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Bupu spähte hinter seinem Gewand hervor, ihre runden schwarzen Augen blinzelten die Straße hinunter, die nach Osten zum Großen Platz führte. »Niemand«, sagte sie und zog an seinem Gewand. »Wir gehen.«

Niemand - dachte Raistlin besorgt. Das ergab keinen Sinn. Wo waren die Gossenzwerge? Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas schief lief, aber es war keine Zeit mehr umzukehren – Tanis und die anderen waren schon auf dem Weg zum geheimen Tunneleingang. Der Magier lächelte bitter. Dieses ganze Unternehmen schien sich als Torheit herauszustellen. Wahrscheinlich würden sie alle in dieser entsetzlichen Stadt umkommen. Bupu zerrte wieder an seinem Gewand. Er zuckte zusammen, zog seine Kapuze über das Gesicht, und dann rannten er und Bupu in die in Nebel getauchte Straße.

Zwei Gestalten in Rüstungen lösten sich aus einem dunklen Türeingang und schlichen schnell hinter Raistlin und Bupu her. »Hier ist es«, Tanis öffnete eine halbvermoderte Tür und spähte hindurch. »Es ist dunkel hier. Wir brauchen Licht.« Caramon entzündete eine der Fackeln, die sie sich vom Großbulp ausgeliehen hatten. Der Krieger überreichte Tanis eine und zündete dann noch eine für sich und für Flußwind an. Tanis trat durch die Tür und fand sich sofort bis zu den Knöcheln in Wasser stehen. Er hielt die Fackel hoch und sah sich um. An den Wänden des verwüsteten Raumes sickerte Wasser herunter. In der Mitte des Raumes bildete es einen Wirbel und verschwand dann in irgendwelchen Spalten. Tanis watete zur Mitte und hielt seine Fackel dicht ans Wasser.

»Hier, ich kann es sehen«, sagte er, als die anderen ihm folgten. Er zeigte auf eine Falltür im Boden, an der ein kaum sichtbarer eiserner Ring befestigt war. »Caramon?« Tanis richtete sich auf.

»Pah!« machte Flint. »Wenn ein Gossenzwerg diese Tür öffnen kann, dann kann ich es erst recht. Geht mal zur Seite.« Der Zwerg stieß alle weg, tauchte seine Hand ins Wasser und versuchte, die Tür zu heben. Nach einem Moment des Schweigens ächzte Flint, sein Gesicht war hochrot. Er hielt inne, richtete sich keuchend auf, dann versuchte er es noch einmal. Die Tür bewegte sich nicht.

Tanis legte seine Hand auf die Schulter des Zwerges. »Flint, Bupu sagte, daß sie nur in der Trockenzeit hierherkommt. Du versuchst, das halbe Neumeer mit der Tür zu heben.«

»Nun« – der Zwerg keuchte und schnaubte – »warum hast du das nicht gleich gesagt? Dann soll der große Ochse sein Glück versuchen.«

Caramon trat heran. Er griff ins Wasser und hob und stemmte. Seine Schultermuskeln spannten sich, und die Adern traten hervor. Man hörte ein saugendes Geräusch, dann ließ der Unterdruck so plötzlich nach, daß der Kämpfer fast nach hinten gefallen wäre. Aus dem Raum floß Wasser ab, als Caramon die hölzerne Tür lockerte. Tanis hielt seine Fackel nach unten. Ein quadratischer Schacht klaffte im Boden, eine enge Eisenleiter verlief nach unten.

»Wie weit sind wir?« fragte Tanis.

»Vierhundertdrei«, antwortete Sturm. »Vierhundertvier.« Die Gefährten standen um die Falltür und zitterten in der eisigkalten Luft. Sie hörten nur das Wasser, das den Schacht hinuntertröpfelte. »Vierhundertfünfzig«, zählte der Ritter ruhig.

Tanis kratzte sich am Bart. Caramon hustete zweimal, als ob er sie an seinen abwesenden Bruder erinnern wollte. Flint fuchtelte unruhig mit seiner Streitaxt im Wasser. Tolpan kaute geistesabwesend an seinem Haarzopf. Goldmond, blaß, aber beherrscht, trat näher zu Flußwind, den schlichten braunen Stab in ihrer Hand. Er legte seinen Arm um sie. Nichts war schlimmer, als zu warten. »Fünfhundert«, sagte Sturm schließlich.

»Endlich!« Tolpan schwang sich auf die Eisenleiter. Tanis folgte und hielt seine Fackel hoch, um Goldmond zu leuchten, die nach ihm kam. Die anderen kletterten langsam den Schacht hinunter, der zum Abwassersystem der Stadt gehörte. Der Schacht verlief ungefähr acht Meter in die Tiefe, um dann in einem Tunnel zu enden, der sich nach Norden und Süden verzweigte. »Prüfe die Tiefe des Wassers«, warnte Tanis den Kender, als Tolpan gerade von der Leiter springen wollte. Der Kender, der auf der letzten Stufe stand, hielt seinen Hupakstab in das dunkle wirbelnde Wasser. Der Stab versank zur Hälfte. »Ein halber Meter«, sagte Tolpan fröhlich. Er ließ sich mit einem Aufplatschen fallen, dann sah er fragend zu Tanis hoch. »Diese Richtung«, Tanis zeigte nach Süden.

Tolpan hielt seinen Stab hoch und ließ sich von der Strömung treiben.

