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»Der Pfad der Toten«, sagte Raistlin plötzlich.

»Was?« Tanis fuhr zusammen.

»Der Pfad der Toten«, wiederholte der Magier. »So wird diese Treppe genannt.«

»Woher bei Reorx weißt du das?« knurrte Flint.

»Ich habe einiges über diese Stadt gelesen«, erwiderte Raistlin flüsternd.

»Gut, daß wir endlich davon erfahren«, sagte Sturm eisig. »Was weißt du denn noch, was du uns noch nicht erzählt hast?«

»Viele Dinge, Ritter«, entgegnete Raistlin mit finsterem Blick. »Während du und mein Bruder mit Holzschwertern gespielt habt, verbrachte ich meine Zeit mit Lernen.«

»Ja, das Lernen über Dinge, die dunkel und geheimnisvoll sind«, spottete der Ritter. »Was ist wirklich mit dir in den Türmen der Erzmagier geschehen, Raistlin? Du hast doch diese wunderbaren Kräfte nicht gewonnen, ohne nicht auch etwas dafür herzugeben. Was hast du in diesem Turm geopfert? Deine Gesundheit - oder deine Seele?«

»Ich war mit meinem Bruder im Turm«, sagte Caramon. Das normalerweise fröhliche Gesicht des Kämpfers wirkte nun verhärmt. »Ich sah ihn gegen mächtige Magier und Zauberer mit nur wenigen Zaubersprüchen kämpfen. Er hat sie besiegt, obwohl sie seinen Körper zerstörten. Ich trug ihn sterbend von diesem schrecklichen Ort. Und ich...« Der große Mann zögerte. Raistlin trat schnell vor und legte seine kalte dünne Hand auf den Arm seines Zwillingsbruders. •»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst«, zischte er.

Caramon holte Luft und schluckte. »Ich weiß, was er geopfert hat«, sagte der Kämpfer mit heiserer Stimme. Dann hob er stolz den Kopf. »Uns wurde verboten, darüber zu sprechen. Aber du kennst mich seit vielen Jahren, Sturm Feuerklinge, und ich gebe dir mein Ehrenwort - du kannst meinem Bruder vertrauen, so wie du mir vertraust. Falls je eine Zeit kommen sollte, wo das nicht mehr gilt, wird mein Tod – und seiner – nicht weit entfernt sein.«

Raistlins Augen wurden bei diesem Schwur zu schmalen Schlitzen. Er bedachte seinen Bruder mit einem nachdenklichen, düsteren Blick. Dann sah Tanis die Lippen des Magiers sich kräuseln, die ernsthafte Miene wurde durch seinen üblichen Zynismus weggewischt. Es war eine erschreckende Veränderung. Einen Augenblick lang war die Ähnlichkeit der Zwillinge so deutlich gewesen. Jetzt waren sie wieder so verschieden wie Tag und Nacht.

Sturm trat nach vorn, nahm Caramons Hand und hielt sie wortlos fest. Dann wandte er sich zu Raistlin, unfähig, ihn ohne offensichtlichen Abscheu anzusehen. »Ich entschuldige mich, Raistlin«, sagte der Ritter steif. »Du solltest dankbar sein, solch einen loyalen Bruder zu haben.«

»Oh, das bin ich«, wisperte Raistlin.

Tanis blickte den Magier scharf an und fragte sich, ob er sich den Sarkasmus in der zischenden Stimme des Magiers nur eingebildet hatte. Der Halb-Elf befeuchtete seine trockenen Lippen, er hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. »Kannst du uns führen?« fragte er abrupt.

»Das hätte ich tun können«, antwortete Raistlin, »wenn wir vor der Umwälzung hergekommen wären. Die Bücher, die ich studiert habe, sind einige hundert Jahre alt. Während der Umwälzung, als das glühende Gebirge Krynn spaltete, stürzte die Stadt Xak Tsaroth über den Rand einer Klippe. Ich erkenne diese Treppe nur wieder, weil sie noch unversehrt ist. Darüber hinaus...« Er zuckte die Schultern.

»Wohin führen die Stufen?«

»Zu einem Platz, der als die Ahnenhalle bekannt ist. Priester und Könige von Xak Tsaroth wurden dort in Grabkammern bestattet.« »Laßt uns weitergehen«, sagte Caramon barsch. »Wir machen uns doch hier nur selber angst.«

»Ja«, nickte Raistlin. »Wir müssen gehen, und zwar schnell. Wir haben nur bis Anbrach der Nacht Zeit. Morgen wird diese Stadt von der aus dem Norden kommenden Armee überrannt werden.«

»Pah!« Sturm ranzelte die Stirn. »Du magst viele Dinge wissen, wie du behauptest, Magier, aber das kannst du nicht wissen! Doch - Caramon hat recht - wir haben uns hier schon zu lange aufgehalten. Ich werde die Führung übernehmen.« Er begann die Stufen hinabzusteigen, bewegte sich vorsichtig, um nicht auf der glitschigen Oberfläche auszurutschen. Tanis sah Raistlins Augen - schmale Schlitze der Feindschaft -Sturm folgen.

