»Ich kenne diese Kreaturen«, antwortete er. »Vor einer Woche haben einige von ihnen den Düsterwald zusammen mit Goblins aus Haven betreten. Sie trugen Kapuzen und Umhänge, zweifellos um ihr entsetzliches Aussehen zu verbergen. Die Zentauren folgten ihnen heimlich, um sicherzugehen, daß sie keinen Schaden anrichteten, bevor die Geisterhäscher sich mit ihnen beschäftigten. Sie berichteten mir, daß sich diese Kreaturen als Drakonier bezeichnen und zum Orden von Drako gehören.«
Raistlin runzelte die Stirn. »Drako«, flüsterte er verwirrt. »Aber wer sind sie? Welcher Rasse gehören sie an?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann euch nur sagen: Sie gehören nicht zur Tierwelt und auch zu keiner Rasse auf Krynn.«
Es dauerte einen Moment, bis alle diese Mitteilung verdaut hatten. Caramon blinzelte. »Ich ver...«, begann er.
»Mein Bruder, er meint, daß sie nicht von dieser Welt sind«, erklärte Raistlin ungeduldig.
»Aber woher kommen sie dann?« fragte Caramon verwirrt. »Das ist die Frage, nicht wahr?« sagte Raistlin kalt. »Woher kommen sie – und warum?«
»Das kann ich nicht beantworten.« Der Herr der Wälder schüttelte den Kopf. »Aber bevor meine Geisterarmee diesen Drakoniern ein Ende bereitete, sprachen sie von ›Armeen im Norden‹.«
»Ich habe sie gesehen.« Tanis erhob sich. »Lagerfeuer...« Seine Stimme erstarb, als ihm klar wurde, was der Herr der Wälder gerade gesagt hatte. »Armeen! Von diesen Drakoniern? Es müssen Tausende sein!«
Jetzt standen alle auf und redeten gleichzeitig.
»Unmöglich!« sagte der Ritter finster blickend.
»Wer steht hinter ihnen? Die Sucher? Bei den Göttern«, bellte Caramon. »Ich habe Lust, nach Haven zu gehen und...« »Nicht nach Haven, nach Solamnia«, riet Sturm laut. »Wir sollten nach Qualinost«, argumentierte Tanis. »Die Elfen...« »Die Elfen haben ihre eigenen Probleme«, unterbrach sie der Herr der Wälder, seine kühle Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. »So wie die Sucherfürsten in Haven. Kein Ort ist sicher. Aber ich werde euch sagen, wohin ihr gehen müßt, um Antworten auf eure Fragen zu erhalten.«
»Was meinst du damit, du wirst uns sagen, wohin wir gehen müssen?« Raistlin trat langsam nach vorn. »Was weißt du über uns?« Der Magier hielt inne, seine Augen verengten sich bei einem plötzlichen Gedanken.
»Ja, ich habe euch erwartet«, erwiderte der Herr der Wälder als Antwort auf Raistlins Gedanken. »Ein großes strahlendes Wesen erschien mir heute in der Wildnis. Es sagte mir, daß der Träger des blauen Kristallstabs heute abend den Düsterwald betreten würde. Die Geisterhäscher würden den Träger des Stabes und seine Begleiter passieren lassen - obwohl es seit der Umwälzung Menschen, Elfen, Zwergen und Kendern nicht erlaubt ist, den Düsterwald zu betreten. Diese Botschaft soll ich dem Träger des Stabes übergeben: Er muß direkt über das Ostwall-Gebirge fliegen. In zwei Tagen muß der Stabträger Xak Tsaroth erreicht haben. Dort wird er, falls er sich als würdig erweist, das großartigste Geschenk erhalten, das man der Welt geben kann.«
»Ostwall-Gebirge! Wir müßten fliegen, um Xak Tsaroth in zwei Tagen zu erreichen. Strahlendes Wesen! Hah!« Der Zwerg schnippte verächtlich mit den Fingern.
Die anderen sahen sich unbehaglich an. Schließlich sagte Tanis zögernd: »Ich fürchte, der Zwerg hat recht, Herr der Wälder. Die Reise nach Xak Tsaroth ist lang und gefährlich. Wir müssen durch Länder, von denen wir wissen, daß sich dort Goblins und diese Drakonier aufhalten.«
»Und dann müssen wir die Ebenen passieren.« Flußwind sprach zum ersten Mal seit dem Treffen mit dem Herrn der Wälder. »Wir werden unser Leben verlieren.« Er zeigte auf Goldmond. »Die Que-Shu sind wilde Kämpfer, und sie kennen das Land. Sie sind wachsam. Wir würden niemals sicher durchkommen.« Er sah zu Tanis. »Und mein Volk liebt keine Elfen.«
»Warum überhaupt nach Xak Tsaroth gehen?« polterte Caramon. »Das großartigste Geschenk - was könnte das sein? Ein mächtiges Schwert? Eine Lade mit Kupfermünzen? Das käme zwar recht, aber anscheinend braut sich im Norden eine Schlacht zusammen. Und ich würde sie ungern verpassen.« Der Herr der Wälder nickte ernst. »Ich verstehe eure Sorgen«, sagte er. »Ich biete euch jede Hilfe an, die in meiner Macht steht. Ich werde dafür sorgen, daß ihr Xak Tsaroth in zwei Tagen erreicht. Die Frage ist, wollt ihr überhaupt?« Tanis wandte sich den anderen zu. Sturms Gesicht drückte Unentschiedenheit aus. Er sah Tanis an und seufzte. »Der Hirsch führte uns hierher«, sagte er langsam, »vielleicht damit wir diesen Rat erhalten. Aber mein Herz ist im Norden, in meiner Heimat. Falls Armeen dieser Drakonier einen Angriff vorbereiten, ist mein Platz bei den Rittern, die sich sicherlich verbünden, um dieses Böse zu bekämpfen. Dennoch will ich dich nicht verlassen, Tanis, oder dich, meine Dame.« Er nickte Goldmond zu, dann sackte er zusammen, seine Hände an seinen schmerzenden Kopf pressend.
