Sturm übernahm die erste Wache. Der Ritter ging durch den vom Mondschein beleuchteten Tempel, überprüfte die Räume mehr aus Gewohnheit, als daß er sich bedroht fühlte. Er konnte den Wind draußen kalt und stürmisch wehen hören. Aber innen war es seltsam warm und behaglich – zu behaglich.
Er nahm zu Füßen der Statue Platz. Sturm fühlte sich von einer süßen Friedlichkeit übermannt. Erstaunt setzte er sich auf und stellte ärgerlich fest, daß er beinahe während der Wache eingeschlafen wäre. Das war nicht zu entschuldigen! Er schalt sich selbst und beschloß, die folgenden zwei Stunden seiner Wache zu laufen - zur Strafe. Gerade wollte er sich erheben, als er innehielt. Er hörte ein Singen, eine Frauenstimme. Sturm sah sich mit der Hand am Schwert unruhig um. Dann glitt seine Hand vom Griff. Er erkannte die Stimme und das Lied. Es war die Stimme seiner Mutter. Noch einmal war Sturm mit ihr zusammen ... Sie flohen aus Solamnia, wanderten allein, nur mit einem treuen Gefolgsmann - und dieser sollte sterben, noch bevor sie Solace erreichten. Das Lied war eines jener Schlaflieder, die noch älter als Drachen waren. Sturms Mutter hielt ihr Kind eng an sich gedrückt und versuchte, ihre Furcht von ihm fernzuhalten, indem sie dieses sanfte, beruhigende Lied sang. Sturm schloß seine Augen. Schlaf segnete ihn, segnete auch alle seine Gefährten.
Der Schein von Raistlins Stab glühte hell und hielt die Dunkelheit fern.
17
Der Pfad der Toten. Raistlins neue Freunde
Der Lärm von Metall, das auf den Tempelboden aufschlug, riß Tanis aus einem tiefen Schlaf. Er richtete sich alarmiert auf, seine Hand suchte das Schwert.
»Tut mir leid«, sagte Caramon und grinste beschämt. »Mein Brustharnisch ist heruntergefallen.«
Tanis holte tief Luft, was zu einem Gähnen wurde, streckte sich und legte sich auf seine Decke zurück. Der Anblick von Caramon, der seine Rüstung anlegte – mit Tolpans Hilfe —, erinnerte den Halb-Elfen daran, was ihnen heute bevorstand. Sturm war ebenfalls mit seiner Rüstung beschäftigt, während Flußwind sein Schwert polierte. Tanis versuchte bewußt, nicht daran zu denken, was ihnen heute zustoßen könnte.
Es war keine leichte Aufgabe, besonders für den Elfenteil in Tanis - Elfen verehren das Leben, und obwohl sie glauben, daß der Tod nur eine Bewegung auf eine höhere Seinsstufe hin bedeutet, wird der Tod jedes Lebewesens als Verringerung des Lebens dieses Planeten angesehen. Tanis zwang sich also, seiner menschlichen Seite das Übergewicht zu geben. Er würde töten müssen, und vielleicht müßte er den Tod eines oder mehrerer seiner Freunde hinnehmen. Er erinnerte sich, wie er sich am Vortag gefühlt hatte, als er glaubte, Flußwind zu verlieren. Der Halb-Elf runzelte die Stirn und richtete sich plötzlich auf. Ihm war, als wäre er aus einem schlimmen Traum erwacht.
»Sind alle auf?« fragte er und kratzte sich den Bart. Flint stampfte zu ihm hinüber und reichte ihm ein Stück Brot und einige Streifen Wildbret. »Auf und schon gefrühstückt«, grummelte der Zwerg. »Du hättest glatt die Umwälzung verschlafen können, Halb-Elf.« Tanis biß ohne Appetit ins Fleisch. Dann krauste er die Nase und schnüffelte. »Was ist das für ein komischer Geruch?« »Eine Erfindung des Magiers.« Der Zwerg zog eine Grimasse und ließ sich neben Tanis fallen. Flint holte ein Stück Holz hervor und begann eifrig zu schnitzen. »Er hat irgend etwas in einer Tasse zu Pulver zerstoßen und Wasser beigemischt, es verrührt und getrunken, aber erst, als es zu stinken anfing. Ich bin glücklicher, nicht zu wissen, was es ist.«
Tanis nickte zustimmend und kaute weiter. Raistlin las nun in seinem Zauberbuch, murmelte immer wieder Worte, bis er sie auswendig wußte. Tanis fragte sich, über was für einen Zauber gegen Drachen Raistlin verfügte. Er erinnerte sich nur noch vage an Drachenlegenden – von denen er vor langer Zeit vom Elfenbarden Quivalen Soth erfahren hatte —, daß nur der Zauber sehr großer Magier eine Chance besaß, Drachen zu beeinflussen. Denn sie arbeiteten mit ihrer eigenen Magie, was alle bezeugen konnten.
