sein Schwert im Dunkel, er wußte, daß das sein Ende war und es keinen Ausweg gab. Er begann zu rennen und stolperte plötzlich aus dem Wald auf eine unfruchtbare, verödete Lichtung. Raistlin stand vor ihm, allein.
Die Augen des Magiers waren geschlossen. Er seufzte leise, dann brach er zusammen. Sturm rannte zu ihm, dann tauchte Caramon auf, der Sturm fast überrannte, um seinen Bruder zu erreichen, und hob Raistlin sanft auf. Einer nach dem anderen rannte wie angetrieben auf die Lichtung. Raistlin murmelte immer noch seltsame fremde Worte. Die Geister waren verschwunden. »Raist!« Caramon schluchzte gebrochen.
Die Lider des Magiers flackerten und öffneten sich. »Der Zauber... hat mich erschöpft...«, flüsterte er. »Ich muß mich ausruhen...«
»Und ausruhen sollst du dich!« dröhnte eine Stimme - eine lebende Stimme!
Tanis atmete erleichtert auf, obwohl seine Hand ans Schwert fuhr. Schnell sprangen er und die anderen beschützend vor Raistlin, die Gesichter der Dunkelheit zugewandt. Dann erschien plötzlich der silberne Mond, als ob eine Hand ihn aus einem schwarzen Seidenschal gewickelt hätte. Jetzt konnten sie den Kopf und die Schultern eines Mannes erkennen, der unter den Bäumen stand. Seine bloßen Schultern waren genauso breit und schwer wie die von Caramon. Langes Haar kräuselte sich um seinen Hals, seine Augen waren hell und glänzten kalt. Die Gefährten hörten ein Rascheln im Gebüsch und sahen einen Speer aufleuchten, der auf Tanis gerichtet war.
»Legt eure kümmerlichen Waffen weg«, höhnte der Mann. »Ihr seid umzingelt und habt keine Chance.«
»Ein Trick«, knurrte Sturm, aber noch während er sprach, hörte man ein gewaltiges Rascheln und Knacken von Baumästen. Mehr Männer erschienen, umringten sie, alle mit Speeren bewaffnet, die im Mondlicht glänzten.
Der Mann schritt auf sie zu, und die Gefährten erstarrten vor Erstaunen, ihre Hände an den Waffen wurden schlaff.
Der Mann war kein Mensch, sondern ein Zentaur! Bis zur Hüfte war er menschlich, aber der untere Teil war der Körper eines Pferdes. Mit müheloser Anmut bewegte er sich vorwärts, mächtige Muskeln spannten sich um seine gewölbte Brust. Andere Zentauren erschienen aus den Baumschatten. Tanis steckte sein Schwert in die Scheide. Flint nieste.
»Ihr kommt mit uns«, befahl der Zentaur.
»Mein Bruder ist krank«, knurrte Caramon. »Er kann nirgendwo hingehen.« »Lege ihn auf meinen Rücken«, sagte der Zentaur kühl. »Überhaupt könnt ihr alle auf uns reiten.«
»Wohin bringt ihr uns?« fragte Tanis.
»Ihr habt nicht das Recht, Fragen zu stellen.« Der Zentaur holte aus und berührte mit seinem Speer Caramons Rücken. »Wir werden weit und schnell reisen. Aber fürchtet euch nicht.« Er verbeugte sich vor Goldmond, indem er ein Vorderbein vorstreckte. »In dieser Nacht wird euch kein Schaden zugefügt werden.«
»Darf ich reiten, Tanis, bitte?« bettelte Tolpan.
»Trau ihnen nicht!« schnaufte Flint heftig.
»Ich traue ihnen nicht«, murmelte Tanis. »Aber wir scheinen nicht viele Möglichkeiten zu haben - Raistlin kann nicht laufen. Reite nur, Tolpan. Ihr anderen auch.«
Caramon, der die Zentauren argwöhnisch beäugte, hob seinen Bruder und setzte ihn auf den Rücken. Raistlin sackte geschwächt in sich zusammen. »Steig auf«, sagte der Zentaur zu Caramon. »Ich kann euch beide tragen. Dein Bruder wird deine Hilfe brauchen, denn wir reiten heute nacht sehr schnell.«
Der Krieger errötete verlegen, dann kletterte er auf den breiten Rücken des Zentaurs. Er legte einen Arm um Raistlin, als der Zentaur den Pfad hinuntergaloppierte. Tolpan, der vor Aufregung kicherte, sprang auf einen anderen Zentaur und fiel prompt auf der anderen Seite hinunter in den Schlamm. Sturm hob den Kender seufzend auf und setzte ihn auf den Rücken des Zentaurs. Dann hob der Ritter den Zwerg hoch, bevor dieser protestieren konnte, und setzte ihn hinter Tolpan. Flint versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur niesen, als der Zentaur antrabte. Tanis ritt mit dem ersten Zentaur, der der Anführer zu sein schien.