»Wir müssen etwas tun!« sagte Sturm schroff. »Er ist nicht tot, und der Drache könnte zurückkehren!«
»Na schön«, sagte Tanis, seine Stimme kratzte in seiner Kehle. »Hüllt ihn in ein Tuch... Aber laßt mich einen Moment mit Goldmond allein reden.«
Der Halb-Elf überquerte langsam den Hof. Seine Schritte hallten in der Stille der Nacht wider, als er die Marmorstufen zu dem weiten Portal hochstieg, wo Goldmond vor den glänzenden goldenen Türen stand. Er blickte zurück und sah seine Freunde Tücher aus ihren Rucksäcken um Baumäste für eine Trage wickeln. Im Mondschein war der Körper Flußwinds nicht mehr als eine dunkle formlose Masse.
»Bring ihn zu mir, Tanis«, wiederholte Goldmond, als der Halb-Elf sie erreichte. Er nahm ihre Hand.
»Goldmond«, sagte Tanis, »Flußwind hat schreckliche Verletzungen. Er liegt im Sterben. Du kannst nichts für ihn tun – nicht einmal der Stab...«
»Still, Tanis«, sagte Goldmond sanft.
Der Halb-Elf verstummte und sah sie zum ersten Mal deutlich. Erstaunt stellte er fest, daß die Barbarin ruhig und friedlich und gelassen war. Ihr Gesicht wirkte im Mondschein wie das Gesicht eines Seemanns, der die stürmischen Meere in seinem zerbrechlichen Boot bekämpft und endlich ruhige Gewässer erreicht hatte. »Komm in den Tempel, mein Freund«, sagte Goldmond, ihre wunderschönen Augen sahen aufmerksam in seine. »Komm herein und bring Fluß wind zu mir.«
Goldmond hatte das Nahen des Drachen nicht bemerkt, hatte seinen Angriff auf Flußwind nicht mit angesehen. Als sie den zerstörten Hof von Xak Tsaroth betreten hatten, hatte Goldmond eine seltsame und machtvolle Kraft gespürt, die sie in den Tempel zog. Sie war die Stufen hinaufgestiegen und hatte nur noch die im silberroten Mondschein schimmernden goldenen Türen gesehen. Einen Moment stand sie vor ihnen. Dann nahm sie die Aufregung hinter sich wahr und hörte Flußwind ihren Namen rufen. »Goldmond...« Sie hielt inne, da sie Flußwind und ihre Freunde nicht verlassen wollte und sich bewußt war, daß etwas Böses aus dem Brunnen emporstieg. »Komm herein, Kind«, rief eine sanfte Stimme.
Goldmond hob den Kopf und starrte auf die Türen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Es war die Stimme ihrer Mutter. Tearsong, Priesterin von Que-Shu, war vor langer Zeit gestorben, als Goldmond noch sehr klein war.
»Tearsong?« würgte Goldmond. »Mutter...«
»Du hast viele traurige Jahre erlebt, meine Tochter« - es war nicht so, daß sie die Stimme ihrer Mutter hörte, sondern sie spürte sie eher in ihrem Herzen -, »und ich fürchte, dein Schmerz wird nicht so schnell vergehen. Im Gegenteil, du wirst diese Dunkelheit hinter dir lassen, um eine noch tiefere Dunkelheit zu betreten. Die Wahrheit wird deinen Weg beleuchten, meine Tochter, obwohl ihr Licht vielleicht nur schwach in der vor dir liegenden weiten und schrecklichen Nacht scheinen wird. Jedoch ohne die Wahrheit werden alle umkommen und verloren gehen. Komm in den Tempel mit mir, Tochter. Du wirst finden, was du suchst.«
»Aber meine Freunde... Flußwind.« Goldmond sah zum Brunnen zurück, wo Flußwind auf den bebenden Steinen ausrutschte. »Sie können dieses Böse nicht bekämpfen. Sie werden ohne mich sterben. Der Stab könnte helfen! Ich kann sie nicht allein lassen!« Sie wollte zurückkehren, als die Dunkelheit einsetzte. »Ich kann sie nicht sehen!... Flußwind!... Mutter, hilf mir«, schrie sie gequält.
Aber es kam keine Antwort. Das ist nicht fair! Goldmond schrie auf und ballte ihre Fäuste. Das wollten wir niemals! Wir wollten uns nur lieben, und nun - wir verlieren uns! Wir haben soviel geopfert, und es hat nichts ausgemacht. Ich bin dreißig Jahre alt, Mutter. Dreißig und ohne Kinder. Sie haben mir meine Jugend genommen, sie haben mir mein Volk genommen. Und ich habe nichts... nichts - nur dies! Sie schüttelte den Stab.
Ihre Wut beruhigte sich. Flußwind – war er wütend gewesen in all den langen Jahren, als er nach Antworten gesucht hatte? Er hatte nur diesen Stab gefunden, und er hatte nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Nein, er war nicht wütend gewesen, dachte sie. Sein Glaube war stark. Ich bin die Schwache. Flußwind war bereit, für seinen Glauben zu sterben. Offenbar muß ich bereit sein zu leben - selbst wenn es bedeutet, ohne ihn zu leben.
