Ein Klopfen an der Tür ließ alle nervös aufblicken. Ein Gossenzwerg stolperte in den Raum. »Karte«, sagte er und warf Ta-nis ein zusammengeknülltes Stück Papier zu.
»Vielen Dank«, sagte der Halb-Elf ernst. »Und richte dem Großbulp unseren Dank aus.«
»Seiner Majestät dem Großbulp«, verbesserte die Wache mit ängstlichem Blick auf die mit Wandteppichen verkleidete Wand. Ungeschickt knicksend verschwand er in den Gemächern des Großbulps. Tanis breitete die Karte aus. Alle, selbst Flint, versammelten sich davor. Nach einem Blick darauf schnaufte der Zwerg jedoch verächtlich und verzog sich wieder. Tanis lachte enttäuscht. »Das hätten wir wissen müssen. Ich frage mich, ob sich der große Phudge erinnert, wo der ›große geheime Raum‹ ist.«
»Natürlich nicht.« Raistlin richtete sich auf und öffnete seine seltsam goldenen Augen. »Darum ist er nie wieder zurückgekehrt. Aber einer von uns weiß, wo die Höhle des Drachen liegt.« Alle folgten seinem Blick.
Bupu sah sie trotzig an. »Stimmt. Ich weiß«, sagte sie schmollend. »Ich kenne geheimen Ort. Ich war da, fand schöne Steine. Aber nicht Großbulp gesagt!«
»Wirst du es uns erzählen?« fragte Tanis. Bupu sah Raistlin an. Er nickte.
»Ich erzähle«, murmelte sie. »Gib Karte.«
Als Raistlin sicher war, daß die Aufmerksamkeit der anderen von der Karte in Anspruch genommen war, rief er seinen Bruder zu sich. »Bleibt es bei dem Plan?« flüsterte der Magier.
»Ja.« Caramon runzelte die Stirn. »Und doch gefällt er mir nicht. Ich sollte mit dir gehen.«
»Unsinn«, zischte Raistlin. »Du würdest mir nur im Weg stehen!« Dann fügte er sanfter hinzu. »Ich werde mich vorsehen, das verspreche ich dir.« Er legte seine Hand auf den Arm seines Bruders und zog ihn dichter zu sich. »Außerdem« – der Magier blickte sich um – »gibt es etwas, was du für mich tun mußt, mein Bruder. Du mußt mir etwas aus der Höhle des Drachen mitbringen.«
Raistlins Berührung war ungewöhnlich warm, seine Augen brannten. Caramon wollte sich verlegen zurückziehen, denn er bemerkte etwas, das er seit den Türmen der Erzmagier nicht mehr bei seinem Bruder gesehen hatte, aber Raistlins Hand hielt ihn umklammert.
»Was ist es?.« fragte Caramon widerstrebend.
»Ein Zauberbuch!« flüsterte Raistlin.
»Also darum wolltest du unbedingt nach Xak Tsaroth!« sagte Caramon. »Du wußtest, das Zauberbuch würde hier sein.« »Ich las vor Jahren darüber. Ich wußte, daß es vor der Umwälzung in Xak Tsaroth war, alle aus meinem Orden wußten es, aber wir nahmen an, daß es mit der Stadt zerstört wurde. Als ich herausfand, daß Xak Tsaroth nicht völlig zerstört war, wurde mir klar, daß auch das Buch überlebt haben könnte.« »Woher weißt du, daß es sich in der Höhle befindet?« »Ich weiß es nicht, ich vermute es einfach. Für Magier ist dieses Buch Xak Tsaroths größter Schatz. Du kannst dich darauf verlassen, wenn der Drache es gefunden hat, dann wird er es auch anwenden!«
»Und du willst, daß ich es dir hole«, sagte Caramon langsam. »Wie sieht es aus?«
»Wie mein Zauberbuch, außer daß das weiße Pergament in nachtblaues Leder gebunden ist, mit silbernen Runen auf dem Einband. Wenn man es berührt, fühlt es sich eiskalt an.« »Was bedeuten die Runen?«
»Das wirst du nicht wissen wollen...«, flüsterte Raistlin. »Wem gehörte das Buch?« fragte Caramon argwöhnisch.
Raistlin schwieg, seine goldenen Augen waren geistesabwesend, als ob er etwas suchen würde, sich an etwas lang Vergessenes erinnern wollte. »Du hast nie von ihm gehört, mein Bruder«, flüsterte er schließlich so leise, daß Caramon näher rükken mußte. »Jedoch war er einer der größten meines Ordens. Sein Name war Fistandantilus.«
»So wie du das Zauberbuch beschreibst...«, Caramon zögerte, weil er sich vor Raistlins Antwort fürchtete. Er schluckte und begann noch einmal. »Dieser Fistandantilus - trug er die Schwarze Robe?« Er konnte den durchdringenden Blick seines Bruders nicht ertragen.
