Tanis hatte keine Vorstellung davon, was sie sangen, aber es hörte sich wie ein Lied über Sieg und Triumph an. Es brachte sein Blut in Wallung, und am liebsten hätte er mitgesungen. Ein Pegasus kam auf ihn zu. Er zog sich hoch und machte es sich auf seinem breiten Rücken bequem. Er saß direkt vor den mächtigen Flügeln.
Nun bestiegen alle Gefährten, gefesselt von der Hochstimmung des Moments, die Pegasi. Goldmonds Lied verlieh ihren Seelen Flügel, und die Pegasi breiteten ihrerseits ihre riesigen Flügel aus. Sie stiegen immer höher und kreisten über dem Wald. Der silberne und der rote Mond badeten das Tal unter ihnen und die Wolken über ihnen in einem unheimlichen, wunderschönen purpurnen Glanz, der in tiefviolette Nacht überging. Das letzte, was die Gefährten vom Wald sahen, war der Herr der Wälder, der wie ein vom Himmel gefallener Stern glänzte, allein und verloren auf einem sich verdunkelnden Land.
Die Gefährten fühlten sich nacheinander von einer Schläfrigkeit überwältigt. Tolpan widerstand diesem magischen Schlaf am längsten. Verzaubert durch den Wind, der sein Gesicht umfächelte, und durch die Sicht auf die hohen Bäume, die ihn normalerweise weit überragten und nun auf Kindergröße geschrumpft waren, kämpfte Tolpan lange darum, wach zu bleiben. Flints Kopf ruhte an seiner Schulter. Der Zwerg schnarchte laut. Goldmond lag in Flußwinds Arme geschmiegt. Sein Kopf war über ihre Schulter gesunken. Selbst im Schlaf hielt er sie beschützend fest. Caramon war über dem Hals des Pferdes zusammengesackt und atmete laut. Sein Bruder hatte sich an den breiten Rücken seines Bruders gelehnt. Sturm schlief friedlich, sein Gesicht hatte sich entspannt. Sogar Tanis' bärtiges Gesicht wat frei von Sorgen und Kummer und der Last der Verantwortung. Tolpan gähnte. »Nein«, murmelte er, blinzelte schnell und kniff sich.
»Ruh dich jetzt aus, kleiner Kender«, sagte sein Pegasus amüsiert. »Sterblichen ist es nicht bestimmt zu fliegen. Dieser Schlaf ist zu deinem Schutz. Wir wollen nicht, daß du dich ängstigst und herunterfällst.«
»Werde ich nicht«, protestierte Tolpan und gähnte wieder. Sein Kopf sank nach vorn. Der Hals des Pegasus fühlte sich warm und gemütlich an, das Fell duftete gut und war weich. »Ich werde mich nicht ängstigen«, flüsterte Tolpan schläfrig. »Ich habe nie Angst...« Er schlief ein.
Der Halb-Elf erwachte und erschrak, denn er fand sich auf einer Wiese liegend wieder. Der Führer der Pegasi stand vor ihm und starrte in den Osten. Tanis setzte sich auf. »Wo sind wir?« fragte er. »Hier ist keine Stadt.« Er sah sich um. »Warum - wir haben noch nicht einmal das Gebirge überquert!« »Es tut mir leid.« Der Pegasus drehte sich zu ihm um. »Wir konnten euch nur bis zum Ostwall-Gebirge bringen. Dort im Osten braut sich Böses zusammen. Eine Finsternis erfüllt die Luft, solch eine Dunkelheit habe ich noch nie auf Krynn erlebt seit unzähligen...« Er stockte, beugte seinen Kopf und scharrte unruhig auf dem Boden. »Ich wage nicht weiterzufliegen.« »Wo sind wir?« wiederholte der verwirrte Halb-Elf. »Und wo sind die anderen Pegasi?«
»Ich habe sie nach Hause geschickt. Ich blieb hier, um euren Schlaf zu bewachen. Da du jetzt wach geworden bist, muß auch ich umkehren.« Der Pegasus blickte Tanis ernst an. »Ich weiß nicht, wie dieses große Böse auf Krynn zum Leben erwacht ist. Ich hoffe, du und deine Gefährten habt damit nichts zu tun.«
Er breitete seine riesigen Flügel aus.
»Warte!« Tanis erhob sich. »Was...«
Der Pegasus erhob sich in die Lüfte, kreiste zweimal über ihnen und war verschwunden. »Welches Böse?« fragte Tanis dumpf. Er seufzte und sah sich wieder um. Seine Gefährten schliefen noch friedlich. Er betrachtete den Horizont und versuchte, sich zu orientieren. Es war kurz vor der Morgendämmerung. Das Sonnenlicht schickte sich an, den Osten zu erhellen. Er stand auf einer flachen Ebene. Kein Baum wuchs in Sichtweite, nichts als weite Steppe.
Tanis setzte sich wieder, um den Sonnenaufgang zu beobachten und auf das Erwachen seiner Freunde zu warten. Er war nicht besonders besorgt, denn er vermutete, daß Flußwind das Land kennen würde. Er streckte sich aus, das Gesicht nach Osten gewandt. Nach diesem seltsamen Schlaf fühlte er sich erfrischter als manche Nacht vorher. Plötzlich setzte er sich aufrecht, sein entspanntes Gefühl war verschwunden, eine unsichtbare Hand schien ihm plötzlich die Kehle zuzudrücken. Denn dort, wo die Sonne aufging, schlängelten sich drei dichte, schmierige schwarze Rauchwolken empor. Tanis stolperte auf die Füße. Er lief zu Flußwind und schüttelte ihn sanft, um Goldmond nicht zu stören.
