»Führen!« Der große Phudge verlor einen Moment lang die Fassung und kroch noch tiefer in seine Roben. »Nicht führen! Großbulp ist nicht entbehrlich. Leute brauchen mich!« »Nein, nein. Ich meinte nicht führen«, verbesserte sich Tanis hastig. »Wenn du eine Karte hättest oder jemanden holen könntest, der uns den Weg zeigt.«
»Karte!« Phudge wischte den Schweiß mit dem Ärmel seiner Robe weg. »Hättest du zuerst sagen sollen. Karte. Ja. Ich lasse Karte holen. In der Zwischenzeit eßt ihr. Gäste von Großbulp. Wachen, führt sie in den Speisesaal!«
»Nein, vielen Dank«, sagte Tanis höflich, unfähig, die anderen anzusehen. Sie waren auf ihrem Weg zum Großbulp bereits am Speisesaal vorbeigekommen. Der Geruch allein hatte schon ausgereicht, selbst Caramon den Appetit zu verderben. »Wir haben selbst genug Proviant«, redete Tanis weiter. »Wir würden uns jedoch gern ausruhen, um unsere weiteren Pläne zu besprechen.«
»Sicher.« Der Großbulp rutschte nach vorn. Zwei seiner Wachen eilten herbei, um ihm vom viel zu hohen Thron zu helfen. »Geht zurück in Wartesaal. Setzt euch. Eßt. Redet. Ich hole Karte. Vielleicht erzählt ihr Phudge Pläne?«
Tanis blickte schnell zum Gossenzwerg und sah die schielenden Augen vor List und Tücke blitzen. Den Halb-Elf überlief es plötzlich eiskalt. Ihm wurde klar, daß dieser Gossenzwerg alles andere als ein Tölpel war. Tanis wünschte sich jetzt, sich genauer mit Flint beraten zu haben. »Unsere Pläne sind noch nicht ausgereift, Majestät«, entgegnete der Halb-Elf. Der Großbulp wußte es besser. Vor langer Zeit hatte er ein Loch durch die Wand des Wartesaals bohren lassen, um seine Untertanen belauschen zu können, während sie auf eine Audienz warteten. Von daher wußte er bereits eine Menge über die Pläne der Gefährten und ließ das Thema fallen. Die Anrede mit »Majestät« hatte vielleicht etwas damit zu tun: Noch nie hatte der Großbulp etwas so Passendes gehört.
»Majestät«, wiederholte Phudge und seufzte vor Vergnügen. Der Großbulp winkte gnädig mit seiner schmutzigen Hand, und die Gefährten verließen sich verbeugend den Raum. Großbulp Phudge I stand einen Augenblick neben seinem Thron und lächelte freundlich, bis seine Gäste fort waren. Dann veränderte sich seine Miene, und sein Lächeln wurde so gerissen und hinterhältig, daß seine Wachen voll eifriger Vorfreude näher rückten. »Du«, sagte er zu einer Wache. »Geh zum Schlafraum. Hole die Karte und gib sie den Dummköpfen.«
Die Wache salutierte und rannte davon. Die andere Wache blieb dicht bei ihm und wartete mit offenem Mund auf weitere Befehle. Phudge blickte sich um, dann zog er den Wächter dichter heran und überlegte genau, wie der nächste Befehl zu formulieren war. Er brauchte einige Helden, und wenn er seine eigenen schaffen mußte, egal um was für einen Abschaum es sich handelte, dann würde er es tun. Falls sie sterben würden, war es kein großer Verlust. Sollte es ihnen gelingen, den Drachen zu töten, um so besser. Die Gossenzwerge würden das bekommen, was - für sie - wertvoller war als alle schönen Steine auf Krynn: die Rückkehr zu ihren süßen friedlichen Tagen der Freiheit!
Phudge beugte sich hinüber und flüsterte der Wache ins Ohr: »Du gehst zum Drachen. Bestelle ihm die besten Grüße von Seiner Majestät Großbulp Phudge I und erzähle ihm...«
20
Großbulps Karte. Ein Zauberbuch von Fistandantilus
Ich traue diesem kleinen Bastard nicht über den Weg«, knurrte Caramon.
»Ich auch nicht«, sagte Tanis leise. »Aber welche Wahl haben wir? Wir haben zugestimmt, ihm den Schatz zu bringen. Er hat nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen, wenn er uns betrügt.« Sie saßen auf dem Boden des Wartesaals, einem schmutzigen Vorraum zum Thronsaal. Die Dekorationen in diesem Zimmer waren genauso vulgär wie im anderen. Die Gefährten waren nervös und zwangen sich, etwas zu essen. Raistlin weigerte sich zu essen. Er hatte sich etwas abseits von den anderen niedergelassen und trank seine seltsame Kräutermischung, die seinen Husten linderte. Dann wickelte er sich in sein Gewand und streckte sich mit geschlossenen Augen aus. Bupu saß neben ihm und schmatzte irgend etwas aus ihrem Sack. Als Caramon zu seinem Bruder ging, stellte er entsetzt fest, daß ein Schwanz mit einem Schlürfer in ihrem Mund verschwand. Flußwind saß für sich allein da. Er nahm nicht an der Unterhaltung teil, als die Freunde wieder einmal ihre Pläne besprachen. Der Barbar starrte mißmutig auf den Boden. Als er eine leichte Berührung an seinem Arm spürte, hob er nicht einmal den Kopf. Goldmond kniete sich mit blassem Gesicht zu ihm. Sie versuchte zu sprechen, ihre Stimme versagte, und sie räusperte sich.
