Raistlin blieb stehen, als er sich dem Ende des Korridors genähert hatte. Die Gossenzwerge beobachteten ihn neugierig und ignorierten die anderen hinter ihm. Der Magier sagte nichts. Er griff nach einem Beutel unter seinem Gürtel und zog einige Goldmünzen hervor. Die Augen der Gossenzwerge leuchteten auf. Ein paar von ihnen traten näher auf Raistlin zu, um besser sehen zu können. Der Magier hielt eine Münze hoch, so daß alle sie sehen konnten. Dann warf er sie hoch in die Luft und... sie verschwand!
Die Gossenzwerge keuchten. Raistlin öffnete seine Hand mit einigen schwungvollen Gebärden, um die Münze zu enthüllen. Vereinzelt gab es Applaus. Mit offenen Mündern schlichen die Gossenzwerge heran.
Gossenzwerge - oder Aghar, wie ihre Rasse auch hieß - waren wahrhaftig ein erbärmlicher Haufen. Als niedrigste Kaste in der Zwergengeseilschaft waren sie überall auf Krynn zu finden, lebten an schmutzigen und verkommenen Plätzen, die von den meisten anderen Lebewesen, einschließlich Tieren, verlassen worden waren. Wie alle Zwerge lebten sie in Sippen, und häufig lebten mehrere Sippen zusammen und folgten ihrem großen Anführer oder einem besonders mächtigen Sippenführer. In Xak Tsaroth gab es drei Sippen - die Slude, die Bulpe und die Glupe. Mitglieder aller drei Sippen umringten nun Raistlin. Man sah, daß es Männer und Frauen waren, obgleich es nicht leicht war, die Geschlechter zu unterscheiden. Die Frauen hatten keine Barte am Kinn, sondern an den Wangen. Sie trugen zerfetzte Hemden, die in der Taille geschnürt wurden und bis zu den knochigen Knien gingen. Ansonsten waren sie genauso häßlich wie die männlichen Vertreter ihrer Rasse. Doch trotz ihres erbärmlichen Aussehens führten die Gossenzwerge im allgemeinen ein fröhliches Leben.
Raistlin ließ die Münze mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit über seine Fingerknöchel tanzen. Dann ließ er sie verschwinden und im Ohr eines verblüfften Gossenzwerges wieder auftauchen, der den Magier bewundernd anstarrte. Dieser letzte Trick führte zu einer kurzen Unterbrechung seiner Darbietung, als Freunde des Aghars intensiv in dessen Ohr peilten, einer von ihnen steckte sogar seinen Finger hinein, um zu sehen, ob noch mehr Münzen herauskommen würden. Das tiefe Interesse schwand jedoch sofort, als Raistlin in einen anderen Beutel griff und eine kleine Pergamentrolle hervorholte. Er breitete sie mit seinen langen dünnen Fingern aus und begann einen Text leise singend vorzutragen. »Suh gangus moipar, äst äkular kalipar.« Die Gossenzwerge beobachteten ihn voller Faszination.
Als der Magier mit seinem Singsang fertig war, begannen die spinnenartig aussehenden Worte auf der Rolle zu brennen. Sie flackerten auf, verschwanden dann und ließen einen grünen Rauch zurück.
»Was war das denn gerade?« fragte Sturm argwöhnisch. »Sie sind jetzt verzaubert«, erwiderte Raistlin. »Ich habe einen Freundschaftszauber über sie geworfen.«
Die Gossenzwerge standen nun unter seinem Bann, und wie Tanis bemerkte, hatte sich ihr Interesse in offene Zuneigung für den Magier verwandelt. Sie streckten ihre schmutzigen Hände aus und streichelten ihn und plapperten in ihrer formlosen Sprache auf ihn ein. Sturm sah beunruhigt zu Tanis. Tanis wußte, was der Ritter dachte: Raistlin konnte jederzeit diesen Zauber auch auf sie werfen.
Tanis hörte Schritte und sah sich schnell zu der Stelle um, wo Flußwind und Flint Wache hielten. Der Barbar zeigte auf die Gossenzwerge, hielt seine Hände hoch und spreizte die Finger: Zehn weitere Zwerge waren im Anmarsch. Bald waren die neuen Aghar in Sichtweite und gingen an Flußwind mit einem flüchtigen Blick vorbei. Sie hielten erst an, als sie die Unruhe um den Magier sahen.
»Was los?« fragte einer und starrte zu Raistlin hoch. Die verzauberten Gossenzwerge waren um den Magier versammelt, zogen an seinem Gewand und schoben ihn in die Halle. »Freund. Das unser Freund«, plapperten sie aufgeregt in einer primitiven Form der Umgangssprache.