»Was ist mit dem Ablenkungsmanöver?« fragte Sturm.

Tanis hatte sich die gleiche Frage gestellt. »Wahrscheinlich werden wir hier unten nichts hören.« Er hoffte, daß das stimmen würde. »Raistlin wird durchkommen. Macht euch keine Sorgen«, sagte Caramon grimmig.

»Tanis!« Tolpan wich zurück. »Hier unten ist irgend etwas! Ich habe es an den Füßen gespürt.«

»Geh einfach weiter«, murrte Tanis, »und hoffe, daß es kein hungriger...«

Schweigend wateten sie weiter, die Fackeln flackerten an den Wänden. Mehr als einmal sah Tanis etwas nach ihm greifen, nur um dann festzustellen, daß es der Schatten von Caramons Helm oder Tolpans Hupak war.

Wenig später bog der Tunnel nach Osten ab. Die Gefährten hielten an. Unten, an einem Arm des Abwasserkanals schimmerte eine Lichtsäule. Diese markierte laut Bupu die Höhle des Drachen.

»Löscht die Fackeln!« zischte Tanis und tauchte die seine ins Wasser. Er berührte die glitschige Wand und folgte dem Kender im Dunkeln - Tolpans roter Umriß wies ihm den Weg. Hinter sich hörte er Flints Beschwerden über die Wirkung des Wassers auf sein Rheuma.

»Psst«, flüsterte Tanis, als sie sich dem Licht näherten. Sie versuchten, trotz der klirrenden Rüstungen geräuschlos zu sein. Bald standen sie vor einer schmalen Leiter, die nach oben zu einem Eisengitter führte.

»Niemand macht sich die Mühe, Bodengitter zu verriegeln.« Tolpan zog Tanis dicht zu sich, um in sein Ohr zu flüstern. »Aber ich bin sicher, daß ich es auch öffnen kann, wenn es verriegelt ist.« Tanis nickte. Er fügte nicht hinzu, daß Bupu auch in der Lage gewesen war, es zu öffnen. Die Kunst, Verriegelungen zu lösen, war der ganze Stolz des Kenders. Sie standen knietief im Wasser und beobachteten, wie Tolpan die Leiter hochkletterte. »Ich höre immer noch nichts von draußen«, murrte Sturm. »Psst!« knurrte Caramon schroff.

Das Gitter hatte einen Verschluß, den Tolpan in Sekundenschnelle öffnete. Dann schob er es geräuschlos zur Seite und spähte hinaus. Eine plötzliche Dunkelheit tat sich vor ihm auf, eine Dunkelheit, so dicht und undurchdringlich, daß sie ihn wie ein schweres Gewicht erschlug und er fast den Halt verlor. Er ließ das Gitter schnell wieder auf die Öffnung rutschen, glitt die Leiter hinunter und stieß mit Tanis zusammen.

»Tolpan?« der Halb-Elf faßte nach ihm. »Bist du es? Ich kann nicht sehen. Was ist los?«

»Ich weiß es nicht. Plötzlich ist es ganz dunkel geworden.« »Was bedeutet das, wirst du nichts sehen?« flüsterte Sturm Tanis zu. »Was ist mit deinem Elfentalent?«

»Weg«, sagte Tanis grimmig. »So wie im Düsterwald - und wie am Brunnen...«

Keiner sprach, als sie zusammengedrängt im Tunnel standen. Sie hörten nur noch ihren eigenen Atem und das von den Wänden tröpfelnde Wasser. Und oben stand der Drache - und wartete auf sie.

21

Das Opfer. Die Stadt wird zum zweiten Mal zerstört

Verzweiflung, schwärzer als die Dunkelheit, machte Tanis blind. Es war mein Plan, dachte er, die einzige Möglichkeit, um hier lebend hinauszukommen. Er war vernünftig - er hätte funktionieren müssen! Was ist falsch gelaufen? Raistlin könnte er uns verraten haben? Nein! Tanis ballte seine Faust. Nein, verdammt. Der Magier war zwar distanziert, unsympathisch, rätselhaft, aber den Gefährten gegenüber treu und zuverlässig. Er, Tanis, würde seine Hand dafür ins Feuer legen. Wo war Raistlin? Tot vielleicht. Das war jetzt egal. Sie würden alle sterben. »Tanis« – der Halb-Elf spürte einen festen Griff um seinen Arm und erkannte Sturms tiefe Stimme -, »ich weiß, was du denkst. Wir haben keine andere Wahl. Die Zeit ist knapp. Das ist unsere einzige Möglichkeit, um an die Scheiben zu kommen. Wir werden keine andere bekommen.« »Ich werde nachsehen«, sagte Tanis. Er kletterte am Kender vorbei und lugte durch das Gitter. Es war dunkel, auf magische Weise dunkel. Tanis versuchte nachzudenken. Sturm hatte recht: Die Zeit war knapp. Aber konnte er sich auf das Urteil des Ritters verlassen? Sturm wollte gegen den Drachen kämpfen! Tanis kroch die Leiter wieder hinunter. »Wir gehen«, sagte er. Plötzlich wollte er nur noch die ganze Sache hinter sich bringen, dann konnten sie nach Hause gehen. Heim nach Solace. »Nein, Tolpan.« Er hielt den Kender fest und zog ihn zurück. »Die Krieger gehen voran - Sturm und Caramon. Dann die anderen.«