Goldmond lehnte den Kopf an die goldenen Türen, das Metall kühlte ihre Haut. Widerstrebend fällte sie ihre schmerzliche Entscheidung. Ich werde kommen, Mutter- obwohl mein Herz sterben wird, wenn Fluß wind stirbt. Ich bitte nur um eins: Wenn er stirbt, laß ihn irgendwie wissen, daß ich seine Suche fortsetzen werde.
Sich auf den Stab stützend, drückte der Häuptling von Que-Shu die goldenen Türen auf und betrat den Tempel. Die Türen schlössen sich in dem Moment, als der schwarze Drache aus dem Brunnen schoß.
Goldmond konnte zuerst nichts erkennen, aber ein Gefühl, sich in der warmen Umarmung ihrer Mutter zu befinden, breitete sich in ihr aus. Ein blasses Licht begann den Raum zu erhellen. Goldmond erkannte nun, daß sie unter einer riesigen Kuppel stand, die sich hoch über einen kunstvoll gearbeiteten Mosaikboden wölbte. Mitten im Raum stand eine Marmorstatue von einzigartiger Schönheit und Anmut. Das Licht im Raum rührte von dieser Statue her. Goldmond bewegte sich wie in Trance auf sie zu. Die Statue stellte eine Frau in fließenden Gewändern dar. Ihr Marmorgesicht trug einen Ausdruck strahlender Hoffnung, der sich mit Traurigkeit vermischte. Ein seltsames Amulett hing um ihren Hals.
»Das ist Mishakal, die Göttin der Heilkunst, der ich diene«, sagte ihre Mutter. »Höre ihr zu, meine Tochter.«
Goldmond stand direkt vor der Statue und bewunderte ihre Schönheit. Doch sie schien unfertig, unvollständig. Irgend etwas fehlt an der Statue, stellte Goldmond fest. Die marmornen Hände der Frau waren gekrümmt, als ob sie einen langen schlanken Stab halten würden, aber sie waren leer. Unbewußt, nur aus dem Bedürfnis heraus, diese Schönheit zu vollenden, legte Goldmond ihren Stab in die Marmorhände.
Er begann in einem sanften blauen Licht zu glühen. Goldmond wich erschrocken zurück. Das Licht des Stabes wurde immer heller. Goldmond bedeckte ihre Augen und fiel auf die Knie. Eine herrliche und liebende Kraft erfüllte ihr Herz. Sie bedauerte bitterlich ihren Zorn.
»Schäme dich nicht wegen deiner Zweifel, geliebte Jüngerin. Es war dein Zweifel, der dich zu uns führte, und es ist dein Zorn, der dich durch die vielen vor dir liegenden Prüfungen tragen wird. Du suchst die Wahrheit, und hier wirst du sie erhalten.
Die Götter haben sich nicht von den Menschen abgewandt – es ist der Mensch, der sich von den wahren Göttern abwendet. Krynn steht vor seiner größten Prüfung. Die Menschen brauchen die Wahrheit mehr denn je. Du, meine Jüngerin, mußt den Menschen die Wahrheit und die Macht der wahren Götter zurückbringen. Es ist Zeit, das Gleichgewicht des Universums wiederherzustellen. So wie sich die Götter des Guten wieder den Menschen zuwenden, machen es auch die Götter des Bösen – sie kämpfen ständig um die Seele der Menschen. Die Königin der Finsternis ist zurückgekehrt und trachtet danach, sich wieder frei in diesem Land zu bewegen. Drachen, einst in die unteren Regionen verbannt, sind wieder aufgetaucht.« Drachen, dachte Goldmond verträumt. Sie konnte sich nur schwer konzentrieren und die Worte fassen, die durch ihren Geist fluteten.
»Um die Mächte der Finsternis bekämpfen zu können, brauchst du die Wahrheit der Götter - dies ist das größte Geschenk, von dem man dir bereits erzählt hat. Unter diesem Tempel in den Ruinen ruhen die Scheiben von Mishakal; kreisförmige Scheiben aus glänzendem Metall. Finde die Scheiben, und du kannst meine Macht aufrufen, denn ich bin Mishakal, Göttin der Heilkunst.
Dein Weg wird nicht einfach sein. Die Götter des Bösen kennen und fürchten die Macht der Wahrheit. Der uralte und mächtige schwarze Drachen Khisanth, unter den Menschen als Onyx bekannt, bewacht die Scheiben. Seine Höhle liegt in der zerstörten Stadt Xak Tsaroth unter uns. Gefahr liegt vor dir, wenn du dich entscheidest, die Scheiben zurückzuerobern. Darum segne ich diesen Stab. Gehe mit ihm kühn um, wanke niemals, und du wirst dich behaupten.«