Caramon zuckte die Achseln. »Ich gehe überallhin und kämpfe gegen alles, Tanis. Das weißt du. Was meinst du, Bruder?« Aber Raistlin starrte in die Dunkelheit und antwortete nicht. Goldmond und Flußwind unterhielten sich leise. Sie nickten sich zu, dann sagte Goldmond zu Tanis: »Wir gehen nach Xak Tsaroth. Wir danken euch für alles, was ihr für uns getan habt...«
»Aber wir wollen nicht länger um die Hilfe anderer bitten«, erklärte Flußwind stolz. »Und so wie wir unsere Suche allein begonnen haben, so werden wir sie auch allein beenden.« »Und ihr werdet allein sterben!« sagte Raistlin leise. Tanis schauderte. »Raistlin«, sagte er, »ich will mit dir allein reden.«
Der Magier verneigte sich gehorsam und ging mit dem HalbElf in ein kleines Dickicht. Dunkelheit umfing sie. »Wie in alten Tagen«, sagte Caramon, dessen Augen seinem Bruder unsicher folgten.
»Und sieh dir diesen ganzen Ärger an, in den wir geraten sind«, erinnerte Flint ihn und ließ sich aufs Gras fallen. »Ich frage mich, worüber sie wohl reden«, sagte Tolpan. Vor langer Zeit hatte der Kender versucht, diese privaten Unterredungen zwischen Magier und Halb-Elf zu belauschen, aber jedesmal hatte Tanis ihn erwischt und verscheucht. »Und warum können sie es nicht mit uns besprechen?«
»Weil wir vermutlich Raistlins Herz herausreißen würden«, antwortete Sturm mit leiser, schmerzerfüllter Stimme. »Es ist mir egal, was du sagst, Caramon, aber in deinem Bruder steckt eine dunkle Seite, und Tanis hat sie gesehen. Dafür bin ich sehr dankbar. Er kann damit umgehen, ich nicht.«
Merkwürdigerweise sagte Caramon nichts. Sturm starrte den Kämpfer verwirrt an. In alten Tagen wäre dieser aufgesprungen, um seinen Bruder zu verteidigen. Jetzt saß er stumm da, mit besorgtem und bestürztem Gesicht. Es gibt also eine dunkle Seite in Raistlin, und Caramon weiß darüber Bescheid. Sturm fragte sich schaudernd, was in den vergangenen fünf Jahren wohl passiert war, daß über den fröhlichen Kämpfer solch ein dunkler Schatten gefallen war.
Raistlin ging dicht neben Tanis. Wie immer fühlte sich Tanis in der Anwesenheit des jungen Magiers unbehaglich. Jedoch gerade jetzt wußte er nicht, wen er sonst hätte um Rat fragen sollen. »Was weißt du über Xak Tsaroth?« fragte Tanis. »Dort stand ein Tempel - ein Tempel zu Ehren der alten Götter«, hauchte Raistlin. Seine Augen glitzerten im unheimlichen Licht des roten Mondes. »Er wurde während der Umwälzung zerstört, und seine Bewohner flohen, sie waren überzeugt, daß die Götter sie verlassen hatten. Der Ort geriet in Vergessenheit. Ich wußte nicht, daß er noch existiert.«
»Was hast du gesehen, Raistlin?« fragte Tanis leise nach einer langen Pause. »Du hast weit weg gesehen - was hast du gesehen?« »Ich bin Magier, Tanis, und kein Seher.«
»Speis mich nicht so ab. Ich weiß, daß du nicht über die Gabe der Voraussicht verfügst. Du hast nachgedacht und nicht mit Hilfe einer Glaskugel gewahrsagt. Und du bist auf Antworten gestoßen. Ich will diese Antworten wissen. Du hast mehr Verstand als wir anderen zusammen, selbst wenn...« Er stockte. »Selbst wenn ich verkrüppelt und verschroben bin.« Raistlins Stimme erhob sich mit barscher Arroganz. »Ja, ich bin klüger als du - als ihr alle. Und eines Tages werde ich euch das beweisen! Eines Tages wirst du – mit all deiner Stärke und deinem Charme und guten Aussehen - du - ihr alle - werdet mich Meister nennen!« Tanis, an diesen Wortschwall gewöhnt, wartete geduldig ab. Der Magier entspannte sich. »Aber jetzt gebe ich dir meinen Rat. Was habe ich gesehen? Diese Armeen, Tanis, Armeen der Drakonier werden Solace und Haven und alle Länder eurer Väter überrennen. Das ist der Grund, warum wir Xak Tsaroth erreichen müssen. Was wir dort finden werden, wird die Untaten dieser Armee beweisen.« »Aber warum diese Armeen?« fragte Tanis. »Was könnte jemand mit der Macht über Solace und Haven und den Ebenen bis zum Osten im Sinn haben? Sind es die Sucher?«