Fearghus. Was genau war da eigentlich los zwischen ihm und diesem Mädchen? Morfyd war nicht blind. Sie sah, wie er sie anblickte. Er hatte sich eindeutig in diese Frau verliebt. Aber sie spürte noch etwas anderes. Als Annwyl kräftiger wurde, hatte Morfyd begonnen, den Großteil ihrer Zeit im benachbarten Dorf zu verbringen. Der Ausbruch eines Fiebers erforderte in letzter Zeit ihre Kunst. Doch sie spürte, dass weder Annwyl noch Fearghus ihre Tage in der Höhle verbrachten. Und wenn sie nicht in der Höhle waren, wo zur Hölle waren sie dann?
Morfyd wusste, dass ihre Neugier bald die Oberhand gewinnen würde. Denn etwas ging vor sich, und sie hatte vor, herauszufinden, was genau das war.
Annwyl sah zu, wie sich die Schatten durch die Schlucht bewegten. Sie wusste, es wurde spät. Und ihr Körper spannte sich erwartungsvoll. Sie sah es jetzt als eine Art Ritual. Sie trafen sich und trainierten stundenlang. Legten eine kurze Pause ein, um schweigend zu essen. Trainierten noch einmal mehrere Stunden lang. Und am Ende würde etwas passieren. Etwas, das normalerweise verstärkte Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln auslöste.
Ihre Klingen trafen ein letztes Mal aufeinander.
»Halt!«, bellte er. Sie lächelte. Je stärker sie wurde, desto mehr schien sie ihn zu erschöpfen. Sie hatte keine Zweifel, dass er noch ein paar Stunden weitermachen konnte, aber es gefiel ihr, dass ihre Fertigkeiten sich nach und nach verbessert hatten.
Er schob sein Schwert in die Scheide und wandte sich von ihr ab. Sie bückte sich, um ihr Hemd aufzuheben und zog sich den weichen, einfachen Baumwollstoff über den Kopf. Ihre beiden Waffen steckte sie in die Scheiden zurück. Als sie aufsah, stellte sie fest, dass Stiefel vor ihr standen. Sie kämpfte darum, ihren Atem zu kontrollieren, während sie langsam an ihm hinaufblickte.
Er starrte zu ihr herab, sein Gesicht unergründlich und fast bedeckt von seinem schwarzen Haar. Er sah sie beinahe wütend an, sein Schweigen trieb sie fast zur Raserei. »Gibt es ein Problem?«, fuhr sie ihn an.
Ein leises Knurren entlud sich tief in seiner Kehle, während er die Hand ausstreckte und sie an ihrem Hemd auf die Füße zog. Dann traf sein Mund auf ihren. Annwyl kämpfte nicht gegen ihn an. Sie hatte nicht den Wunsch danach. Stattdessen legte sie einen Arm um seinen Hals, den anderen um seine Taille. Er hielt sie im Nacken, seine andere Hand glitt unter ihr Hemd. Seine rauen Finger bewegten sich über die schweißbedeckte Haut ihres Rückens, während sein Mund von ihrem einen Kuss forderte, der so verzweifelt, so leidenschaftlich war, dass sie sich sicher war, er würde sie sofort, hier und jetzt nehmen.
Stattdessen ließ er sie genauso abrupt los, wie er sie ergriffen hatte. Und sie konnte das Wimmern nicht unterdrücken, das ihrer Kehle entwich, als er den Körperkontakt aufgab. Er starrte sie noch einen Moment an, dann stürmte er davon. Einfach so. Ließ sie mit nichts zurück als dem dumpfen Schmerz zwischen ihren Beinen.
Morfyd stellte das Essen vor Annwyl hin und sah, dass das Mädchen es ignorierte. Tatsächlich hatte es seit seiner Rückkehr nicht gesprochen. Morfyd ließ den Blick über den Körper des Mädchens gleiten. Annwyl trug nur ihre Brustbinden und die Gamaschen, und zum ersten Mal bemerkte Morfyd die Blutergüsse, Schrammen und tiefen Schnitte, die ihren Körper bedeckten.
»Annwyl.« Die grünen Augen des Mädchens flackerten zu Morfyd hin. »Wo kommen diese Verletzungen her?«
»Von meinem Training.« Sie sagte das, als müsse Morfyd wissen, wovon zur Hölle sie sprach.
»Deinem Training?«
»Aye. Mit dem Ritter.«
Morfyds Augen wurden schmal. »Welcher Ritter?«
»Der, der da war, während ich mich erholt habe. Der Freund des Drachen.«
Morfyd konnte ihre Überraschung nicht verbergen und machte einen abrupten Schritt rückwärts. Ihr Bruder mit einem Ritterfreund? Nicht in diesem Leben. Und auch nicht in irgendeinem anderen Leben. Plötzlich ergab seine neue Vorliebe, als Mensch ins Dorf zu schlendern, einen Sinn.
