Flußwind bebte, dann stand er still da. Tanis konnte sehen, wie die Adern an seinem Hals anschwollen und die Kiefermuskeln sich verkrampften. Der Halb-Elf kniff ihm in den Arm, doch der Barbar sah ihn nicht einmal an. Seine Augen hingen wie gebannt an Goldmond.
»Was soll diese Verzögerung?« fragte der Drache. »Es wird langweilig. Komm schon.«
Goldmond wandte sich von Fluß wind ab. Sie ging an Flint und Tolpan vorbei. Der Zwerg senkte seinen Kopf. Tolpan beobachtete sie mit erschrockenen Augen. Irgendwie war das nicht so aufregend, wie er es sich vorgestellt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich der Kender klein und hilflos und einsam. Es war ein entsetzlich unangenehmes Gefühl, und er dachte, daß der Tod dem vorzuziehen war.
Goldmond blieb bei Caramon stehen und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie ihm, der voller Schmerz seinen Bruder anstarrte. »Es wird schon gut werden.« Caramon schluckte und nickte. Und dann näherte sich Goldmond Sturm. Plötzlich rutschte sie aus, als ob das Entsetzen vor dem Drachen sie überwältigt hätte. Der Ritter fing sie auf und hielt sie fest.
»Komm mit mir, Sturm«, flüsterte Goldmond, als er seinen Arm um sie legte. »Du mußt schwören, das zu tun, was ich dir befehle, gleichgültig, was passiert. Schwöre bei deiner Ehre als Ritter von Solamnia.«
Sturm zögerte. Goldmonds Augen, ruhig und klar, trafen seine. »Schwöre«, verlangte sie, »oder ich gehe allein.«
»Ich schwöre«, sagte er zögernd. »Ich werde gehorchen.« Goldmond seufzte dankbar. »Komm mit mir. Unterlaß jede Drohgebärde.«
Gemeinsam schritten sie auf den Drachen zu.
Raistlin lag unter der Drachenpranke, seine Augen waren geschlossen, und er bereitete sich geistig auf seinen letzten Zauber vor. Aber es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Er kämpfte mit sich, um die Unruhe aus seinen Gedanken zu vertreiben. Ich verschwende meine Kräfte - und wozu? fragte sich Raistlin bitter. Um diesen Narren aus dem Durcheinander zu helfen, in das sie sich selbst gebracht haben. Sie werden nicht angreifen, aus Furcht, mich zu verletzen – obwohl sie mich fürchten und verabscheuen. Es ergibt keinen Sinn - so wie mein Opfer keinen Sinn ergibt. Warum soll ich für sie sterben? Wenn einer es verdient hat zu leben, dann doch ich!
Du tust es nicht für sie, antwortete eine Stimme. Raistlin schreckte zusammen, versuchte, die Stimme zu erkennen. Es war eine wirkliche Stimme, eine vertraute Stimme, aber er konnte sich nicht erinnern, wem sie gehörte oder wo er sie gehört hatte. Er wußte nur, daß sie in Augenblicken großer Anspannung zu ihm sprach. Je näher der Tod kam, um so lauter wurde die Stimme.
Du nimmst dieses Opfer nicht für sie auf dich, wiederholte die Stimme. Es ist, weil du keine Niederlage verkraften kannst! Nichts hat dich je besiegt, nicht einmal der Tod...
Raistlin holte tief Luft und entspannte sich. Er verstand die Worte nicht ganz, so wie er sich auch nicht genau an die Stimme erinnern konnte. Aber nun fiel ihm mühelos der Zauberspruch ein. »Astol arakhkh um...«, murmelte er und spürte die Magie durch seinen zerbrechlichen Körper fließen. Dann unterbrach eine andere Stimme seine Konzentration, und diese Stimme war eine lebende Stimme. Er öffnete die Augen, drehte langsam seinen Kopf und starrte auf seine Gefährten. Die Stimme kam von der Frau - der Barbarenprinzessin eines ausgestorbenen Stammes. Raistlin sah auf Goldmond, die auf ihn zuging und sich dabei auf Sturms Arm stützte. Ihre geistige Stimme hatte Raistlin berührt. Er betrachtete die Frau kalt, distanziert. Seine verzerrte Sicht durch die Stundenglasaugen hatte jegliches physisches Verlangen in ihm abgetötet. Er konnte nicht die Schönheit erkennen, die Tanis und seinen Bruder so fesselte. Seine Stundenglasaugen sahen sie welken und sterben. Er fühlte keine Verbundenheit, kein Mitgefühl für sie. Er wußte, daß sie ihn bemitleidete - und dafür haßte er sie, aber sie fürchtete ihn auch. Warum also sprach sie zu ihm? Sie sagte ihm, er solle warten.
Raistlin verstand. Sie wußte, was er vorhatte, und sie sagte ihm, daß es nicht notwendig war. Sie war auserwählt worden. Sie war diejenige, die sich opfern würde.
