Tanis hatte in seinem Leben schon viel Schreckliches erlebt. Aber das verwüstete Dorf Que-Shu würde in seinen Erinnerungen immer das Symbol des Kriegsgrauens bleiben. Aber wenn er versuchte, die Bilder von Que-Shu heraufzubeschwören, so waren es immer nur flüchtige Bilderfetzen – sein Geist weigerte sich, das schreckliche Erlebnis von neuem vor seinen Augen erstehen zu lassen. Seltsam genug, daß er sich an die geschmolzenen Steine in Que-Shu erinnerte, und merkwürdigerweise sogar sehr lebhaft. Nur in seinen Träumen sah er die verkrümmten und geschwärzten Körper, die neben den rauchenden Steinen lagen.
Die riesigen Steinmauern, die Steintempel und Steingebäude, die geräumigen Steinhäuser mit ihren Felshöfen und ihren Skulpturen, die große Steinarena – alles war geschmolzen wie Butter an einem heißen Sommertag. Die Steine glühten noch, obwohl das Dorf offensichtlich schon einige Tage zuvor angegriffen worden war. Aber welches Feuer auf Krynn konnte Stein zum Schmelzen bringen?
Er erinnerte sich an ein knarrendes Geräusch, das er gehört und das ihn verwirrt hatte. Er hatte sich gefragt, was es sein konnte. Bis er dann die Ursache dieses einzigen Geräusches in dem totenstillen Dorf ausmachen konnte. Er rannte durch das zerstörte Dorf, bis er es sah. Er erinnerte sich, die anderen gerufen zu haben, bis sie schließlich gekommen waren. Sie starrten auf die geschmolzene Arena.
Riesige Steinblöcke hatten sich aus den Seiten der schüsselförmigen Vertiefung gelöst und bildeten geschmolzene Felswellen auf dem Boden der Arena. In der Mitte - auf dem schwarzverkohlten Gras - stand ein einfacher Galgen. Zwei stabile Pfosten mußten mit unvorstellbarer Kraft in den verbrannten Boden gerammt worden sein. Fünfzehn Meter über dem Gras war ein Querbalken durch die beiden Pfosten gezogen. Das Holz war verkohlt und blasig. Obenauf hockten Aasgeier. Drei Ketten schwangen hin und her. Das war der Grund des knarrenden Geräusches. An jeder Kette schaukelte, an den Füßen aufgehängt, ein Leichnam. Die Körper waren nicht menschlich, es waren Hobgoblin. Über den Querbalken war jeweils ein Brustpanzer mit einer zerbrochenen Schwertklinge befestigt. Auf diesen zerdellten Panzern waren in der Umgangssprache ungeschickt Worte gemeißelt. »Das geschieht mit denen, die gegen meinen Befehl Gefangene nehmen. Töten oder getötet werden.« Das Ganze war mit Verminaard unterzeichnet.
Verminaard. Der Name sagte Tanis nichts.
Andere Bilder. Er erinnerte sich an Goldmond, die mitten im zerstörten Haus ihres Vaters stand und versuchte, Scherben einer zerbrochenen Vase wieder zusammenzusetzen. Er erinnerte sich an einen Hund – das einzige lebendige Wesen, das sie im ganzen Dorf fanden -, an den Körper eines toten Kindes geschmiegt. Caramon hielt an, um den kleinen Hund zu streicheln. Das Tier schreckte zurück und leckte dann die Hand des Mannes. Dann leckte es über das kalte Gesicht des toten Kindes und sah hoffnungsvoll zum Krieger auf, als erwartete es, daß dieser Mensch alles wieder in Ordnung bringen würde, daß sein kleiner Spielgefährte wieder laufen und lachen würde. Er erinnerte sich, daß Caramon das weiche Fell des Hundes sanft gestreichelt hatte...
Flußwind, der einen Stein aufhob, ihn krampfhaft festhielt und dann auf sein verbranntes und vernichtetes Dorf starrte. Bilder von Sturm, wie er gelähmt vor dem Galgen stand und auf das Zeichen starrte... seine Lippen, die sich wie im Gebet oder im stummen Gelübde bewegten...
Das vor Leid zerfurchte Gesicht des Zwerges, der in seinem langen Leben soviel Tragisches gesehen und erlebt hatte; der mitten im verwüsteten Dorf stand und sanft Tolpans Rücken streichelte, nachdem er den Kender schluchzend in einer Ecke aufgelesen hatte...
Goldmonds hektische Suche nach Überlebenden. Sie kroch auf den geschwärzten Steinen, rief Namen, lauschte auf Antworten, bis sie heiser wurde und Fluß wind sie schließlich überzeugte, daß es hoffnungslos war. Falls es Überlebende gegeben hatte, waren sie längst geflohen...