»Ach ja. Sein Freund, der Ritter. Und der hat dir das angetan?«
»Das könnte man so sagen.«
Morfyd nickte. Sie musste herausfinden, was hier los war. Sofort. Die Neugier brachte sie noch um!
»Ist der Drache hier?«, fragte Annwyl hoffnungsvoll.
»Zufällig nicht, nein. Ist er nicht.« Das Mädchen wandte sich wieder der Wand zu. »Iss, Annwyl. Du musst bei Kräften bleiben. Verstanden?«
Das Mädchen nickte, machte aber keine Anstalten zu essen und starrte weiter ihre faszinierende Wand an.
Er drehte eine Runde in der Schlucht, vorbei an einem großen Felsblock, auf dem Weg zum hinteren Eingang zu seiner Höhle. Er war in der Stadt gewesen, um ein paar Dinge zu ordnen, und war den ganzen Weg gerannt, um das Mädchen aus seinem Organismus zu schwitzen. Es funktionierte nicht. Wenn er jetzt über sie stolperte, würde er sich schwer im Zaum halten müssen, um sie nicht an einen Baum zu stellen und … Also sah es wieder so aus, als wäre der kalte See seine einzige Zuflucht.
Doch als er den Fels umrundet hatte, blieb er stehen. Morfyd stand dort und wartete auf ihn. Die Augen waren zornig verengt, die Arme vor der Brust verschränkt, während ein Fuß heftig im Gras wippte.
Sie starrte ihren Bruder ein paar Augenblicke böse an. »Ich verrate es!«, bellte sie. Dann rannte sie los.
»Morfyd!« Er stürmte hinter ihr her, schnappte sie um die Taille, bevor sie ihm davonlaufen konnte. Sie schlug nach seinen Händen. Als das nicht wirkte, rammte sie ihm den Ellbogen ins Gesicht. Er ließ sie los, und sie wirbelte zu ihm herum.
Die beiden Geschwister starrten sich an. »Halt den Mund, Schwester!«
Morfyd fauchte, bevor sie sich eine Handvoll von Fearghus’ Haar schnappte und daran zog.
»Du kleine …« Er verzog vor Schmerz das Gesicht, schnappte das Bein seiner Schwester und warf sie auf den Rücken. Sie ließ seine Haare jedoch nicht los; sondern boxte ihm stattdessen gegen den Kopf. »Au!« Er schlug ihre Hände weg. Konnte es noch lächerlicher werden? Sie waren Drachen! Die mächtigsten Killer der bekannten Welt! Was zur Hölle taten sie da?
»Hör auf! Hör einfach auf!«
Morfyd hielt inne. »Wie konntest du sie so anlügen?«
»Ich lüge nicht!«
»Bist du zu ihr hingegangen und hast gesagt: ›Ich bin’s, Fearghus‹?«
»Na ja, nicht so richtig …«
»Lügner!« Sie zog sich an den Haaren ihres Bruders vom Boden hoch.
»Hör auf, so zu schreien!«
Endlich ließ sie seine Haare los. »Was hast du vor, Bruder?«
»Sie bereit machen.«
Sie hob eine Augenbraue. »Wofür genau?«
Dreckige kleine … »Das meinte ich nicht! Sie wird sich bald ihrem Bruder stellen müssen, und ich sorge dafür, dass sie bereit dafür ist. Ich werde nicht zusehen, wie sie stirbt.«
»Das ist bewundernswert, Bruder. Aber ich weiß immer noch nicht, warum du ihr nicht die Wahrheit gesagt hast. Ihr gesagt hast, wer du bist.«
»Unsere Macht der Verwandlung ist eines unserer heiligsten Geheimnisse! Glaubst du, ich würde sie irgendeinem kleinen Mädchen verraten?« Er deutete auf das zernarbte Gesicht seiner Schwester. »Du hast unser Geheimnis sogar bewahrt, während sie dir das Gesicht zerschnitten haben!« Einen Moment lang glaubte sogar Fearghus diese Entschuldigung. Morfyd dagegen …
»Ha! Das ist eine faule Ausrede, Bruder! Wenn sie gewusst hätten, was ich bin, hätten sie mich getötet oder es zumindest versucht. Und ich wollte lieber nicht enden wie der alte Terlack, mit nur einem Flügel. Außerdem bin ich sicher, sie würde dir kein Haar auf deinem großen Dickschädel krümmen. Also warum gibst du nicht einfach die Wahrheit zu?«
»Und was für eine Wahrheit wäre das?«
»Dass du Angst hast. Angst, dass du keine Chance bei ihr hast, wenn sie weiß, wer und was du bist.«