»Ja. Ihr solltet euch alle auf den Weg machen.«
Morfyd blieb stehen und sah ihren Vater an. »Wir alle?« Sie hatte ihre Brüder bereits überredet, Fearghus zu helfen, aber sie hatten es ohne Bercelaks Wissen tun wollen. Jetzt schien es, als würde ihrem Vater endlich die Gefahr bewusst, die davon ausging, wenn Lorcan und Hefaidd-Hen diese Schlacht und vielleicht den Geschwisterkrieg gewannen.
»Aye. Ihr könnt euren Bruder nicht allein gegen ein paar Menschen kämpfen lassen. Ihr müsst alle mit ihm gehen. Ich werde hier bei der Königin bleiben.«
»Da gehe ich jede Wette ein«, murmelte Annwyl tonlos.
Die Geschwister tauschten Blicke, als Bercelak sie in Richtung Ausgang schob. »Geht jetzt. Sofort. Ihr habt nicht viel Zeit.«
»Wartet!« Morfyd sah ihre jüngere Schwester Keita in menschlicher Gestalt auf sie zulaufen. Sie trug ein wunderschönes Kleid, das ihr vermutlich irgendein Adliger geschenkt hatte, der sie für eine süße Maid gehalten hatte, bevor er sie ins Bett mitgenommen hatte und dort eines Besseren belehrt worden war. Na ja, vielleicht hatten sie auch ein Adliger, sein Bruder und sein Cousin ins Bett mitgenommen. Alle gleichzeitig. Schlampe. »Tut mir leid, ich bin zu spät!«
»Was machst du denn hier?«
»Papa hat mich gebeten zu kommen.« Sie schüttelte ihre langen roten Haare, bevor sie zu Bercelak hinauflächelte, der zurücklächelte und ihr auf die Schulter klopfte.
»›Papa hat mich gebeten zu kommen‹«, äffte Morfyd sie böse nach. Ihre Schwester grinste sie höhnisch an, und sie hatte gute Lust, Papas kleiner Prinzessin ins Gesicht zu treten, doch Annwyls Stimme hielt sie zurück.
»Wie viele seid ihr eigentlich genau in eurer Familie?«
»Zu viele«, antworteten die Geschwister im Chor.
17
Danelin hatte die ersten neun Jahre seines Lebens in den Kerkern der Insel Garbhán verbracht. Er hatte gegen die Soldaten der Insel gekämpft, seit er zwölf war. Und er hatte gelernt, nichts außer den Zorn der Geschwister zu fürchten, den jeder halbwegs intelligente Mensch fürchtete.
Bis zu dem Tag, an dem der schwarze Drache mitten in ihrem Lager landete. Zum ersten Mal erfuhr er, was wahre Angst bedeutete. Er sah die schwarzen Krallen der Bestie auf dem Boden aufsetzen. Sah zu, wie der mächtige, gehörnte Kopf sich langsam drehte, als er die Soldaten um sich herum beobachtete. Hörte ihn Annwyls Namen brüllen. Er dachte, solch eine Angst würde er nie wieder erleben.
Das stellte sich als Irrtum heraus.
Jetzt vor einem Drachen zu stehen, der sich in einen Menschen verwandelt hatte, und ihm zu erklären, dass seine Geliebte gegangen war – aber »keine Sorge, sie wird früh genug wieder hier sein« –, machte ihn mit einer ganz neuen Welt der Angst bekannt. Vor allem, weil der Drache nackt vor ihm und Brastias stand, die riesigen Arme vor seiner riesigen Brust verschränkt, die riesigen Beine fest in den Boden gestemmt und, was ihn am meisten beunruhigte: mit schwarzem Rauch, der sich aus seinen Nasenlöchern kräuselte.
Glücklicherweise hatten sie die Soldaten schon vorausgeschickt. Doch die zwei Sonnen gingen auf, und er brauchte Brastias im Dorf. Jemand musste sie anführen, da sie in Wahrheit keine Ahnung hatten, wann Annwyl zurückkommen würde. Auch wenn er und Brastias nicht vorhatten, dem Drachen das zu sagen. Jetzt wurde ihnen natürlich auch bewusst, dass sie dem Drachen nichts von Annwyl hätten sagen sollen, solange sein großer Körper den Ausgang blockierte. Er stand zwischen ihnen und dem Weg aus dem Zelt.
Und der Drache rührte sich nicht.
»Das heißt, ihr habt sie einfach gehen lassen?«
Danelin tauschte Blicke mit Brastias.
