»Woher... kennt Ihr mich, mein Herr?« fragte sie.
»Das ist nicht wichtig.« Der alte Mann lächelte sanft. »Sing für uns, Tochter des Stammeshäuptlings.«
Die Frau nahm die Laute mit sichtbar zitternden Händen entgegen. Ihr Begleiter schien flüsternd zu protestieren, aber sie hörte nicht auf ihn. Ihre Augen waren fest auf die glänzenden schwarzen Augen des alten Mannes gerichtet. Langsam, wie in Trance, begann sie die Laute zu schlagen. Als die wehmütigen Saiten anklangen, verstummten alle Gespräche. Bald beobachtete sie jeder, aber sie merkte es nicht. Goldmond sang nur für den alten Mann.
Eine drückende Stille herrschte im Raum, als ihre Hand die letzte Saite anschlug. Sie holte tief Luft, gab dem alten Mann die Laute zurück und tauchte wieder in den Schatten. »Vielen Dank, meine Liebe«, sagte der alte Mann lächelnd. »Kann ich jetzt eine Geschichte hören?« fragte der kleine Junge sehnsüchtig.
»Natürlich«, antwortete der alte Mann und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Vor langer, langer Zeit hörte der große Gott, Paladin...«
»Paladin?« unterbrach das Kind. »Ich habe noch nie von einem Gott Paladin gehört.«
Der Oberste Theokrat am Nachbartisch ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen. Tanis sah zu Hederick, der errötete und finster dreinblickte. Der alte Mann schien es nicht zu bemerken. »Paladin ist einer der alten Götter, Kind. Seit langer Zeit wird er nicht mehr verehrt.«
»Warum ist er gegangen?« fragte der kleine Junge.
»Er ist nicht von uns gegangen«, entgegnete der alte Mann, und sein Lächeln wurde traurig. »Die Menschen verließen ihn nach den dunklen Tagen der Umwälzung. Sie gaben den Göttern die Schuld für die Zerstörung der Welt anstatt sich selbst, so wie sie es hätten tun sollen. Hast du jemals vom ›Hohelied der Drachen‹ gehört?«
»O ja«, sagte der Junge begierig. »Ich liebe Drachengeschichten, obwohl Papa immer sagt, Drachen hätten niemals existiert. Aber ich glaube an sie. Und ich hoffe, daß ich eines Tages einem begegnen werde!«
Das Gesicht des alten Mannes schien zu altern und wurde kummervoll. Er streichelte über das Haar des Jungen. »Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, mein Kind«, sagte er sanft. Dann verfiel er in Schweigen.
»Die Geschichte...«, drängte der Junge.
»O ja. Nun, vor langer, langer Zeit hörte Paladin das Gebet eines sehr großen Ritters, Huma...«
»Huma aus dem ›Hohelied‹?«
»Ja, genau der. Huma hatte sich im Wald verlaufen. Er wanderte und wanderte, bis er völlig verzweifelt war, denn er dachte, er würde seine Heimat niemals wiedersehen. Er betete zu Paladin um Hilfe, und plötzlich erschien vor ihm ein weißer Hirsch.«
»Hat Huma ihn getötet?« fragte der Junge.
»Er wollte es zuerst, aber sein Mut verließ ihn. Er konnte dieses wunderschöne Tier nicht töten. Der Hirsch sprang davon. Dann verhielt er und sah zu Huma zurück, als ob er warten würde. Huma folgte ihm. Tag und Nacht folgte er dem Hirsch, bis er ihn in seine Heimat geführt hatte. Er dankte dem Gott Paladin...«
»Blasphemie!« knurrte laut eine Stimme. Ein Stuhl wurde umgeworfen.
Tanis stellte seinen Krug Bier ab und sah auf. Alle am Tisch hörten auf zu trinken und beobachteten den betrunkenen Theokraten.
»Gotteslästerung!« Hederick, der unsicher auf den Füßen stand, zeigte auf den alten Mann. »Häretiker! Verdirbt unsere Jugend! Ich bringe dich vor Gericht, alter Mann.« Der Sucher stolperte einen Schritt zurück, dann wieder nach vorn. Er sah sich wichtigtuerisch im Raum um. »Verhaftet diesen Mann und diese Frau. Offensichtlich ist sie eine Hexe! Ich werde diesen Stab enteignen!«
Der Sucher torkelte auf die Barbarin zu, die ihn voller Abscheu anschaute. Er griff unbeholfen nach ihrem Stab.