»Psst«, flüsterte Tanis, legte einen Finger warnend auf die Lippen und nickte zu der schlafenden Frau hin, als Flußwind ihn anblinzelte. Als er Tanis' besorgte Miene sah, war der Barbar sofort wach. Er erhob sich leise, ging mit Tanis weg und sah ihn an.
»Was ist los?« wisperte er. »Wir sind in den Ebenen von Abanasinia. Fast eine halbe Tagesreise vom Ostwall-Gebirge entfernt. Mein Dorf liegt im Osten...«
Er verstummte, als Tanis schweigend nach Osten zeigte. Dann stieß er einen flachen rauhen Schrei aus, als er den sich im Himmel windenden Rauch erblickte. Goldmond erwachte von einem Moment auf den anderen. Sie saß auf und sah Fluß wind verschlafen, dann mit wachsender Besorgnis an. Sie folgte seinem entsetzten Blick. »Nein«, stammelte sie. »Nein!« schrie sie. Sie erhob sich schnell und sammelte ihr Gepäck zusammen. Die anderen waren durch ihren Schrei wach geworden. »Was ist los?« Caramon sprang auf.
»Ihr Dorf«, sagte Tanis leise und zeigte mit seiner Hand. »Es brennt. Anscheinend sind die Soldaten schneller, als wir angenommen haben.« »Nein«, sagte Raistlin. »Erinnere dich - diese Drakonier haben erwähnt, daß sie den Stab bis zu einem Dorf in den Ebenen verfolgt haben.«
»Mein Volk«, murmelte Goldmond. Sie sackte in Flußwinds Armen zusammen und starrte auf den Rauch. »Mein Vater...« »Wir sollten hier lieber verschwinden.« Caramon sah sich beunruhigt um. »Wir heben uns hier ab wie ein Juwel am Nabel einer Zigeunerin.«
»Ja«, sagte Tanis. »Wir müssen hier unbedingt weg. Aber wohin sollen wir gehen?« fragte er Flußwind.
»Que-Shu«, Goldmonds Stimme erlaubte keinen Einspruch. »Es liegt auf unserem Weg. Das Ostwall-Gebirge liegt direkt hinter meinem Dorf.« Sie begann durch das hohe Gras zu stapfen. Tanis blickte zu Flußwind.
»Marulina!« rief der Barbar ihr nach. Er folgte ihr und griff nach ihrem Arm. »Nikh pat-takh merilar!« sagte er streng. Sie starrte zu ihm hoch, ihre Augen waren so blau und so kalt wie der Morgenhimmel. »Nein«, sagte sie resolut, »ich gehe zu unserem Dorf. Es ist unsere Schuld, wenn dort etwas passiert. Es ist mir egal, ob da Tausende von diesen Ungeheuern warten. Ich will mit unserem Volk sterben, so wie es meine Pflicht ist.« Ihre Stimme erstarb. Tanis' Herz schmerzte vor Mitgefühl. Flußwind legte seinen Arm um sie, und zusammen gingen sie der aufsteigenden Sonne entgegen.
Caramon räusperte sich. »Ich hoffe, daß ich Tausende von diesen Dingern treffe«, brummte er und hob sein Gepäck und das seines Bruders hoch. »He«, sagte er erstaunt. »Sie sind schwer.« Er blickte in seinen Rucksack. »Proviant. Für mehrere Tage. Und mein Schwert ist wieder da!«
»Zumindest brauchen wir uns über eine Sache keine Sorgen zu machen«, sagte Tanis düster. »Wie geht es dir, Sturm?« »Gut«, antwortete der Ritter. »Nach diesem Schlaf geht es mir sehr viel besser.«
»Dann laßt uns aufbrechen. Flint, wo ist Tolpan?« Als Tanis sich umdrehte, wäre er fast über den Kender gestolpert, der direkt hinter ihm stand. »Arme Goldmond«, sagte Tolpan leise. Tanis klopfte ihm auf die Schulter. »Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie wir befürchten«, sagte der Halb-Elf und folgte den Barbaren durch das hohe Gras. »Vielleicht haben die Barbaren sie besiegt, und es sind Siegesfeuer.«
Tolpan seufzte und sah zu Tanis hoch. »Du bist ein verdammter Lügner, Tanis«, sagte der Kender. Er hatte das Gefühl, daß der Tag sehr lang werden würde.
Dämmerung. Ein fahler Sonnenuntergang. Gelbe und braune Strahlen überzogen den Himmel und versanken dann in einer trüben Nacht. Die Gefährten saßen um ein Feuer gekauert, das keine Wärme bot, denn auf Krynn gab es keine Flamme, die die Kälte aus ihren Seelen hätte nehmen können. Sie sprachen nicht miteinander, sondern starrten nur ins Feuer und versuchten sich einen Reim auf das zu machen, was sie gesehen hatten, versuchten, im Sinnlosen einen Sinn zu finden.