»Raistlin, geh mit ihm und beleuchte den Weg«, befahl Tanis und ignorierte den wütenden Blick, den Sturm ihm zuwarf. »Caramon, du gehst mit Goldmond. Flußwind und ich bilden die Nachhut.«

»Und wo bleiben wir?« murrte Flint zum Kender, als sie hinter Goldmond und Caramon folgten. »In der Mitte, wie immer. Einfach nur unnützes Gepäck...«

»Dort oben könnte irgend etwas sein«, sagte Tolpan und blickte zur Säule zurück. Offensichtlich hatte er kein Wort der Unterhaltung mitbekommen. »Eine Kristallkugel oder ein magischer Ring, wie ich ihn einst besaß«, brummte Flint. »Habe ich dir jemals von meinem magischen Ring erzählt?« Tanis hörte die beiden plappern, als sie nach unten verschwanden. Der Halb-Elf wandte sich zu Flußwind. »Du warst hier - du mußt hier gewesen sein. Wir haben die Göttin gesehen, die dir den Stab gab. Bist du auch hier unten gewesen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Flußwind müde. »Ich erinnere mich an nichts mehr. Nichts - außer an den Drachen.«

Tanis schwieg. Der Drache. Alles führte zum Drachen. Die Kreatur lauerte in den Gedanken aller. Und wie schwach diese kleine Gruppe schien gegen ein Ungeheuer, das aus Krynns dunkelsten Legenden entsprungen war. Warum wir? dachte Tanis bitter. Hatte es jemals eine unmöglichere Gruppe von Helden – zankend, murrend, streitend – gegeben, von der die eine Hälfte der anderen Hälfte nicht über den Weg traute. Tanis erinnerte sich an Raistlins Worte: »Wer wählte uns aus - und warum!« Der Halb-Elf begann inzwischen, sich dieselbe Frage zu stellen.

Schweigend stiegen sie die steile Treppe hinunter, die sich immer tiefer in den Berg wand. Anfangs war es sehr dunkel. Dann wurde der Weg heller, bis Raistlin das Licht an seinem Stab löschen konnte. Irgendwann hob Sturm seine Hand und brachte die anderen zum Halten. Vor ihnen erstreckte sich ein kurzer Flur. Er führte zu einer großen, geschwungenen Türöffnung, die einen weiten offenen Bereich freigab. Ein blasses graues Licht und der Geruch von Moder und Verfall erfüllten den Korridor.

Die Gefährten blieben stehen und lauschten aufmerksam. Ein Geräusch strömenden Wassers schien von der Tür her zu kommen und übertönte fast alles. Trotzdem meinte Tanis, noch etwas anderes gehört zu haben – ein deutliches Knacken – und eher gespürt als gehört hatte er ein Pochen und Klopfen vom Boden her. Dann, noch verwirrender, drang ein metallisches, kratzendes Geräusch zu ihnen durch, gelegentlich unterbrochen von einem schrillen Kreischen. Tanis blickte Tolpan fragend an.

Der Kender hob die Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er und lauschte angestrengt weiter. »So etwas habe ich noch nie gehört, Tanis, außer einmal...« Er hielt inne und schüttelte dann den Kopf. »Möchtest du, daß ich nachsehe?« fragte er eifrig. »Geh.«

Tolpan schlich, von Schatten zu Schatten huschend, den schmalen Gang entlang. Eine Maus, die über einen dicken Teppich flitzt, macht mehr Geräusche als ein Kender, der nicht auffallen will. Er erreichte die Tür und spähte hindurch. Vor ihm erstreckte sich ein Raum, der einst eine riesige Zeremonienhalle gewesen sein mußte. Die Ahnenhalle, wie Raistlin sie genannt hatte. Jetzt war es eine Halle des Verfalls. Nach Osten hin war ein Teil des Bodens aufgebrochen, und aus dem Loch stieg fauliger weißer Dunst empor. Tolpan bemerkte weitere riesige Löcher im Boden und gewaltige Steinblöcke, die sich wie Grabsteine aufrichteten. Vorsichtig den Boden unter sich absuchend, trat der Kender in die Halle. Durch den Dunst konnte er einen dunklen Eingang an der südlichen Wand erkennen – und einen weiteren an der Nordwand. Das seltsame Kreischen kam von der Südseite. Tolpan wandte sich dorthin.

Plötzlich hörte er wieder das pochende und klopfende Geräusch im Norden hinter sich, und er spürte, wie der Boden bebte. Der Kender flitzte eilig zur Treppe zurück. Seine Freunde hatten auch das Geräusch gehört und sich mit gezogenen Waffen an der Wand aufgereiht. Das Pochen wurde zu einem lauten Zischen. Dann eilten zehn oder fünfzehn vierschrötige schattenhafte Gestalten durch den gewölbten Türeingang. Der Boden erzitterte. Sie hörten schweres Atmen und gelegentlich ein gemurmeltes Wort. Dann verschwanden die Figuren im Nebel in südlicher Richtung. Ein weiteres deutliches Knacken war zu hören, dann kehrte Stille ein.