»Was schreibt sie?« fragte Caramon.
Tanis zögerte, dann befeuchtete er seine trockenen Lippen. »Die Pflichten bei ihrem neuen Herrn halten sie fest. Sie bedauert es sehr und sendet uns allen die besten Wünsche und ihre Liebe...« Seine Kehle schnürte sich zusammen. Er hustete. »Ihre Liebe zu ihren Brüdern und zu...« Er machte eine Pause und rollte dann das Pergament zusammen. »Das ist alles.« »Liebe zu wem?« fragte Tolpan lebhaft. »Autsch!« Wütend funkelte er Flint an, der ihm auf den Fuß getreten war. Der Kender sah Tanis erröten. »Oh«, machte er und kam sich ziemlich dumm vor.
»Wißt ihr, von wem sie spricht?« fragte Tanis die Brüder. »Was für einen neuen Herrn hat sie?«
»Wer weiß schon bei Kitiara Bescheid?« Raistlin zuckte mit seinen mageren Schultern. »Wir haben sie das letzte Mal hier in diesem Wirtshaus vor fünf Jahren gesehen. Sie ist mit Sturm gen Norden gewandert. Seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört. Was den neuen Herrn betrifft, würde ich sagen, wissen wir jetzt, warum sie unsern Eid gebrochen hat: sie hat einem anderen Treue geschworen. Trotz allem ist sie Söldnerin.« »Ja«, stimmte Tanis zu. Er ließ die Rolle in ihren Behälter gleiten und sah zu Tika hinauf. »Du hast gesagt, diese Botschaft sei unter merkwürdigen Umständen angekommen. Erzähle es mir.«
»Ein Mann brachte sie heute am späten Morgen. Zumindest glaube ich, daß es ein Mensch war.« Tika schauderte. »Er war von Kopf bis Fuß in Kleider eingehüllt. Ich konnte nicht einmal sein Gesicht erkennen. Seine Stimme war zischend, und er sprach mit einem fremden Akzent. ›Überreiche dies Tanis, dem Halb-Elf en‹, sagte er. Ich antwortete ihm, daß du schon seit Jahren nicht mehr hiergewesen wärst. ›Er wird hiersein‹, sagte der Mann. Dann ging er.« Tika zuckte mit den Schultern. »Das ist alles, was ich dir sagen kann. Der alte Mann dort drüben hat ihn auch gesehen.« Sie zeigte auf einen alten Mann, der am Feuer auf einem Stuhl saß. »Du könntest ihn fragen, ob er noch etwas bemerkt hat.«
Tanis drehte sich um und erblickte den Alten, der einem schläfrigen Kind Geschichten erzählte. Flint berührte seinen Arm.
»Da kommt jemand, der dir mehr erzählen kann«, sagte der Zwerg.
»Sturm!« sagte Tanis herzlich, als er zur Tür sah.
Alle außer Raistlin wandten sich um. Der Magier versank wieder in den Schatten.
In der Tür stand eine Gestalt in voller Rüstung – auf dem Brustschild das Wappen des Ordens der Rose. Die meisten Gäste im Wirtshaus funkelten ihn finster an. Der Mann war ein solamnischer Ritter, und die Ritter von Solamnia hatten im Norden einen schlechten Ruf. Die Gerüchte über ihre Korruptheit hatten sich bis in den Süden verbreitet. Die wenigen, die Sturm als einen langjährigen früheren Bewohner von Solace erkannten, zuckten nur die Achseln und wandten sich wieder ihren Getränken /u. Jene, die ihn nicht wiedererkannten, starrten ihn weiter an. In diesen Tagen des Friedens war es mehr als ungewöhnlich, einen Ritter in voller Rüstung das Wirtshaus betreten zu sehen. Und noch ungewöhnlicher war es, einen Ritter in einer Rüstung zu sehen, die noch aus der Zeit der Umwälzung herrührte!
Sturm nahm die Blicke als Respektsbezeugung für seinen Rang entgegen. Er glättete sorgfältig seinen dicken Schnurrbart, ein uraltes Symbol der Ritter, das genauso fossil war wie seine Rüstung. Er trag den Schmuck der solamnischen Ritter mit unerschütterlichem Stolz - und er hatte den Schwertarm und die Übung, um diesen Stolz zu verteidigen. Obwohl die Leute im Wirtshaus ihn anstarrten, wagte niemand – wenn er in die ruhigen kalten Augen des Ritters gesehen hatte – zu kichern oder eine abfällige Bemerkung zu machen.
Der Ritter hielt einem hochgewachsenen Mann und einer in Pelze gehüllten Frau die Tür auf. Die Frau mußte sich bei Sturm bedankt haben, denn er verbeugte sich vor ihr in einer höfischen, altmodischen Manier, die in der neuen Welt schon lange in Vergessenheit geraten war.
