Das Licht aus einer Spalte an der Höhlendecke tänzelte auf der Wasseroberfläche.
»Andere Seite Großer Platz«, erklärte Bupu.
Die Gefährten hielten vor dem Schatten eines zerfallenen Gebäudes. Alle hatten den gleichen Gedanken: Der Platz bot in weitem Umkreis nicht den allerkleinsten Schutz, nichts, wo sie sich verstecken konnten.
Bupu, die sorglos weitergetrottet war, stellte plötzlich fest, daß ihr nur noch die Gossenzwerge folgten. Sie sah sich irritiert um. »Ihr kommt - Großbulp dieser Weg.«
»Sieh mal!« Goldmond ergriff Tanis' Arm.
Auf der anderen Seite des riesigen Platzes standen hohe Marmorsäulen, die ein Steindach trugen. Die Nebel lösten sich, und Tanis konnte hinter den Säulen einen Hof erkennen. Hinter dem Hof wiederum hoben sich die dunklen Konturen hoher, kuppelförmiger Gebäude ab. Die Nebel schlössen sich wieder. Obwohl dem Zerfall und der Zerstörung anheimgefallen, mußte dieses Gebilde einst der schönste Platz in Xak Tsaroth gewesen sein.
»Der Königspalast«, bestätigte Raistlin hustend.
»Pssst!« mahnte Goldmond. »Siehst du nicht? Nein, warte...« Einen Moment lang konnten die Gefährten überhaupt nichts erkennen. Dann verzog sich der Nebel. Die Gefährten schraken in einen dunklen Türeingang zurück. Die Gossenzwerge hielten mitten auf dem Platz inne, wirbelten herum und rannten zurück, um sich hinter Raistlin zu verkriechen. Bupu spähte unter dem Ärmel des Magiers vor zu Tanis. »Der Drache«, sagte sie. »Willst du?«
Es war der Drache.
Geschmeidig und schwarz glänzend, die ledernen Flügel an die Seiten gelegt, glitt Khisanth unter dem Dach hervor. Seine Vorderklauen klapperten auf den Marmorstufen, als er stehenblieb und mit seinen strahlendroten Augen in den Nebel blickte. Seine schwarzen Beine und sein Schwanz waren nicht zu sehen. Ein unterwürfiger Drakonier ging neben ihm. Die beiden waren offensichtlich in eine Unterhaltung vertieft. Khisanth war wütend. Der Drakonier brachte ihm beunruhigende Neuigkeien - es war unmöglich, daß einer der Fremden seinen Angriff am Brunnen überlebt hatte! Aber nun berichtete der Hauptmann seiner Wache von Fremden in der Stadt! Fremde, die seine Streitkräfte mit Geschick und Mut angegriffen hatten, Fremde, die einen braunen Stab bei sich trugen, dessen Beschreibung jedem Drakonier, der in diesem Teil des Kontinents diente, bekannt war.
»Ich kann deinem Bericht keinen Glauben schenken! Niemand würde mir entkommen.« Khisanths Stimme war sanft, fast schnurrend, trotzdem zitterte der Drakonier. »Sie hatten den Stab nicht bei sich. Ich hätte seine Gegenwart gespürt. Und diese Eindringlinge befinden sich immer noch in den oberen Kammern? Bist du sicher?«
Der Drakonier schluckte und nickte. »Es gibt keinen Weg nach unten, Hoheit, nur mit dem Aufzug.«
»Es gibt andere Wege, Echse«, schnarrte Khisanth. »Diese erbärmlichen Gossenzwerge kriechen hier überall wie Würmer herum. Die Eindringlinge haben also den Stab, und sie versuchen, in den unteren Teil der Stadt zu kommen. Das kann nur eins bedeuten – sie sind hinter den Scheiben her! Wie haben sie davon erfahren?« Der Drache warf seinen Kopf in alle Richtungen, als ob er jene durch den Nebel sehen könnte, die seine Pläne gefährdeten. Aber der Nebel wurde immer dichter. Khisanth fauchte irritiert. »Der Stab! Dieser elende Stab! Verminaard hätte mit seinen klerikalen Kräften, mit denen er sich doch immer so brüstet, dies voraussehen müssen, dann hätte der Stab vernichtet werden können. Aber nein, er ist mit seinem Krieg beschäftigt, während ich hier in dem feuchten Grab dieser verdammten Stadt verkümmere.« Khisanth kaute nachdenklich an einer Kralle.
»Du könntest die Scheiben zerstören«, schlug der Drakonier mutig vor.
