»Und das wäre?« Lorcan wandte sich langsam um, seine Wut bis zu einem gewissen Grad gezügelt.
»Vielleicht ist deine Schwester in die Finstere Schlucht geflohen.«
»Meine Schwester ist schwach und dumm, aber sie ist nicht verrückt. Niemand geht in die Finstere Schlucht. Denn niemand kommt je von dort wieder. Sie weiß das nur zu gut.«
Hefaidd-Hen richtete beunruhigend milchigblaue Augen auf seinen Herrn, und Lorcan schauderte innerlich. »Sie ist vielleicht nicht freiwillig dort hingegangen, doch das heißt nicht, dass sie nicht dort ist.«
»Dann wäre sie also schon tot?«
»Nein. Alle Zeichen sagen mir, dass sie noch lebt.«
Lorcan schnaubte. Er hätte es besser wissen müssen als sich Hoffnungen zu machen.
»Wie lautet in diesem Fall dein Rat, Zauberer?«
Hefaidd-Hen lächelte, wenn man das so nennen konnte. »Lass mich ein paar deiner Männer mitnehmen und selbst zur Finsteren Schlucht gehen. Ich werde sehen, ob ich sie finde.«
»Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren, Hefaidd-Hen. Auch wenn es bedeutet, sie zu vernichten. Ich brauche dich während dieser Rebellenangriffe. Jeden Tag kommen mehr Truppen an, um mit ihr zu kämpfen.«
»Und solange sie am Leben ist, werden sie weiter kommen.«
»Ich sagte nein.« Lorcan, sein Zorn verraucht, setzte sich schwer auf einen der Stühle, die er noch nicht geworfen hatte. »Aber schick ein paar von meinen Kriegern. Sorge dafür, dass sie wissen, dass sie in die Finstere Schlucht gehen sollen, oder andernfalls wird das, was sich dort versteckt, die geringste ihrer Sorgen sein.«
Hefaidd-Hen verneigte sich tief. »Wie du wünschst, Mylord.«
Dann verabschiedete sich der Zauberer, und Lorcan begann wieder zu atmen. Er dachte an seine widerliche kleine Schwester und genoss die Vorfreude auf das Vergnügen, das er empfinden würde, wenn er ihren Kopf auf einem Spieß vor seine Burgmauern pflanzte.
»Ich werde dich kriegen, Miststück«, knurrte er leise, in der Hoffnung, dass seine Worte den Weg zu ihr finden würden, wo immer sie war. Er wollte, dass sie wusste, dass er anstelle seines Vaters das Land regieren würde. Er wollte, dass sie wusste, wie sehr er sie hasste.
Er brüllte erneut, als seine Wut verzehnfacht zurückkehrte. Er brüllte und brüllte, bis er wusste, dass sie ihn hörte, wo immer sie war.
Annwyl sprang nackt aus dem Bett auf. Ihr Schwert, das sie immer in Reichweite auf dem Boden hatte, fest in der Hand. Die Präsenz ihres Bruders umgab sie. Sie spürte ihn nahe bei sich. Sie wirbelte herum, in der Erwartung, ihn hinter sich stehen zu sehen.
»Ist alles in Ordnung?«
Annwyl knurrte überrascht, als sie die Stimme hörte. Ohne nachzudenken, aus reinem Instinkt, wirbelte sie noch einmal herum und schleuderte ihr Schwert durch den Raum. Der einzige Grund, warum die Klinge nicht in Morfyds Stirn schoss, war, dass die Hexe sich zu schnell bewegte. Mit einem heiseren Aufschrei fiel sie zu Boden.
»Bei allen Göttern, Morfyd!« Annwyl, der jetzt bewusst wurde, wo sie war und dass sie eigentlich in Sicherheit war, rannte zu der Frau. »Bist du verletzt?«
Die Hexe ergriff die Hand des Mädchens und ließ sich von Annwyl aufhelfen. »Nein. Nein, mir geht es gut.«
»Morfyd, es tut mir so leid!«
»Ist schon gut.« Morfyd ließ sich schwer auf einen der Stühle sinken. »Ich habe dich erschreckt.«
Annwyl kniete sich neben Morfyd. Sie schaffte es nicht, die Hand der Frau loszulassen. »Ich dachte, er wäre hier«, flüsterte sie.
