Die Stimme erstarb. In diesem Moment vernahm Goldmond Flußwinds Todesschrei.
Tanis betrat den Tempel, und ihm war, als ob er zurück in die Erinnerung schritt. Die Sonne schien durch die Bäume von Qualinost. Er und Laurana und ihr Bruder Gilthanas lagen am Flußufer, lachten und erzählten sich nach einem kindlichen Spiel ihre Träume. Tanis hatte wenige glückliche Tage in seiner Kindheit erlebt - der Halb-Elf hatte früh gelernt, daß er sich von den anderen unterschied. Aber jener Tag war ein Tag mit goldenem Sonnenschein und warmer Freundschaft gewesen. Die Erinnerung an diesen Frieden durchströmte ihn und linderte seinen Kummer und sein Entsetzen.
Er wandte sich zu Goldmond, die schweigend neben ihm stand. »Was stellt dieser Ort dar?«
»Das ist eine Geschichte, die später erzählt werden muß«, antwortete Goldmond. Sie führte ihn über den schimmernden Mosaikboden zur glänzenden Marmorstatue der Mishakal. Der blaue Kristallstab warf sein helles Licht durch den ganzen Raum.
Aber gerade als Tanis vor Staunen seinen Mund öffnen wollte, verdunkelte ein Schatten den Raum. Er und Goldmond wandten sich zur Tür. Caramon und Sturm trugen Flußwinds Körper auf der Bahre in den Tempel. Flint und Tolpan - der Zwerg sah alt und müde aus, der Kender ungewöhnlich bedrückt – gingen zu beiden Seiten der Trage, eine seltsame Ehrenwache. Die düstere Prozession bewegte sich langsam vorwärts. Hinter ihnen schritt Raistlin, seine Kapuze weit über den Kopf gezogen, die Hände in seinem Gewand versteckt - die Erscheinung des Todes. Vor Tanis und Goldmond blieben sie stehen. Tanis, der auf den Körper zu Goldmonds Füßen schaute, schloß die Augen. Blut war durch das dicke Tuch gesickert, und große dunkle Flecken breiteten sich auf dem Gewebe aus.
»Zieht das Tuch weg«, befahl Goldmond. Caramon sah flehend zu Tanis.
»Goldmond...«, begann Tanis leise.
Plötzlich beugte sich Raistlin hinunter, und bevor ihn jemand aufhalten konnte, schlug er das blutverschmierte Tuch vom Körper zurück.
Goldmond keuchte unterdrückt beim Anblick von Flußwinds gepeinigtem Körper und erbleichte so, daß Tanis ihr seine Hand reichte, da er fürchtete, sie würde ohnmächtig werden. Aber Goldmond war die Tochter eines starken, stolzen Volkes. Sie schluckte und holte tief Luft. Dann wandte sie sich um und ging auf die Marmorstatue zu. Sie zog vorsichtig den blauen Kristallstab aus den Händen der Göttin, kam zurück und kniete sich neben Flußwinds Körper.
»Kan-tokah«, sagte sie sanft. »Mein Geliebter.« Sie streckte ihre zitternde Hand aus und berührte die Stirn des sterbenden Barbaren. Das augenlose Gesicht bewegte sich ihr zu, als ob er sie gehört hätte. Eine der verkohlten Hände zuckte schwach, als ob er sie berühren wollte. Dann zuckte er zusammen und lag völlig still da. Tränen flössen über Goldmonds Wangen, als sie den Stab auf Flußwinds Körper legte. Sanftes blaues Licht erfüllte den Raum. Alle, die vom Licht berührt wurden, fühlten sich im selben Moment ausgeruht und erfrischt. Der Schmerz und die Erschöpfung des Tages wichen aus ihren Körpern. Das Entsetzen über den Angriff des Drachens hob sich aus ihren Gedanken. Dann verblaßte das Licht des Stabes und erstarb. Die Nacht legte sich über den Tempel, nur noch vom Schein der Marmorstatue erhellt.
Tanis blinzelte und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann hörte er eine tiefe Stimme.
»Kan-tokah neh sirakan.«
Er hörte Goldmond vor Freude aufschreien. Tanis sah dorthin, wo Flußwinds zerschundener, fast lebloser Körper gelegen hatte, und traute seinen Augen nicht... Der Barbar saß aufrecht und streckte seine Arme nach Goldmond aus. Sie umarmte ihn und lachte und weinte gleichzeitig.
»Und darum«, Goldmond war am Ende ihrer Geschichte angelangt, »müssen wir einen Weg zum unterirdischen Teil der zerstörten Stadt finden, der irgendwo unter dem Tempel liegt, und wir müssen die Scheiben aus der Höhle des Drachen zurückholen.« Sie saßen auf dem Tempelboden und hielten ein bescheidenes Mahl ab. Eine schnelle Durchsuchung des Gebäudes hatte ergeben, daß es leer war, obwohl Caramon Drakonierspuren auf der Treppe sowie Spuren einer anderen Kreatur gefunden hatte, die der Krieger nicht einordnen konnte.