Er selbst, Tanis, allein mitten im Dorf und auf Staubhaufen mit Pfeilspitzen schauend, die er dann als Drakonierkörper erkannte ... Die kalte Hand, die seinen Arm berührte... die flüsternde Stimme des Magiers.
»Tanis, wir müssen gehen. Hier können wir nichts mehr tun, und wir müssen Xak Tsaroth erreichen. Dort werden wir unsere Vergeltung haben.«
Und so hatten sie Que-Shu verlassen. Sie waren bis spät in die Nacht gewandert, keiner von ihnen hatte anhalten wollen, jeder wollte seinen Körper zur völligen Erschöpfung bringen, um den Schreckensträumen eines leichten Schlafs zu entgehen. Aber die Träume kamen trotzdem.
13
Frostige Dämmerung. Hängebrücken. Dunkles Wasser
Tanis spürte Klauenhände seine Kehle umklammern. Er kämpfte und kämpfte, und als er wach wurde, sah er, daß Flußwind sich in der Dunkelheit über ihn beugte und ihn grob schüttelte.
»Was...?« Tanis setzte sich.
»Du hast geträumt«, sagte der Barbar grimmig. »Ich mußte dich wecken. Deine Schreie hätten jede Armee auf uns gelenkt.« »Ja, danke«, murmelte Tanis. »Tut mir leid.« Er versuchte, den Alptraum von sich zu schütteln. »Wie spät ist es?«
»Noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung«, antwortete Flußwind müde. Er ging wieder zu seinem Platz zurück und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm eines verkrüppelten Baumes. Goldmond lag schlafend neben ihm. Sie begann zu murmeln und den Kopf zu schütteln und gab kleine leise, wimmernde Schreie von sich wie ein verletztes Tier. Flußwind streichelte über ihr silbergoldenes Haar, und sie erzitterte. »Du hättest mich früher wecken sollen«, sagte Tanis. Er stand auf und rieb seine Schultern und seinen Hals. »Es ist meine Wache.«
»Glaubst du etwa, ich kann schlafen?« fragte Flußwind bitter. »Du mußt schlafen«, antwortete Tanis. »Sonst kommen wir wegen dir langsamer voran.«
»Die Männer meines Stammes können viele Tage ohne Schlaf gehen«, sagte Flußwind. Seine Augen waren stumpf und glasig, und er schien in das Nichts zu starren.
Tanis wollte anfangen zu argumentieren, seufzte dann und hielt den Mund. Er wußte, er würde den Schmerz niemals richtig nachempfinden können, der den Barbaren zerfraß. Freunde und Familie – einfach alles – vernichtet, es muß so grausam sein, daß selbst sein Geist vor dieser Vorstellung zurückschreckt. Tanis ließ ihn allein und ging zu Flint hinüber, der an einem Stück Holz schnitzte.
»Du könntest auch ein wenig schlafen«, sagte Tanis zum Zwerg. »Ich werde eine Weile Wache halten.«
Flint nickte. »Ich habe dich schreien gehört. Hast du Que-Shu verteidigt?«
Tanis runzelte bei der Erinnerung die Stirn. Er zitterte in der eiskalten Nacht und zog seinen Umhang fester um sich. »Irgendeine Idee, wo wir sind?« fragte er Flint. »Der Barbar sagt, wir sind auf einer Straße, die als die Östliche Straße der Gelehrten bekannt ist«, antwortete der Zwerg. Er streckte sich auf dem kalten Boden aus und zog ein Tuch um seine Schultern. »Irgendeine alte Straße. Es gab sie schon vor der Umwälzung.«
»Ich vermute, wir haben nicht das Glück, daß diese Straße uns nach Xak Tsaroth führt.«
»Flußwind scheint nicht so zu denken«, murmelte der Zwerg schläfrig. »Er sagt, er wäre ihr nur eine kurze Strecke gefolgt. Aber zumindest würde sie uns durch die Berge führen.« Er gähnte laut und drehte sich auf die Seite, sein Umhang diente ihm als Kopfkissen.
Tanis atmete tief. Die Nacht schien friedlich zu sein. Sie waren auf ihrer wilden Flucht aus Que-Shu weder auf Drakonier noch auf Goblins gestoßen. Wie Raistlin sagte, hatten die Drakonier Que-Shu anscheinend wegen des Stabs angegriffen und nicht aufgrund irgendwelcher Schlachtvorbereitungen. Sie hatten zugeschlagen und sich dann zurückgezogen.