Fearghus zuckte die Achseln. »Diese Geschichte wird den Drachenkindern erzählt. Ich bin mir fast sicher, dass mehr dahintersteckt.«
»Bist du immer so zynisch?«
»Ja.«
»Also bist du nicht unsterblich, aber deine Gattung lebt eindeutig eine lange Zeit.«
»Ja. Ungefähr 800 Jahre.«
»Also bist du, verglichen mit anderen Drachen, noch ein ziemliches Baby.«
Fearghus grunzte. »Wenn du das Bedürfnis hast, es so auszudrücken.«
»Geschwister?«
»Ja.«
»Wie viele?«
Fearghus seufzte und machte sich auf eine zweifellos lange und unangenehme Nacht gefasst. Er sehnte sich fast nach der Zeit, als sie bewusstlos und dem Tode nahe gewesen war. »Zu viele. Und du?«
Stirnrunzelnd fragte sie: »Sollte das ein Witz sein?«
Uups. Er hatte eigentlich nur höflich sein wollen. Natürlich war er im Höflichsein noch nie besonders gut gewesen. »Nein. Ich habe mich nur gefragt, ob es da noch jemanden gibt außer der Dämonenausgeburt, die du Verwandtschaft nennst.«
»Leider nein. Oder zumindest niemanden, den mein Vater anerkannt hätte.« Sie stützte die Ellbogen auf ihre Knie und legte das Kinn in die Hände. »Stehst du deiner Familie nahe?«
»Nur einer Schwester. Die anderen sehe ich nur zu Familienfesten. Und das auch nur ungern.«
»Drachen haben Familienfeste? Sind das einfache Zusammenkünfte oder sind dabei Jungfrauenopfer erforderlich?« Fearghus lachte bellend auf, und das Mädchen lächelte. »Siehst du? Ich hab dich zum Lachen gebracht.«
»Das hast du.«
Vielleicht würde der Abend doch nicht ganz so unangenehm werden.
5
Brastias, General des Aufstands der Dunklen Ebenen und Annwyls Stellvertreter, lehnte sich auf dem harten Holzstuhl zurück und rieb sich die müden Augen. Sie musste tot sein. Es konnte nicht anders sein. Annwyl wäre nie so lange verschwunden, ohne eine Nachricht zu schicken. Er hatte bereits Fährtenleser ausgesandt, um sie zu finden, doch sie kamen mit leeren Händen zurück; ihre Spur verlor sich irgendwo in der Nähe der Finsteren Schlucht, einem verwunschenen Ort, den die meisten Männer nicht zu betreten wagten.
Natürlich war Annwyl nicht wie die meisten Männer. Sie nahm oft Risiken auf sich, wo andere flohen. Sie war und blieb der mutigste Krieger, den Brastias kannte, und er hatte im Lauf der Jahre viele Männer kennengelernt, die er für mutig hielt.
Doch Annwyl konnte tollkühn sein und ihr Zorn … eindrucksvoll.
Und dennoch dankte Brastias den Göttern seit zwei Jahren täglich für sein Glück. Aus einer Laune heraus hatten sie ein schwer bewaffnetes Gespann angegriffen, das von der Insel Garbhán kam. Seine Fracht war Annwyl gewesen. Gekleidet in ein weißes Brautkleid und an das Pferd gekettet, das sie ritt, war ihr Schicksal, die unfreiwillige Braut irgendeines Adligen in Madron zu werden. Und ausgehend davon, wie schwer bewaffnet ihr Zug war, war sie außerdem gefährlich unzufrieden darüber. Als der Angriff begann, befreite einer seiner Männer Annwyl und sagte ihr, sie solle fliehen. Sie tat es nicht. Stattdessen nahm sie ein Schwert und kämpfte. Kämpfte, genau genommen, wie ein von den Göttern des Hasses und der Rache gesandter Dämon. Ihre Wut war ein mächtiger, unvergesslicher Anblick. Als das Mädchen fertig war, stand sie zwischen den kopflosen Überresten derer, die sie getötet hatte. Ihr weißes Kleid war vollkommen mit Blut bedeckt. An diesem Tag hatten die Männer ihr den Namen Annwyl die Blutrünstige gegeben, und so sehr sie ihn hasste: der Name blieb.
Sie kehrten mit ihr zu ihrem Lager zurück, aber niemand wusste, was mit ihr anzufangen war. Die Frauen im Lager mieden sie. Sie machte ihnen Angst, und sie erwies sich als vollkommen nutzlos in allen häuslichen Belangen. Doch sie besaß Informationen über ihren Bruder. Sie wusste, wo man angreifen konnte und wann. Sie kannte seine Stärken und Schwächen. Und sie wollte nichts mehr als ihn zu vernichten. Bald brachte sie ihnen die finanzielle Unterstützung anderer Regionen ein. Niemand wollte Lorcan länger als nötig an der Macht sehen. Wenn seine Schwester ihn aufhalten konnte, wollten sie ihr die Treue halten. Sie schützte ihre Grenzen, und die Rebellionstruppen wuchsen.