Es war kein großes Gebäude. Zwei Kulträume befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flures, der zum Hauptraum mit der Statue führte. Zwei kreisrunde Räume gingen vom Hauptraum selbst nach Norden und Süden ab. Ihre Wände waren mit Fresken geschmückt, die jetzt von Pilzen überwuchert und kaum noch zu erkennen waren. Zwei weitere goldene Türen führten nach Osten. Caramon berichtete von einer Treppe, über die man in den unteren Teil der zerstörten Stadt gelangen konnte. Das schwache Geräusch der Brandung war zu hören und erinnerte sie daran, daß sie sich auf der Spitze einer großen Klippe über dem Neumeer befanden.
Die Gefährten hockten auf dem Boden, hingen ihren Gedanken nach und versuchten, all die Neuigkeiten zu verdauen. Nur Tolpan stöberte weiter in den Tempelräumen herum, lugte mal in diese, mal in jene Ecke. Als er nichts Interessantes fand, wurde es ihm langweilig, und er gesellte sich mit einem alten Helm in seiner Hand wieder zur Gruppe. Da der Helm für ihn zu groß war und Kender sowieso keine Helme tragen, weil sie sie als störend und beengend empfinden, warf er ihn dem Zwerg zu.
»Was ist das?« fragte Flint argwöhnisch und hielt den Helm ins Licht von Raistlins Stab. Es war ein Helm in uralter Ausführung, offensichtlich von einem erfahrenen Metallschmied gefertigt. Ein langer Schweif aus Tierhaar zierte die Spitze. Flint warf seinen Drakonierhelm auf den Boden und setzte sich den neuen Helm auf. Er paßte vorzüglich. Lächelnd nahm er ihn ab und bewunderte noch einmal seine Ausführung. Tanis beobachtete ihn vergnügt.
»Es ist Pferdehaar«, sagte er und deutete auf den Schweif. »Nein, das stimmt nicht!« erwiderte der Zwerg und runzelte die Stirn. Er schnüffelte daran und verzog die Nase. Triumphierend blickte er zu Tanis. »Es ist Haar von der Mähne eines Greifs.« Caramon brach in ein schallendes Gelächter aus. »Greif!« schnaubte er verächtlich. »Es gibt genauso viele Greife auf Krynn wie...«
»Drachen«, ergänzte Raistlin sanft.
Die Unterhaltung erstarb abrupt.
Sturm räusperte sich. »Wir sollten lieber schlafen«, sagte er. »Ich übernehme die erste Wache.«
»Heute nacht braucht niemand Wache zu halten«, sagte Goldmond leise. Sie saß dicht neben Flußwind. Der große Barbar hatte seit seinem Zusammenstoß mit dem Tod wenig gesprochen. Er hatte lange Zeit die Statue von Mishakal angestarrt und auch die Frau in dem blauen Licht erkannt, die ihm den Stab überreicht hatte, aber er hatte auf keine Frage geantwortet. »Wir sind hier sicher«, bekräftigte Goldmond und sah zur Statue.
Caramon zog seine Augenbrauen hoch. Sturm runzelte die Stirn und strich über seinen Bart. Beide Männer waren zu höflich, um Goldmonds Glauben in Frage zu stellen, aber Tanis wußte, daß sich beide Kämpfer nicht sicher fühlen würden, solange keine Wachen ernannt waren. Es blieben nicht mehr viele Stunden bis zum Tagesanbruch, und sie alle brauchten Ruhe. Raistlin war bereits eingeschlafen.
»Ich denke, Goldmond hat recht«, meinte Tolpan. »Laßt uns diesen alten Göttern vertrauen, da wir sie anscheinend gefunden haben.« »Die Elfen haben sie niemals verloren, und die Zwerge auch nicht«, protestierte Flint. »Ich verstehe das alles überhaupt nicht. Reorx ist auch einer der alten Götter. Wir haben ihn vor der Umwälzung verehrt.«
»Verehrt?« fragte Tanis. »Oder verzweifelt zu ihnen geschrien, als dein Volk im Königreich unter dem Gebirge eingeschlossen wurde. Nein, werde jetzt nicht wütend...« Tanis sah das Gesicht des Zwergen rot anlaufen und streckte ihm seine Hand hin. »Die Elfen sind nicht besser. Wir schrien zu den Göttern, als unsere Heimat verwüstet wurde. Wir kennen die Götter und verehren sie, wie man Tote ehrt. Die Elfenkleriker sind vor langer Zeit verschwunden, so wie auch die Zwergenkleriker. Ich erinnere mich an Mishakal, die Göttin der Heilkunst. Ich erinnere mich, Geschichten über sie gehört zu haben, als ich jung war. Ich erinnere mich auch an Drachenlegenden - Kindergeschichten, würde Raistlin sagen. Anscheinend ist unsere Kindheit zurückgekehrt, um uns zu verfolgen - oder uns zu retten, ich weiß nicht... Ich habe heute abend zwei Wunder erlebt, ein böses und ein gutes. Ich muß an beide glauben, wenn ich meinen Sinnen trauen soll. Dennoch...« Der Halb-Elf seufzte. »Ich meine, wir sollten abwechselnd Wache halten. Tut mir leid, Goldmond. Ich wünschte, mein Glaube wäre so stark wie deiner.«