»Frag nicht weiter!« zischte Raistlin. »Du bist genauso schlecht wie die anderen! Wie kann mich einer von euch überhaupt verstehen!« Als er den schmerzlichen Blick seines Bruders sah, seufzte der Magier. »Vertraue mir, Caramon. Es ist kein besonders mächtiges Zauberbuch – im Grunde ist es eines der frühen Werke des Magiers. Er hat es in jungen Jahren geschrieben, in der Tat sehr jung«, murmelte Raistlin und starrte weg. Dann blinzelte er und sagte lebhafter: »Aber es wird nichtsdestotrotz wertvoll für mich sein. Du mußt es holen! Du mußt...« Er hustete wieder.
»Sicher, Raist«, versprach Caramon und beruhigte seinen Bruder. »Reg dich nicht auf. Ich werde es finden.«
»Gut, Caramon. Hervorragend, Caramon«, wisperte Raistlin, als er wieder sprechen konnte. Er sank in seine Ecke zurück und schloß die Augen. »Jetzt laß mich ein wenig ausruhen. Ich muß mich vorbereiten.«
Caramon erhob sich und beobachtete einen Moment lang seinen Bruder, dann wandte er sich ab und stolperte beinahe über Bupu, die hinter ihm stand und ihn argwöhnisch mit aufgerissenen Augen anstarrte. »Was war denn los?« fragte Sturm barsch, als Caramon sich wieder zur Gruppe gesellte.
»Oh, nichts«, stammelte der Krieger und errötete schuldbewußt. Sturm warf Tanis einen beunruhigten Blick zu. »Was ist denn, Caramon?« fragte Tanis und sah den Kämpfer an, während er die eingerollte Karte in seinem Gürtel verstaute. »Etwas nicht in Ordnung?«
»Nnnein...«, stotterte Caramon. »Es ist nichts. Ich... ich habe versucht, Raistlin zu überreden, daß ich mit ihm gehe. Er sagte jedoch, ich würde ihm nur im Weg stehen.«
Tanis studierte Caramon aufmerksam. Er wußte, daß er die Wahrheit sagte, aber Tanis wußte auch, daß es nicht die ganze Wahrheit war. Caramon würde freudig seinen letzten Blutstropfen für jeden Gefährten vergießen, aber Tanis vermutete, daß er auf Raistlins Befehl auch alle verraten würde. Caramon sah Tanis an und bat ihn stumm, keine weiteren Fragen zu stellen.
»Er hat recht, weißt du, Caramon«, sagte Tanis schließlich und klopfte ihm auf die Schulter. »Raistlin wird nicht in Gefahr geraten. Bupu ist bei ihm. Sie wird ihn zurückbringen. Er muß nur eines seiner hervorragenden Feuerwerke heraufbeschwören, damit der Drache seine Höhle verläßt. Er wird längst verschwunden sein, wenn der Drache zurückkommt.« »Sicher«, sagte Caramon und zwang sich zu einem Lächeln. »Außerdem brauchst du mich.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Tanis ernst. »Sind alle bereit?« Die Gefährten erhoben sich stumm und grimmig. Raistlin trat zu ihnen, seine Kapuze über das Gesicht gezogen, die Hände in seiner Robe verborgen. Um den Magier war eine Aura, undefinierbar, beängstigend - eine von ihm geschaffene Aura der Macht. Tanis räusperte sich.
»Wir werden bis fünfhundert zählen«, sagte Tanis zu Raistlin. »Dann gehen wir los. Der auf der Karte markierte ›geheime Ort‹ ist eine Falltür in einem nicht weit entfernten Gebäude, wie unsere kleine Freundin sagt. Von ihr führt ein Tunnel unterhalb der Stadt bis zur Höhle des Drachen, ungefähr dort, wo wir ihn heute gesehen haben. Mach dein Ablenkungsmanöver auf dem Platz, dann komm zurück. Wir treffen uns hier, geben dem Großbulp seinen Schatz und bleiben hier bis zur Nacht. Sobald es dunkel ist, verschwinden wir.«
»Ich verstehe«, sagte Raistlin ruhig.
Ich wünschte, ich würde auch verstehen, dachte Tanis bitter. Ich wünschte, ich würde verstehen, was in dir vorgeht, Magier. Aber der Halb-Elf sagte nichts.
»Gehen jetzt?« fragte Bupu und sah Tanis ängstlich an. »Wir gehen jetzt«, antwortete Tanis.
Raistlin schlich sich aus der düsteren Gasse und bewegte sich schnell auf die zum Süden führende zu. Er bemerkte kein Lebenszeichen. Es war, als ob alle Gossenzwerge vom Nebel verschluckt worden wären. Er fand diesen Gedanken beunruhigend und hielt sich im Schatten. Der zerbrechliche Magier konnte sich im Notfall fast geräuschlos bewegen. Er hoffte nur, seinen Husten unter Kontrolle zu halten. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach, wenn er die Kräutermischung trank, deren Rezept er von Par-Salian erhalten hatte - eine Art Entschuldigung vom großen Hexenmeister für das Trauma, das der junge Magier erlitten hatte. Aber die Wirkung der Mischung hielt nicht lange an.