»Dieser ganze Ort stürzt zusammen!« schrie Caramon entsetzt, während er seinen Bruder in den Armen hielt.
»Lauft! Zurück zum Tempel von Mishakal.« Tanis keuchte vor Schmerzen.
»Wieder den Göttern vertrauen, häh?« sagte Flint.
Sturm ergriff Flußwinds Arm, um ihn hochzuheben, aber der Barbar schüttelte den Kopf und schob ihn beiseite. »Meine Verletzungen sind nicht so schlimm. Ich schaffe es schon. Laß mich.« Er blieb auf dem vibrierenden Boden liegen. Tanis sah fragend zu Sturm. Der Ritter zuckte die Achseln. Für die solam-nischen Ritter war es edel und ehrenhaft, Hand an sich zu legen. Die Elfen hingegen hielten es für Gotteslästerung. Der Halb-Elf faßte den Barbaren an seinen langen dunklen Haaren und zog seinen Kopf zurück, so daß der erstaunte Mann gezwungen war, in Tanis' Augen zu schauen. »Gut so. Bleib liegen und stirb!« sagte Tanis mit zusammengepreßten Zähnen. »Beschäme ruhig deinen Häuptling! Sie zumindest hatte den Mut zu kämpfen!«
Flußwinds Augen glühten. Er packte Tanis am Handgelenk und schleuderte den Halb-Elf mit solch einer Kraft von sich, daß dieser gegen eine Mauer stolperte und vor Schmerzen aufschrie. Der Barbar erhob sich und starrte Tanis haßerfüllt an. Dann drehte er sich um und taumelte mit gebeugtem Kopf in den bebenden Korridor.
Sturm half Tanis auf die Beine, dem Halb-Elf schwindelte vor Schmerzen. Sie folgten den anderen so schnell sie konnten. Der Boden neigte sich. Als Sturm ausrutschte, fielen sie gegen eine Wand. Ein Sarkophag polterte in den Gang und verschüttete seinen schauerlichen Inhalt. Ein Schädel rollte über Tanis' Füße und erschreckte den Halb-Elf dermaßen, daß er auf die Knie fiel. Er fürchtete, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. »Geh«, versuchte er Sturm zu sagen, aber er brachte keinen Ton hervor. Der Ritter hob ihn hoch, und gemeinsam schleppten sie sich durch den staubverhangenen Korridor. Am Fuß der Stufen, dem sogenannten Pfad der Toten, wartete Tolpan auf sie.
»Die anderen?« keuchte Sturm und hustete den Staub ein. »Sind bereits im Tempel«, sagte Tolpan. »Caramon sagte mir, ich solle auf euch warten. Flint meint, der Tempel ist sicher, ein Werk der Zwerge, wißt ihr. Raistlin ist wieder bei Bewußtsein. Er sagt auch, daß es sicher ist. Fluß wind ist da. Er hat mich angesehen. Ich glaube, er hätte mich am liebsten getötet! Aber er ging die Stufen hoch...«
»In Ordnung!« sagte Tanis, um den Redefluß zu stoppen. »Genug! Laß mich los, Sturm. Ich muß mich einen Moment ausruhen, oder ich sterbe. Nimm Tolpan mit. Wir treffen uns oben. Geht schon, verdammt!«
Sturm packte Tolpan am Kragen und zog ihn die Stufen hoch. Tanis sank zurück. Schweiß ließ ihn frösteln; jeder Atemzug war eine Qual. Plötzlich stürzte der restliche Boden in der Ahnenhalle mit einem lauten, krachenden Geräusch zusammen. Der Tempel von Mishakal bebte. Tanis stolperte hoch, dann hielt er einen Moment inne. Schwach hinter sich konnte er nun das tiefe donnernde Grollen von Wassermassen hören. Das Neumeer hatte Xak Tsaroth endgültig erobert. Die zerstörte Stadt war nun begraben.
Tanis trat langsam von der Treppe in den kreisförmigen Raum. Der Aufstieg war ein Alptraum gewesen, jeder Schritt ein Wunder. Die Kammer war still, das einzige Geräusch kam vom schweren Atmen seiner Freunde, die es bis hierher geschafft hatten und zusammengebrochen waren. Auch er war am Ende seiner Kraft.
Der Halb-Elf sah sich um, um sich zu vergewissern, daß es den anderen gut ging. Sturm hatte den Rucksack mit den Scheiben abgestellt und war gegen eine Wand gesackt. Raistlin lag auf einer Bank, seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging schnell und flach. Natürlich saß Caramon neben ihm, sein Gesicht vor Sorge verdüstert. Tolpan hockte an der Säule und sah nach oben. Flint lehnte gegen eine Tür, zu erschöpft, um zu schimpfen.
»Wo ist Fluß wind?« fragte Tanis. Er sah Caramon und Sturm Blicke austauschen, dann senkten sie ihre Augen. Tanis taumelte weiter, Zorn ließ ihn die Schmerzen vergessen. Sturm erhob sich und stellte sich ihm in den Weg. »Es ist seine Entscheidung, Tanis. Es ist die Art seines Volkes, so wie mein Volk seine eigene Art hat.«
»Geh mir aus dem Weg«, sagte Tanis mit zitternder Stimme. Flint sah auf; Gram und Kummer und Leid, die sich im Gesicht des Zwergs im Laufe von mehr als hundert Jahren eingegraben hatten, ließen seinen finsteren Blick weicher erscheinen. Tanis erblickte in Flints Augen jene Weisheit, die ihn, einen unglücklichen Jungen, zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Elf, zu einer seltsamen und beständigen Freundschaft mit einem Zwerg bewegt hatte.