»Ja«, sagte Raistlin mit sanfter, weicher Stimme, die so einnehmend war, daß Tanis einen Moment verblüfft war. »Ihr seid alle meine Freunde«, fuhr der Magier fort. »Und jetzt erzählt mir, meine Freunde – wohin führt dieser Korridor?« Raistlin zeigte nach Osten. Sofort hob ein Geplapper an.
»Korridor führt diesen Weg«, sagte einer und zeigte in östlicher Richtung. »Nein, er führt diesen Weg!« sagte ein anderer und deutete zum Westen.
Eine Rauferei brach aus, die Gossenzwerge schubsten und schoben sich hin und her. Bald flogen die Fäuste, und ein Gossenzwerg warf einen anderen zu Boden und trat ihn und gellte aus vollem Hals: »Der Weg! Der Weg!«
Sturm wandte sich zu Tanis. »Das ist lächerlich! Sie alarmieren nur die Drakonier! Ich weiß nicht, was dieser verrückte Magier angestellt hat, aber du mußt ihn aufhalten.«
Bevor sich Tanis jedoch einmischen konnte, hatte ein weiblicher Gossenzwerg die Angelegenheit in ihre Hände genommen. Sie warf sich in das Durcheinander, ergriff die beiden Kämpfer, schlug ihre Köpfe zusammen und ließ sie auf den Boden fallen. Die anderen, die die beiden angefeuert hatten, verstummten unverzüglich, und die Frau wendete sich zu Raistlin um. Sie hatte eine dicke Knollennase, und ihre Haare standen wild ab. Sie trug ein zerlumptes Flickenkleid, dicke Schuhe und Strümpfe, die an den Knöcheln zerrissen waren. Aber sie schien ein Anführer der Gossenzwerge zu sein, denn alle betrachteten sie mit Respekt. Der Grund dafür konnte auch in dem riesigen schweren Sack liegen, der über ihre Schulter hing. Der Sack schien für sie von ungeheurer Wichtigkeit zu sein. Wenn einer der Gossenzwerge versuchte, ihn zu berühren, wirbelte sie herum und schlug ihn ins Gesicht.
»Korridor führt zu große Herren«, sagte sie und nickte in die östliche Richtung.
»Danke, meine Gute«, sagte Raistlin und berührte ihre Wange. Er sprach einige Worte: »Tan-tago, musalah.«
Die Gossenzwergin sah fasziniert zu ihm auf. Dann seufzte sie bewundernd auf.
»Erzähl mir, Kleine«, sagte Raistlin. »Wie viele Herren?« Die Gossenzwergin runzelte die Stirn und hob dann eine schmuddelige Hand. »Einer«, sagte sie und hielt einen Finger hoch. »Und einer, und einer, und einer.« Triumphierend sah sie Raistlin mit vier erhobenen Fingern an und sagte: »Zwei.« »Ich fange an, mit Flint einer Meinung zu sein«, knurrte Sturm. »Pssst«, machte Tanis. Gerade in dem Moment hörte das kreischende Geräusch auf. Die Gossenzwerge blickten unruhig in den Korridor, als in der Stille wieder das rauhe knackende Geräusch zu hören war.
»Was ist das für ein Lärm?« fragte Raistlin seine verzauberte Bewunderin.
»Peitsche«, antwortete sie gleichgültig. Sie griff mit ihrer schmutzigen Hand nach Raistlins Gewand und zog ihn zum östlichen Ende des Korridors. »Herren sind sauer. Wir gehen.« »Was macht ihr für die Herren?« fragte Raistlin und hielt sie zurück.
»Wir gehen. Du siehst.« Die Gossenzwergin zog wieder an ihm. »Wir unten. Sie oben. Unten. Oben. Unten. Oben. Komm. Du gehst. Wir gehen unten.«
Raistlin wurde von den Aghar fast fortgetragen, sah zu Tanis zurück und gab ihm Zeichen. Tanis signalisierte Flußwind und Flint, und alle folgten den Gossenzwergen. Jene, die Raistlin verzaubert hatte, blieben dicht bei ihm, während die anderen vorliefen, als die Peitsche wieder knallte. Das kreischende Geräusch fing wieder an und wurde immer lauter. Die Gossenzwergin strahlte bei dem Geräusch. Sie und die anderen hielten an. Einige von ihnen lümmelten sich an die schleimigen Wände, andere ließen sich wie Säcke auf den Boden fallen. Die Frau blieb neben Raistlin stehen und hielt den Saum seines Ärmels in ihrer kleinen Hand. »Was ist das?« fragte er. »Warum haben wir angehalten?«
»Wir warten. Noch nicht an der Reihe«, informierte sie ihn. »Was werden wir machen, wenn wir an der Reihe sind?« fragte er geduldig.
»Unten gehen«, antwortete sie und himmelte ihn bewundernd an.