Morfyd runzelte die Stirn. »Du dachtest, wer wäre hier?«
»Mein Bruder. Ich habe ihn hier gespürt, Morfyd. Genauso sicher, wie du jetzt hier sitzt.«
»Du hast nur geträumt. Er kann dir hier nichts tun. Fearghus würde das niemals zulassen.«
Die Hexe sprach natürlich die Wahrheit. Sie vertraute dem Drachen ihr Leben an, mehr als jedem ihrer eigenen Soldaten. Sogar mehr als Brastias.
»Danke für dein Verständnis.« Annwyl stand auf, ging zurück zu ihrem Bett und wickelte sich eine der Felldecken um ihren zitternden, nackten Körper. »Und für deine schnelle Reaktion. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich …«
»Das hast du aber nicht. Also vergessen wir das am besten sofort wieder. Hier.« Morfyd gab ihr ein Pergament. Annwyl sah Brastias’ Siegel und lächelte.
»Dann hast du ihn also gesehen?«
»Aye. Er schien ehrlich erleichtert, dass du noch lebst.«
Annwyl setzte sich aufs Bett. »Und meine Männer?«
»Sie haben noch Hoffnung.«
Annwyl nickte. »Danke, dass du das für mich getan hast.«
Morfyd stand auf. »Keine Ursache. Ich hole dir etwas zu essen, während du den Brief liest.«
Kaum war die Hexe gegangen, entfernte Annwyl vorsichtig das Siegel und faltete das Pergament auf.
Annwyl,
Wir warten auf deine Rückkehr.
Immer dein, in Leben, Tod und Krieg.
Brastias
Annwyl las den Brief noch einmal und drückte ihn dann an ihre Brust. Ihre Armee wartete. Sie musste bald zurückkehren.
Fearghus beobachtete, wie seine Schwester mehrere Stücke Obst nahm. Ihr menschlicher Körper schien zittriger als gewöhnlich. »Ist alles in Ordnung?«
»Das verrückte Miststück hat ein Schwert nach meinem Kopf geworfen.«
Er musterte seine Schwester. »Was hast du zu ihr gesagt?«
Morfyd wirbelte herum und starrte ihn böse an, während das Obst in alle Richtungen flog. »Was ich … Wie kommst du darauf … Wie kannst du es wagen …« Morfyd unterbrach sich und riss sich zusammen. »Ich habe gar nichts getan, Bruder. Sie hatte einen Albtraum von Lorcan oder so etwas. Ich bin zufällig zur falschen Zeit hereingekommen.«
»Oder so etwas?«
Morfyd zuckte die Achseln, während sie sich hinkniete, um das verstreute Obst aufzusammeln. »Es kann sehr gut sein, dass er über ihre Träume Kontakt zu ihr aufnimmt.«
»Ich dachte, du hättest Schutzzauber um die Höhle aufgebaut?«
»Das habe ich auch«, blaffte sie zurück. »Das heißt aber nicht, dass er keinen Zauberer gefunden hat, der sie umgehen könnte.«
Fearghus ging zu seiner Schwester hinüber. Er ragte in seiner menschlichen Gestalt über ihr auf, angekleidet und bereit, sein Training mit Annwyl zu beginnen. »Niemand sollte in der Lage sein, an deinen Schutzzaubern vorbeizukommen, Schwester. Und wenn es die Königin höchstpersönlich ist. Ich will, dass Annwyl sicher ist. Verstanden?«
Morfyds Augen verengten sich, als sie ihren Bruder musterte. »Warum bist du so angezogen?« Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich. »Und warum bist du überhaupt ein Mensch?«
Verdammt. »Ich muss in die Stadt.«
»In die Stadt? Wozu?«
»Vorräte. Und jetzt mach weiter mit deinen Zaubern. Bitte.«
Er stürmte davon, bevor sie ihm noch mehr Fragen stellen konnte, die ihn zwingen würden, sie weiter anzulügen.
Annwyl fiel. Dann landete sie. Ihr Rücken traf hart auf den Boden, danach ihr Kopf. Dort lag sie. Unfähig, sich zu rühren. Plötzlich schob sich sein Gesicht in ihr Blickfeld.
»Tut mir leid.«
Das tat es nicht. Ihm tat überhaupt nichts leid. Sie hatte ein paar wirklich gute Schläge angebracht, und er konterte, indem er sie voll auf ihre Rückseite warf … und zwar hart.
Sie brauchte einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen; dann hielt er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie schlug seine Hand weg und stemmte sich mühsam selbst hoch, bis sie auf dem harten Boden kniete.
Sie starrte ihn finster an.
»Wofür dieser Blick? Es ist nicht meine Schuld, dass du nicht schnell genug warst.«