»Setz dich hin, Junge«, sagte Flint sanft, als ob auch er sich an die Anfänge ihrer Freundschaft erinnerte. »Wenn dein Elfenverstand nicht begreifen kann, dann höre einmal auf dein Menschenherz.« Tanis schloß die Augen, Tränen hingen an seinen Wimpern. Dann hörte er aus dem Tempel einen Aufschrei – Fluß wind. Tanis stieß den Zwerg zur Seite und riß die riesigen goldenen Türen auf. Seinen Schmerz ignorierend, eilte er mit Riesenschritten zur nächsten Tür und betrat die Kammer von Mishakal. Wieder hatte er das Gefühl von Frieden und Ruhe, aber jetzt verstärkten diese Gefühle seinen Zorn auf das, was geschehen war.
»Ich kann nicht an euch glauben!« schrie Tanis. »Was für Götter seid ihr, daß ihr immer wieder Opfer wollt? Ihr seid dieselben Götter, die die Umwälzung über die Menschen gebracht habt. Nun gut - ihr seid mächtig! Aber jetzt laßt uns in Ruhe. Wir brauchen euch nicht!« Der Halb-Elf weinte. Durch seine Tränen konnte er sehen, daß Flußwind mit einem Schwert in der Hand vor der Statue kniete. Tanis stolperte nach vorn, in der Hoffnung, den Akt der Selbstzerstörung zu verhindern. Er umrundete den Sockel der Statue und hielt wie erstarrt inne. Eine Minute lang weigerte er sich, zu glauben, was er sah; vielleicht spielten die Trauer und der Schmerz ihm etwas vor. Er hob seine Augen zu dem schönen ruhigen Gesicht der Statue und beruhigte seine verwirrten Sinne. Dann sah er wieder nach unten.
Dort lag Goldmond, schlafend, ihre Brust hob und senkte sich mit dem Rhythmus ihres ruhigen Atems. Der Stab war wie der Teil der Marmorstatue, aber Tanis sah nun, daß Goldmond um ihren Hals jenes Amulett trug, das einst die Statue geschmückt hatte.
»Jetzt bin ich eine wirkliche Klerikerin«, sagte Goldmond leise. »Ich bin eine Jüngerin von Mishakal, und ich habe die Kraft meines Glaubens, obwohl ich noch viel lernen muß. Vor allem bin ich jedoch eine Heilerin. Ich bringe das Geschenk der Heilkunst zurück.«
Sie streckte ihre Hand aus und berührte Tanis an der Stirn und flüsterte ein Gebet zu Mishakal. Der Halb-Elf spürte Frieden und Kraft durch seinen Körper fließen, die seinen Geist klärten und seine Wunden heilten.
»Jetzt haben wir also eine Klerikerin«, sagte Flint, »das ist gar nicht so übel. Aber nach allem, was wir erfahren haben, ist auch dieser Lord Verminaard ein Kleriker und zudem ein sehr mächtiger. Wir haben wohl die uralten guten Götter gefunden, aber er hat die uralten bösen Götter ein wenig schneller gefunden. Mir ist nicht klar, wie uns diese Scheiben eigentlich gegen Horden von Drachen helfen sollen.«
»Du hast recht«, erwiderte Goldmond. »Ich bin kein Kämpfer. Ich bin ein Heiler. Ich habe nicht die Macht, die Völker unserer Welt zu vereinen, um das Böse zu bekämpfen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Meine Pflicht ist es, die Person zu finden, die die Stärke und die Weisheit für diese Aufgabe hat. Ihr werde ich die Scheiben von Mishakal übergeben.«
Die Gefährten blieben lange Zeit schweigsam. Dann... »Wir müssen hier verschwinden, Tanis«, zischte Raistlin aus dem Schatten des Tempels, in dem er stand und von wo aus er durch die Tür in den Hof starrte. »Hört doch.«
Hörner. Sie alle konnten das schrille Schmettern unzähliger Hörner hören, vom Nordwind an ihre Ohren getragen.
»Die Armeen«, sagte Tanis leise. »Der Krieg hat begonnen.« Die Gefährten flohen im Zwielicht aus dem, was einmal Xak Tsaroth gewesen war. Sie marschierten gen Westen, auf das Gebirge zu. Die Luft war eisigkalt. Totes, vom Wind getragenes Laub blies in ihre Gesichter. Sie hatten sich entschlossen, nach Solace zu gehen, um ihre Vorräte aufzufrischen und Informationen zu sammeln, um sich dann zu entscheiden, wo sie einen Führer suchen sollten. Tanis hörte schon die kommenden Streitereien. Sturm sprach bereits von Solamnia, Goldmond erwähnte Haven, während Tanis selbst dachte, daß die Scheiben von Mishakal am sichersten im Elfenkönigreich aufgehoben wären.