»Wir müssen reden«, sagte sie in ihrer Sprache.
»Ist das ein Befehl?« fragte er bitter.
Sie schluckte. »Ja«, hauchte sie.
Flußwind erhob sich und ging zu einem Wandteppich hinüber. Er sah Goldmond nicht an, noch sagte er irgend etwas. Sein Gesicht war eine ernste Maske, aber dahinter konnte Goldmond den verzehrenden Schmerz in seiner Seele erkennen. Sie legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. »Vergib mir«, sagte sie leise.
Flußwind sah sie erstaunt an. Sie stand vor ihm, den Kopf gesenkt, eine fast kindliche Scham in ihrem Gesicht. Er streichelte das silbergoldene Haar der Frau, die er mehr liebte als sein Leben. Er spürte ihr Zittern bei seiner Berührung, und sein Herz schmerzte vor Liebe. Er fuhr mit seiner Hand von ihrem Kopf zu ihrem Hals, zog sie sanft und zart an seine Brust und hielt sie plötzlich fest in seine Arme gedrückt. »Ich habe dich noch niemals solche Worte sagen hören«, sagte er und lächelte, da er wußte, sie konnte ihn nicht sehen. »Ich habe noch nie so etwas gesagt«, würgte sie, ihre Wange an sein Lederhemd gepreßt. »O mein Geliebter, ich bin trauriger, als ich es auszudrücken vermag, daß du nach Hause gekommen bist zu der Tochter des Stammeshäuptlings und nicht zu Goldmond. Aber ich hatte soviel Angst.«
»Nein«, flüsterte er. »Ich bin es, der um Vergebung bitten muß.« Er wischte mit seiner Hand ihre Tränen weg. »Mir war nicht klar, was du durchgemacht hast. Ich habe nur an mich gedacht und an die Gefahren, denen ich gegenüberstand. Ich wünschte mir, du hättest mir davon erzählt, meine Liebste.« »Ich wünschte, du hättest mich gefragt«, erwiderte sie und sah ihn ernst an. »Ich bin schon so lange die Tochter des Stammeshäuptlings, daß ich nicht mehr anders sein kann. Es ist meine Stärke. Es gibt mir Mut, wenn ich Angst habe. Ich glaube nicht, daß ich davon lassen kann.«
»Ich will nicht, daß du davon läßt.« Er lächelte sie an und strich über ihr Gesicht. »Ich habe mich in die Tochter des Stammeshäuptlings verliebt, als ich dich das erste Mal sah. Erinnerst du dich? Bei den zu deinen Ehren abgehaltenen Spielen.«
»Du hast dich geweigert, dich vor mir zu verbeugen, um meinen Segen entgegenzunehmen«, sagte sie. »Du hast die Führerschaft meines Vaters anerkannt, aber mich als Göttin abgelehnt. Du sagtest, Menschen könnten nicht aus anderen Menschen Götter machen.« Ihre Augen sahen viele Jahre zurück. »Wie groß und stolz und schön du warst, als du von uralten Göttern sprachst, die für mich damals nicht existierten.« »Und wie wütend du warst«, erinnerte er sich, »und wie wunderschön! Deine Schönheit allein war ein Segen für mich. Ich brauchte keinen anderen. Du wolltest mich von den Spielen ausschließen.«
Goldmond lächelte traurig. »Du dachtest, ich wäre zornig gewesen, weil du mich vor dem Volk beschämt hättest, aber das war es nicht.«
»Nein? Was war es dann, Tochter des Stammeshäuptlings?« Sie errötete, aber dann richtete sie ihre Augen auf ihn. »Ich war zornig, weil ich wußte, daß ich einen Teil von mir verloren hatte, als du vor mir gestanden und dich geweigert hast, vor mir auf die Knie zu fallen, und daß ich nie wieder ganz werden würde, solange du nicht diesen Teil beanspruchen würdest.« Als Antwort drückte der Barbar sie eng an sich. »Flußwind«, sagte sie schluckend, »die Tochter des Stammeshäuptlings ist immer noch da. Ich glaube nicht, daß sie jemals gehen wird. Aber du mußt wissen, daß sich Goldmond dahinter verbirgt, und falls diese Reise jemals zu Ende geführt wird und wir endlich Frieden gefunden haben, wird Goldmond dir für immer gehören, und wir werden die Tochter des Stammeshäuptlings verscheuchen.«