Tanis blickte auf den zerbrechlichen jungen Mann, der in sein Zauberbuch vertieft war, und schüttelte den Kopf. Raistlin ist für sein Alter wohl mächtig und sicherlich verschlagen und klug. Aber Drachen waren uralt. Sie waren auf Krynn noch vor den ersten Elfen, der ältesten aller Rassen, dagewesen. Falls ihr Plan funktionierte, den sie in der vorigen Nacht ausgearbeitet hatten, würden sie vielleicht gar nicht auf den Drachen treffen. Sie hofften, die Höhle zu finden und einfach mit den Scheiben zu entkommen. Es war ein guter Plan, dachte Tanis, und höchstwahrscheinlich genausoviel wert wie Rauch im Wind. Verzweiflung begann sich wie naßkalter Nebel einzuschleichen.
»Nun, ich bin gerüstet«, verkündete Caramon fröhlich. Der Krieger fühlte sich in seiner Rüstung bedeutend wohler. Und der Drache schien zum kleinen Ärgernis geworden zu sein. Er summte ein altes Schlachtlied, als er seine schlammverdreckten Kleidungsstücke in den Rucksack stopfte. Sturm, der seine Rüstung sorgfältig angelegt hatte, saß abseits von den Gefährten, hatte die Augen geschlossen und führte ein geheimes Ritual durch, mit dem sich Ritter geistig auf eine Schlacht vorbereiten. Tanis erhob sich, steif und kalt, und bewegte sich, um seinen Kreislauf anzuregen und die schmerzenden Muskeln zu lockern. Elfen taten nichts vor einer Schlacht, außer daß sie innerlich um Vergebung für das Töten baten.
»Wir sind auch bereit«, sagte Goldmond. Sie war in eine schwere graue Tunika aus weichem Leder gekleidet. Ihr langes silbergoldenes Haar hatte sie um ihren Kopf geflochten - eine Vorsichtsmaßnahme, damit der Feind sie nicht bei den Haaren packen konnte.
»Dann laßt es uns hinter uns bringen.« Tanis seufzte, als er den Langbogen und den Köcher aufhob. Außerdem war er mit einem Dolch und seinem Langschwert bewaffnet. Sturm trug sein zweihändiges Schwert. Caramon hatte seinen Schild, ein Langschwert und zwei Dolche. Flint hatte seine verlorengegangene Schlachtaxt mit einer aus dem Drakonierlager eingetauscht. Tolpan hatte seinen Hupak und einen kleinen Dolch, den er gefunden hatte. Er war sehr stolz auf ihn und tief verletzt, als Caramon ihm erklärte, er wäre sicher nützlich, sollten sie unterwegs auf Hasen stoßen. Flußwind trug sein Langschwert und immer noch Tanis' Dolch. Goldmond hatte als Waffe nur den Stab. Wir sind gut bewaffnet, dachte Tanis düster.
Die Gefährten verließen Mishakals Kammer, Goldmond ging als letzte. Sie berührte im Vorbeigehen sacht die Statue der Göttin mit ihrer Hand und flüsterte ein leises Gebet. Tolpan führte fröhlich springend die Gruppe an, sein Zopf hüpfte auf und ab. Er würde einen echten, lebendigen Drachen sehen! Der Kender konnte sich nichts Aufregenderes vorstellen. Auf Caramons Anweisung gingen sie Richtung Osten, passierten zwei weitere goldene Doppeltüren und betraten einen riesigen, kreisförmigen Raum. Eine hohe, mit Schlamm überwucherte Säule stand in der Mitte – sie war so hoch, daß nicht einmal Flußwind erkennen konnte, ob und was oben auf ihrer Spitze war. Tolpan starrte sehnsüchtig nach oben.
»Gestern abend habe ich versucht hochzuklettern«, sagte er. »Aber es war zu glitschig. Ich frage mich, was da oben wohl ist.«
»Nun, was auch immer es ist, es wird für immer außer Reichweite von Kendern sein«, schnappte Tanis ärgerlich. Er ging zur Treppe, die sich nach unten in die Dunkelheit schlängelte. Die Stufen waren zerfallen und mit fauligen Pflanzen und Pilzen bewachsen.