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Fröstelnd ging der Halb-Elf wieder zu Flußwind. »Hast du eine Vorstellung, wie weit es noch ist und welche Richtung wir einschlagen müssen?« Tanis hockte sich neben den Barbaren. »Ja«, Flußwind nickte und rieb seine brennenden Augen. »Wir müssen Richtung Nordosten, zum Neumeer. Dort soll die Stadt sein. Ich bin noch nie dort gewesen...« Er runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin noch nie dort gewesen«, wiederholte er.

»Können wir es bis morgen schaffen?« fragte Tanis. »Neumeer soll eine Zweitagesreise von Que-Shu entfernt sein.« Der Barbar seufzte. »Falls Xak Tsaroth existiert, sollten wir es in einem Tag schaffen, obwohl ich gehört habe, daß das Land von hier bis zum Neumeer sumpfig und schwer zu bereisen sei.« Er schloß seine Augen, seine Hand strich abwesend über Goldmonds Haar. Tanis schwieg. Er hoffte, daß der Barbar einschlafen würde. Am nächsten Morgen würde er Tolpan nach einer Landkarte fragen.

Der Kender hatte eine Karte, aber sie stellte keine große Hilfe dar, weil sie vor der Umwälzung gezeichnet worden war. Das Neumeer war überhaupt nicht verzeichnet, weil es sich erst gebildet hatte, nachdem das Land auseinandergerissen und von den Gewässern des Turbidus-Meeres überschwemmt worden war. Jedoch zeigte die Karte Xak Tsaroth, das nur ein kurzes Stück von der Östlichen Straße der Gelehrten entfernt lag. Sie müßten den Ort am Nachmittag erreichen, falls das Gebiet passierbar war. Die Gefährten aßen lustlos, zwangen sich fast dazu, irgend etwas zu sich zu nehmen. Raistlin brühte seinen übelriechenden Kräutertee über dem kleinen Feuer auf, seine seltsamen Augen hingen an Goldmonds Stab.

»Wie wertvoll er doch geworden ist«, bemerkte er leise, »durch das Blut Unschuldiger...«

»Ist er das wert? Ist er das Leben meines Volkes wert?« fragte Goldmond, die den schlichten Stab apathisch anstarrte. Sie schien über Nacht gealtert zu sein.

Keiner der Gefährten antwortete. Fluß wind erhob sich plötzlich und ging weg. Goldmond sah hoch und starrte ihm nach, dann sank ihr Kopf wieder nach unten, und sie begann leise zu weinen. »Er gibt sich die Schuld.« Sie schüttelte den Kopf. »Und ich kann ihm nicht helfen. Aber es war nicht seine Schuld.«

»Niemand hat schuld«, sagte Tanis langsam und ging zu ihr. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und spürte die Spannung in ihrem Körper. »Niemand von uns kann es verstehen. Wir müssen einfach weitergehen und hoffen, die Antwort in Xak Tsaroth zu finden.«

Sie nickte und trocknete ihre Augen, atmete tief durch und putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das Tolpan ihr gereicht hatte. »Du hast recht«, sagte sie. »Mein Vater würde sich meiner schämen. Ich darf es nicht vergessen - ich bin die Tochter des Stammeshäuptlings.«

»Nein«, ertönte Flußwinds tiefe Stimme aus dem Schatten der Bäume. »Du bist jetzt der Stammeshäuptling.«

Goldmond atmete keuchend. Sie drehte sich um und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Flußwind. »Vielleicht bin ich es«, stammelte sie. »Aber es hat keine Bedeutung. Unser Volk ist tot...«

»Ich habe Spuren gesehen«, antwortete Flußwind. »Einige konnten fliehen, wahrscheinlich in die Berge. Sie werden wiederkommen, und du wirst ihre Herrscherin sein.« »Unser Volk... lebt noch!« Goldmonds Gesicht strahlte. »Nicht viele. Vielleicht jetzt schon niemand mehr. Es hängt davon ab, ob die Drakonier ihnen in die Berge gefolgt sind.« Flußwind zuckte die Schultern. »Trotzdem bist du jetzt ihre Herrscherin« – in seine Stimme schlich sich Bitterkeit —, »und ich werde der Gatte der Herrscherin.«

Goldmond zuckte zusammen, als ob er sie geschlagen hätte. Sie blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Flußwind«, sagte sie leise. »Ich... wir haben darüber gesprochen...« »Haben wir das?« unterbrach er sie. »Ich habe letzte Nacht darüber nachgedacht. Ich war so viele Jahre fort. Meine Gedanken waren bei dir – bei der Frau. Ich habe nicht sehen wollen ...« Er schluckte und holte tief Luft. »Ich habe Goldmond verlassen. Und ich kehrte zurück, um die Tochter des Stammeshäuptlings zu finden.«