»Dummkopf, das haben wir doch versucht!« höhnte Khisanth. Er hob seinen Kopf. »Nein, es ist zu gefährlich, hier länger zu bleiben. Wenn diese Eindringlinge das Geheimnis kennen, dann wissen auch andere davon. Die Scheiben müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. Informiere Lord Verminaard, daß ich Xak Tsaroth verlasse. Ich werde in Fax Tharkas auf ihn stoßen und die Eindringlinge zum Verhör mitbringen.« »Lord Verminaard informieren?« fragte der Drakonier entsetzt. »Dann nicht«, antwortete Khisanth sarkastisch. »Wenn du auf dieser Farce bestehst, dann bitte meinen Lord um Erlaubnis. Vermutlich hast du die meisten Soldaten in den oberen Teil geschickt.« »Ja, Hoheit.« Der Drakonier verbeugte sich.
Khisanth überdachte noch einmal die Angelegenheit.
»Vielleicht bist du doch nicht so ein Idiot«, sinnierte er. »Hier unten habe ich alles unter Kontrolle. Konzentriere dich auf die Suche im oberen Teil der Stadt. Wenn du die Eindringlinge findest, bringe sie unverzüglich zu mir. Verletzt sie nicht mehr als notwendig, wenn ihr sie überwältigt. Und geh mit dem Stab vorsichtig um!«
Der Drakonier fiel vor dem Drachen auf die Knie, der höhnisch aufschnaubte und sich dann in die dunklen Schatten zurückzog, aus denen er gekommen war.
Der Drakonier rannte die Treppe hinunter, wo er auf weitere Kreaturen traf, die aus dem Nebel auftauchten. Nach einem kurzen gedämpften Austausch in ihrer Sprache marschierten die Drakonier in die nördliche Straße. Sie gingen lässig, lachten über irgendeinen Witz und waren bald im Nebel verschwunden.
»Sie wirken nicht gerade besorgt«, sagte Sturm.
»Nein«, stimmte Tanis bitter zu. »Sie glauben, sie haben uns.« »Machen wir uns doch nichts vor, Tanis. Sie haben recht«, sagte Sturm. »Unser Plan hat einen gewaltigen Haken. Wenn wir uns einschleichen, ohne daß der Drache das mitbekommt, und wenn wir die Scheiben finden – müssen wir immer noch aus dieser verfluchten Stadt hinaus, in der Drakonier auf allen oberen Ebenen herumkriechen.«
»Ich habe dich zuvor gefragt, und ich frage dich jetzt noch einmal«, antwortete Tanis. »Hast du einen besseren Plan?« »Ich habe einen besseren Plan«, meldete sich Caramon schroff zu Wort. »Faß das nicht als Respektlosigkeit auf, Tanis, denn wir alle wissen, wie Elfen über das Kämpfen denken.« Der große Mann zeigte auf den Palast. »Offensichtlich lebt dort der Drache. Laßt uns ihn hervorlocken, so wie wir es geplant haben, nur daß wir ihn bekämpfen, anstatt uns wie Diebe einzuschleichen. Wenn der Drache erledigt ist, kommen wir an die Scheiben.«
»Mein lieber Bruder«, flüsterte Raistlin, »deine Stärke liegt in deinem Schwertarm, aber nicht in deinem Kopf. Tanis ist weise, so wie der Ritter sagte, als wir dieses kleine Abenteuer begannen. Du würdest gut daran tun, auf ihn zu hören. Was weißt du über den Drachen, mein Bruder? Du hast doch die Wirkung seines tödlichen Atems gesehen.« Raistlin wurde von einem Hustenanfall überwältigt. Er zog ein Tuch aus seinem Ärmel. Tanis sah, daß das Tuch blutbefleckt war.
Nach einem Moment fuhr Raistlin fort. »Du könntest dich vielleicht verteidigen und vielleicht auch gegen die scharfen Krallen und Fänge und den aufpeitschenden Schwanz angehen, der diese Säulen umreißen kann. Aber wie willst du dich, lieber Bruder, gegen seine Magie verteidigen? Er könnte dich verzaubern, so wie ich meine kleine Freundin verzaubert habe. Er könnte dich mit einem einzigen Wort in Schlaf versetzen und dich dann töten, während du süß träumst.«
»Ist ja schon gut«, murrte Caramon verdrossen. »Ich wußte nichts darüber. Verdammt, wer weiß denn schon etwas über diese Ungeheuer!«
»In Solamnia kennt man viele Legenden über Drachen«, sagte Sturm leise.
Er will auch den Drachen bekämpfen, stellte Tanis fest. Er denkt an Huma, den vollkommenen Ritter, genannt Drachentöter.
Bupu zog an Raistlins Robe. »Komm. Du gehst. Keine Herren mehr. Keine Drache mehr.« Sie und die anderen Gossenzwerge patschten wieder über den Platz.