Schließlich übernahm Annwyl die Führung, und Brastias überließ sie ihr dankbar. Sie verdiente die Loyalität und das Vertrauen der Männer, und nach nunmehr zwei Jahren waren sie bereit, ihr in die Tiefen der Hölle zu folgen, wenn sie sie darum bitten würde.
Doch wenn sie tot war … Brastias wollte nicht einmal daran denken. Sie hatten ihren Leichnam nicht gefunden. Vielleicht konnten sie sie immer noch retten.
»General.« Brastias’ Blick wandte sich zum Eingang seines Zeltes. Danelin, der nächste in der Befehlskette, stand abwartend da. »Hier ist eine Hexe, die dich sehen will.«
Brastias nickte kurz. Sie wollte vermutlich Annwyl sehen, oder wenn es in seiner Welt auch nur ein kleines bisschen Glück gab, konnte sie ihm vielleicht sagen, wo er seine vermisste Anführerin finden konnte.
Eine groß gewachsene Frau trat ein. Eine verblüffende Schönheit, aber tragischerweise als Hexe gekennzeichnet. Er hoffte ehrlich, dass eine besondere Hölle auf Männer wie Lorcan wartete.
Sie kam auf ihn zu. Beinahe schwebend. Er wusste, dass er sie schon gesehen hatte. Die Leute hielten sie für eine talentierte Hexe mit Heilkräften. Aber er hatte keine Zeit für Magie oder Hexen. Auch nicht für schöne. Er hatte einen Aufstand zu gewinnen.
»Ja, Lady?«
»Du bist General Brastias?«
»Aye.«
Die Hexe warf einen Blick auf Danelin und weigerte sich, vor ihm zu sprechen. »Geh, Danelin. Ich rufe dich, wenn du gebraucht wirst.«
Danelin ging und schloss die Zeltklappe hinter sich. Die Frau stand vor ihm. Sie sagte nichts. Sie starrte nur.
»Also, worum geht es, Frau?« Sie hob eine feine Augenbraue, und er hatte das Gefühl, dass sie bis in seine Seele sah.
»Ich habe Nachricht von Annwyl von den Dunklen Ebenen.«
Brastias stand hastig auf und griff die Frau an den Armen; sie war fast so groß wie er. »Sag mir, Hexe. Wo ist sie?«
Sie starrte ihn an. »Nimm deine Hände weg, oder ich sorge dafür, dass du keine mehr hast.« Brastias atmete tief durch und ließ sie los. »Sie ist am Leben und in Sicherheit. Aber sie muss sich noch erholen. Vor Ablauf von zwei Wochen wird sie nicht zurück sein.«
Brastias stieß einen Seufzer überwältigender Erleichterung aus, während er sich schwer auf seinen Stuhl fallen ließ. »Den Göttern sei Dank. Ich dachte, wir hätten sie verloren.«
»Das hattet ihr auch fast. Doch anscheinend lächeln die Götter auf sie herab.«
»Kann ich sie sehen?«
Die Frau sah ihn aufmerksam an. »Nein. Aber ich werde ihr ausrichten, was du ihr zu sagen hast.«
»Gib mir einen Moment Zeit, ich muss etwas aufschreiben.« Er schnappte sich einen Federkiel und Papier und schrieb Annwyl einen kurzen, sachlichen Brief. Er faltete ihn, brachte sein Siegel an und reichte ihn der Hexe. »Überbringe ihr das und meine Liebe.«
»Dann bist du also ihr Mann?«, fragte sie vorsichtig.
Brastias lachte. Er hatte seinen Kopf gern sicher auf seinen Schultern sitzen. Wenn man Annwyls Mann wurde, setzte man das aufs Spiel.
»Annwyl hat keinen Mann, weil kein Mann ihrer würdig ist. Das schließt mich mit ein. So ist sie zu der Schwester geworden, die ich vor vielen Jahren in Lorcans Kerkern verloren habe.«
Die Frau nickte und ging zurück zum Eingang von Brastias’ Zelt. Bevor sie ging, hielt sie inne. »Sie bittet euch«, sprach die Hexe leise, ohne sich umzudrehen, »die Hoffnung nicht aufzugeben.«
»Solange sie lebt, werden wir das nicht tun.«
Dann war sie fort. Brastias schloss erleichtert die Augen. Annwyl war nicht tot. Seine Hoffnung kehrte zurück.