»Hatte ich denn eine andere Wahl?« schrie Goldmond zurück. »Mein Vater war krank. Ich mußte herrschen, oder Lorman hätte sich zum Führer des Stammes gemacht. Weißt du denn, wie es ist - die Tochter des Stammeshäuptlings zu sein? Sich bei jeder Mahlzeit zu fragen, ob sie vergiftet ist? Sich jeden Tag abzumühen, um aus der Schatztruhe die Soldaten bezahlen zu können, damit Lorman nicht aufmuckt? Und die ganze Zeit mußte ich mich wie die Tochter des Stammeshäuptlings verhalten, während mein Vater rumsaß und Versprechungen machte und vor sich hin murmelte...«Ihre Stimme erstickte in Tränen. Flußwind lauschte mit ernstem, unbeweglichem Gesicht. »Wir müssen aufbrechen«, sagte er kalt. »Die Dämmerung ist fast angebrochen.«

Die Gefährten brauchten nur einige wenige Meilen auf der alten, holprigen Straße zu wandern, bis sie buchstäblich in einen Sumpf fielen. Der Boden war ständig modriger geworden, und der Wald mit den hohen, robusten Bäumen hatte sich mehr und mehr gelichtet. Seltsame verkrümmte Bäume waren vor ihnen aufgetaucht. Die Sonnenstrahlen drangen nicht mehr durch, und die Luft wurde schlecht. Raistlin begann zu husten und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Sie blieben auf der alten Straße und versuchten, sich vom feuchten, sumpfigen Boden fernzuhalten. Flint ging mit Tolpan an der Spitze, als der Zwerg plötzlich einen lauten Schrei ausstieß und im Morast versank. Nur noch sein Kopf war zu sehen.

»Hilfe! Der Zwerg!« rief Tolpan, und die anderen rannten zu ihm.

»Beweg dich nicht«, belehrte Flußwind. »Du bist in ein Todesmoor gefallen. Folge ihm nicht!« warnte er Sturm, der nach vorn gesprungen war. »Ihr werdet beide sterben. Sucht einen Zweig.«

Caramon umklammerte einen jungen Baum, holte tief Luft, ächzte und riß ihn aus der Erde. Flußwind legte sich flach auf den Boden und schob den Baum zum Zwerg. Flint, der nun fast bis zur Nase im Sumpf steckte, schlug um sich, bekam jedoch schließlich den Baum zu fassen und wurde langsam herausgezogen. »Tanis!« Der Kender griff nach dem Halb-Elf und zeigte auf etwas. Eine Schlange, so dick wie Caramons Arm, glitt über den Morast, in dem sich der Zwerg abgequält hatte.

»Wir können hier nicht durch!« Tanis deutete auf den Sumpf, »Vielleicht sollten wir umkehren.«

»Keine Zeit«, flüsterte Raistlin, seine Stundenglasaugen glitzerten. »Und es gibt keinen anderen Weg«, sagte Flußwind. Seine Stimme klang seltsam. »Und wir kommen hier durch - ich kenne einen Weg.«

»Was?« fragte Tanis. »Ich dachte, du...«

»Ich war schon einmal hier«, sagte der Barbar mit erstickter Stimme. »Ich weiß nicht mehr, wann, aber ich war schon einmal hier. Ich kenne den Weg durch den Sumpf. Und er führt nach...« Er befeuchtete seine Lippen.

»Führt zur zerstörten Stadt des Bösen?« fragte Tanis grimmig, als der Barbar den Satz nicht beendete.

»Xak Tsaroth!« zischte Raistlin.

»Natürlich«, sagte Tanis leise. »Das ergibt einen Sinn. Wo sollten wir sonst Antworten über den Stab finden – nur an dem Ort, wo dir der Stab gegeben wurde.«

»Und wir müssen jetzt gehen!« sagte Raistlin hartnäckig. »Wir müssen bis morgen nacht da sein!«

Der Barbar übernahm die Führung. Er fand festen Boden im schwarzen Wasser und ließ sie alle einzeln hintereinander gehen, führte sie von der Straße fort und tiefer in den Sumpf hinein. Bäume, die er Eisenklaue nannte, wuchsen aus dem Wasser empor, ihre Wurzeln verzweigten sich im Schlamm. Schlingpflanzen hingen von ihren Zweigen und liefen über den kaum erkennbaren Weg. Der Nebel schloß sie ein, und bald konnten sie nur im Umkreis weniger Meter etwas erkennen. Sie waren gezwungen, sich langsam zu bewegen und jeden Schritt auszuprobieren. Eine falsche Bewegung, und sie wären in den stinkenden Morast getaucht, der sie übelriechend und stehend umgab.

Plötzlich endete der Pfad im dunklen, sumpfigen Wasser. »Und was jetzt?« fragte Caramon düster.

»Dort«, zeigte Flußwind. Eine primitive Brücke aus Schlingpflanzen, zu Strängen geflochten, war mit einem Baum verbunden. Sie legte sich wie ein Spinngewebe über das Gewässer. »Wer hat sie gebaut?« fragte Tanis.