»Nein«, entgegnete die Frau mit dem Namen Goldmond kalt. »Er gehört mir. Du wirst ihn mir nicht nehmen.«
»Hexe!« höhnte der Sucher. »Ich bin der Oberste Theokrat! Ich nehme das, was ich will.«
Er versuchte noch einmal, nach dem Stab zu greifen. Der riesige Begleiter der Frau erhob sich. »Die Tochter des Stammeshäuptlings sagt, daß du ihn nicht nehmen wirst«, erklärte der Mann schroff. Dann schob er den Sucher vom Tisch fort. Der Schubs des Mannes war nicht grob gewesen, aber der betrunkene Theokrat verlor das Gleichgewicht, fuchtelte wild mit den Armen um sich und versuchte, sich wieder zu fangen. Er torkelte nach vorn – jedoch zu weit —, stolperte über seine eigene Robe und fiel mit dem Kopf ins Feuer. Das Feuer zischte und flackerte, dann folgte der ekelerregende Gestank brennenden Fleisches. Die Schreie des Theokraten zerrissen das betäubende Schweigen, als der vor Schmerzen wahnsinnige Mann auf die Füße kam und außer sich herumwirbelte. Er war zur lebenden Fackel geworden! Tanis und die anderen saßen da, unfähig, sich zu bewegen, gelähmt durch den Schock des Vorfalls. Nur Tolpan hatte noch seine Sinne zusammen, er rannte nach vorn, um dem Mann zu helfen. Aber der Theokrat schrie nur und fuchtelte mit den Armen und entfachte noch mehr die Flammen, die seine Kleider und seinen Körper zerstörten. Es schien für den kleinen Kender keine Möglichkeit zu geben, ihm zu helfen.
»Hier!« Der alte Mann griff nach dem federgeschmückten Stab der Barbarin und überreichte ihn dem Kender. »Schlag ihn nieder. Dann können wir das Feuer ersticken.«
Tolpan nahm den Stab. Er schwang ihn mit all seiner Kraft und schlug gegen die Brust des Theokraten. Der Mann fiel zu Boden. Der Menge verschlug es den Atem. Tolpan selbst stand mit weitgeöffnetem Mund da, den Stab mit seinen Händen fest umklammert, und starrte auf den unglaublichen Anblick vor seinen Füßen.
Die Flammen waren sofort ausgegangen. Die Kleidungsstücke des Mannes waren unversehrt, unbeschädigt, seine Haut rosig und gesund. Er setzte sich mit einem ängstlichen und ehrfürchtigen Blick auf und untersuchte seine Hände und seine Roben. Keinerlei Brandmale waren zu erkennen, nicht einmal ein winziges Stück Asche qualmte von seiner Kleidung. »Er hat ihn geheilt!« verkündete der alte Mann mit lauter Stimme. »Der Stab! Seht euch den Stab an!«
Tolpans Augen bewegten sich zu dem Stab in seinen Händen. Auf seiner Spitze funkelte ein blauer Kristall!
Der Alte begann zu schreien. »Ruft die Wachen! Verhaftet den Kender! Verhaftet die Barbaren! Verhaftet ihre Freunde! Ich sah sie mit dem Ritter kommen.« Er zeigte auf Sturm. »Was?« Tanis sprang hoch. »Bist du verrückt, alter Mann?« »Ruft die Wachen!« Die Worte verbreiteten sich. »Habt ihr gesehen...? Der blaue Kristallstab? Wir haben ihn gefunden. Jetzt werden sie uns in Ruhe lassen. Ruft die Wachen!« Der Theokrat erhob sich schwankend, sein Gesicht war blaß und von roten Flecken übersät. Die Barbarin und ihr Begleiter standen auf, Furcht und Bestürzung in ihren Gesichtern. »Du dreckige Hexe!« Hedericks Stimme bebte vor Zorn. »Du hast mich mit dem Bösen geheilt! So wie ich brennen werde, um mein Fleisch zu reinigen, so wirst du brennen, um deine Seele zu läutern!« Damit ging der Sucher zum Kamin, und bevor ihn jemand aufhalten konnte, hatte er seine Hand in die Flammen getaucht! Er würgte vor Schmerzen, aber schrie nicht. Dann riß er seine verkohlte, geschwärzte Hand heraus und stolperte, mit einem wilden Blick der Zufriedenheit auf seinem schmerzverzerrten Gesicht, durch die murmelnde Menge.
»Ihr müßt hier sofort verschwinden!« Tika eilte zu Tanis. »Die ganze Stadt ist auf der Jagd nach diesem Stab! Diese Kapuzenmänner haben dem Theokraten angedroht, Solace zu j zerstören, wenn sie jemanden mit dem Stab finden. Die Leute hier werden euch den Wachen übergeben!«
»Aber es ist nicht unser Stab!« protestierte Tanis. Er blickte flüchtig zu dem alten Mann, der sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder auf seinem Stuhl niedergelassen hatte. Der alte Mann grinste Tanis an und winkte ihm zu.
»Meinst du, sie werden euch glauben!« Tika rang verzweifelt die Hände. »Sieh doch!«