Er beobachtete Goldmond mit seinen seltsamen goldenen Augen, als sie immer näher und näher kam, ihre Augen auf den Drachen gerichtet. Er sah Sturm feierlich neben ihr gehen, er wirkte uralt und edel, wie der alte Huma persönlich. Aber warum hatte Flußwind sie gehen lassen? Erkannte er nicht, was sie vorhatte? Raistlin warf Flußwind einen Blick zu. Ah, natürlich! Der Halb-Elf stand an seiner Seite, blaß und trauernd, und ließ zweifellos Worte wie Blut fallen. Der Barbar war genauso leichtgläubig und einfältig wie Caramon. Raistlin richtete seine Augen wieder auf Goldmond.
Nun stand sie vor dem Drachen, ihr Gesicht blaß, aber entschlossen. Neben ihr wirkte Sturm ernst und gequält und innerlich zerrissen. Goldmond hatte ihn wahrscheinlich unbedingten Gehorsam schwören lassen. Und der Ritter mußte diesen Schwur halten, um nicht seine Ehre zu verlieren. Raistlins Lippen kräuselten sich höhnisch. Der Drache sprach, und der Magier straffte sich. »Leg den Stab mit den anderen Überbleibseln menschlicher Torheit dorthin«, befahl der Drache Goldmond und neigte seinen glänzenden schuppigen Kopf zum Schatz unterhalb des Altars.
Goldmond, überwältigt von Drachenangst, bewegte sich nicht. Sie konnte nur noch auf die monströse Kreatur starren und zittern. Sturm durchsuchte mit seinen Augen den Schatz nach den Scheiben von Mishakal und versuchte seine Furcht vor dem Drachen zu bekämpfen. Er hatte nicht geahnt, daß er soviel Angst empfinden konnte. Immer wieder wiederholte er den Ritter-Kodex: »Die Ehre ist mein Leben«, und ihm war bewußt, daß nur der Stolz ihn am Weglaufen hinderte. Goldmond sah Sturms Hand zittern, sie sah sein Gesicht vor Schweiß glänzen. O Göttin, schrie sie stumm, bitte gib mir Mut! Dann stieß Sturm sie an. Sie mußte irgend etwas sagen. Sie hatte schon zu lange geschwiegen.
»Was wirst du uns für den wundersamen Stab geben?« fragte Goldmond und zwang sich, beherrscht und ruhig zu sprechen, obwohl ihre Kehle ausgedörrt war und ihre Zunge sich geschwollen anfühlte. Der Drache lachte – es war ein schrilles, häßliches Lachen. »Was ich euch geben werde?« Der Drache schlängelte seinen Kopf herum und starrte Goldmond an. »Nichts! Überhaupt nichts! Ich verhandle nicht mit Dieben. Jedoch...« Der Drache schob seinen Kopf zurück, seine roten Augen schlössen sich zu Schlitzen. Spielerisch grub er seine Pranke in Raistlins Fleisch. Der Magier zuckte zusammen, ertrug den Schmerz, ohne einen Ton von sich zu geben. Der Drache nahm die Pranke weg und hielt sie gerade so hoch, daß man das Blut von ihr tröpfeln sah. »Es wäre vorstellbar, daß die Tatsache, daß du den Stab übergibst, dir die Gunst von Lord Verminaard, dem Drachenfürsten, einbringt. Er könnte sogar geneigt sein, Gnade walten zu lassen - er ist ein Kleriker, und die haben seltsame Wertvorstellungen. Aber, daß du es weißt, Dame von Que-Shu, Lord Verminaard braucht deine Freunde nicht. Gib mir jetzt den Stab, und sie werden verschont. Zwinge mich, ihn zu nehmen - und sie werden sterben. Der Magier als erster!«
Goldmond, deren Geist gebrochen schien, sackte geschlagen in sich zusammen. Sturm trat dicht zu ihr und schien sie beruhigen zu wollen. »Ich habe die Scheiben entdeckt«, flüsterte er. Er griff ihren Arm und spürte, daß sie vor Angst zitterte. »Bist du bereit?« fragte er leise.
Goldmond hob ihren Kopf. Sie war leichenblaß, aber beherrscht und ruhig. Obwohl sie besiegt aussah, sah sie zu Sturm hoch und lächelte. In ihrem Lächeln lagen Frieden und Leid, ähnlich wie das Lächeln der Marmorgöttin. Sie sprach nicht, aber Sturm erkannte die Antwort. Er verbeugte sich unterwürfig-
»Auf daß mein Mut deinem gleich sei«, sagte er. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Leb wohl, Ritter. Sag Flußwind...« Goldmond stockte, blinzelte, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie schluckte die Worte hinunter vor Angst, sie könnte es sich anders überlegen, und wandte sich wieder dem Drachen zu, als Mishakals Stimme ihren Geist erfüllte und ihr Gebet beantwortete. Biete den Stab kühn dar! Goldmond, durchdrungen von einer inneren Kraft, hob den blauen Kristallstab.