»Schaut euch das an.« Caramon schüttelte bewundernd den Kopf. »Der tapfere Ritter hilft der schönen Dame. Ich frage mich, wo er die beiden aufgegabelt hat.«
»Das sind Barbaren aus den Ebenen«, erklärte Tolpan, der sich auf einen Stuhl gestellt hatte und seinem Freund zuwinkte. »Das ist die Kleidung des Que-Shu-Stammes.«
Augenscheinlich hatten die beiden Menschen der Ebenen irgendein Angebot Sturms abgelehnt, denn der Ritter verneigte sich wieder und schritt darauf durch die überfüllte Gaststube mit einer stolzen und edlen Miene, so wie er sie wohl getragen hatte, als er vom König zum Ritter geschlagen worden war. Tanis erhob sich. Sturm ging erst zu ihm und warf seine Arme um den Freund. Tanis drückte ihn fest an sich und spürte die starken, sehnigen Arme des Ritters, die ihn herzlich umfaßten. Dann gingen beide einen Schritt zurück, um sich einen kurzen Augenblick zu mustern.
Sturm hat sich nicht verändert, dachte Tanis, nur um seine traurigen Augen sind mehr Linien, mehr Grau ist in seinem braunen Haar. Der Umhang ist ein bißchen abgetragener. Die uralte Rüstung hat ein paar Dellen mehr. Aber der wallende Schnurrbart des Ritters - sein ganzer Stolz - war lang und schwungvoll wie eh und je, sein Schild strahlend poliert, seine braunen Augen wie immer herzlich, wenn er seine Freunde traf.
»Und du hast einen Bart«, sagte Sturm belustigt.
Dann wandte sich der Ritter Caramon und Flint zu, um sie zu begrüßen. Tolpan flitzte wieder davon, um mehr Bier zu besorgen, denn Tika war zu anderen Gästen fortgerufen worden. »Ich grüße dich, Ritter«, wisperte Raistlin aus seiner Ecke. Sturms Gesicht wurde feierlich, als er den anderen Zwilling erblickte. »Raistlin«, sagte er.
Der Magier zog seine Kapuze weg, so daß das Licht auf sein Gesicht fiel. Sturm war zu gut erzogen, um sein Erstaunen zu zeigen. Aber seine Augen weiteten sich. Tanis stellte fest, daß der junge Magier ein zynisches Vergnügen an der Verlegenheit seiner Freunde entwickelte.
»Kann ich dir etwas bestellen, Raistlin?« fragte Tanis. »Nein, danke«, antwortete der Magier und verschwand wieder im Schatten.
»Er ißt praktisch nichts«, sagte Caramon besorgt. »Ich glaube, er lebt von der Luft.«
»Einige Pflanzen leben von der Luft«, bemerkte Tolpan, der mit einem Krug Bier für Sturm wiedergekommen war. »Das hab' ich gesehen. Ihre Wurzeln saugen Nahrung und Wasser aus der Atmosphäre.«
»Wirklich?« Caramon bekam große Augen.
»Ich weiß nicht, wer der größere Idiot ist«, sagte Flint voller Abscheu. »Nun, wir sind alle da. Gibt es Neuigkeiten?« »Alle?« Sturm sah Tanis fragend an. »Kitiara?«
»Kommt nicht«, erwiderte Tanis mit fester Stimme. »Wir haben gehofft, daß du uns etwas sagen könntest.« »Nein.« Der Ritter runzelte die Stirn. »Wir reisten gemeinsam Richtung Norden und trennten uns, bald nachdem wir die Meerengen bei Alt-Solamnia überquert hatten. Sie wollte Verwandte ihres Vaters aufsuchen, sagte sie. Das war das letzte, was ich von ihr gesehen habe.«
»Nun, vermutlich war es das.« Tanis seufzte. »Was ist mit deinen Verwandten, Sturm? Hast du deinen Vater gefunden?« Sturm hob an zu erzählen, aber Tanis hörte seinen Geschichten über seine Reise in das Land seiner Vorfahren nur halb zu. Seine Gedanken waren bei Kitiara. Von all seinen Freunden hatte er sich am meisten nach ihr gesehnt. Nachdem er fünf Jahre lang versucht hatte, ihre dunklen Augen und ihr verschmitztes Lächeln aus seinen Gedanken zu verbannen, mußte er entdecken, daß seine Sehnsucht nach ihr mit jedem Tag zunahm. Zügellos, impulsiv, leidenschaftlich - diese Kämpferin stellte all das dar, was Tanis nicht war. Sie war aber ein Mensch, und die Liebe zwischen Menschen und Elfen mußte in einer Tragödie enden. Trotzdem konnte Tanis sie nicht mehr aus seinem Herzen reißen, so wie er auch nicht seine menschliche Hälfte aus seinem Blut herausfiltern konnte. Er riß sich aus seinen Gedanken und fing an, Sturm zuzuhören. »Ich habe Gerüchte gehört. Einige sagen, mein Vater ist tot. Andere sagen, daß er lebt.« Sein Gesicht verdunkelte sich. »Aber niemand weiß, wo er sich aufhält.«