Brastias hob eine Augenbraue. »Vielleicht hast du Annwyl die Blutrünstige nie wirklich kennengelernt, aber man sagt ihr nicht, wo sie hingehen darf oder nicht. Man sieht einfach zu, dass man ihr nicht im Weg steht.«
Danelin zwang sich, sich nicht zu ducken, als der Drache missmutig knurrte.
Er beobachtete die zwei Menschen, die ihn anstarrten. Brastias sah verärgert aus. Der Junge sah aus, als würde er jede Sekunde anfangen zu schreien. Er wusste, dass er seinen Zorn über Annwyl nicht an diesen beiden Männern auslassen sollte, aber sie waren hier und Annwyl nicht.
Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie dieser wundervolle Körper mit dem geflüsterten Versprechen aus dem Bett glitt schnell wiederzukommen. Mehrere Stunden später wachte er von dem Geräusch von Annwyls abrückenden Soldaten auf. Außerdem entdeckte er, dass sein Bett kalt und seine Frau nirgends zu sehen war. Ein Gefühl, das ihm, wie er feststellte, gar nicht behagte.
Bis er seine menschliche Gestalt aus dem Bett gequält hatte, waren die meisten Soldaten fort – bis auf Brastias und den Jungen. Er trieb sie in einem der Vorratszelte in die Enge und weigerte sich, sie gehen zu lassen. Ihre anmaßende Einstellung zu Annwyls Verschwinden mit seiner Schwester verstärkte seine Wut nur noch. Wohin Morfyd sie gebracht hatte, konnte er nur raten. Aber wenn er richtiglag, würde seine Schwester dafür bezahlen.
»Wir sind nicht für sie verantwortlich, Drache. Genauso wenig wie du.«
Er musste zugeben, dass Brastias sich als sehr viel mutiger erwies als er gedacht hatte. Der Junge jedoch sah nicht aus, als könne er noch viel mehr ertragen. Aber er war noch nicht fertig mit ihnen. Bald würde er anfangen damit zu drohen, ihnen Körperteile auszureißen, doch eine Hand auf seiner nackten Schulter hielt ihn zurück.
»Da seid ihr ja alle«, lächelte Annwyl. »Alles in Ordnung?«
Fearghus blickte finster. »Nein. Nichts ist in Ordnung. Wo zum Teufel warst du?«
»Diskutiert wird später. Jetzt wird gekämpft.« Auf ihre Kopfbewegung hin verließen Brastias und der Junge eilig das Zelt. »Ich hoffe, du hast ihnen keine Angst gemacht.«
»Annwyl.« Er nahm ihren Arm. »Was ist los?« Er sah ihr ins Gesicht und fragte sich, was daran anders war. Die zwei Sonnen hatten gerade begonnen aufzugehen und im Zelt war es immer noch dunkel, deshalb konnte er nicht allzu deutlich sehen, doch er wusste, dass sich etwas verändert hatte.
»Später. Im Augenblick brauchen mich meine Leute, Fearghus.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leicht. »Vertrau mir.«
Er rieb seinen Kopf an ihrer Wange und atmete ihren Duft ein. »Versuche, dich nicht umbringen zu lassen, Annwyl.«
Sie lachte. »Warum sagt ihr mir das alle ständig?«
Er küsste sie lang und intensiv, bis sie sich von ihm losmachte. Es gefiel ihm, dass es sie einige Anstrengung zu kosten schien.
»Wir … äh … gehen besser.« Sie sah noch einen Augenblick auf seine Lippen, dann trat sie mit einem tiefen Seufzen von ihm zurück und verließ das Zelt.
Er folgte ihr, nur um verblüfft festzustellen, dass dort seine Geschwister auf ihn warteten. Alle seine Geschwister.
»Ihr zwei habt ja lange gebraucht«, fuhr Briec sie an.
»Was genau habt ihr beiden da drin eigentlich gemacht?«, grinste Gwenvael.
»Großer Bruder!« Keita breitete die Flügel weit aus und drängte damit Morfyd ab.
Morfyd hieb ihre Klaue auf den Boden, dass die Erde bebte. »Wenn du das noch einmal machst, Keita, dann reiße ich dich hier und jetzt in Stücke!«
»Lasst uns gehen! Lasst uns gehen! Lasst uns gehen!« Éibhear stieg in die Luft und umkreiste die Gruppe. »Na los! Sonst verpassen wir noch die besten Opfer!«
Fearghus warf Annwyl einen wütenden Blick zu. Sie trat achselzuckend einen Schritt von ihm zurück. »Sie wollten helfen.«
»Wenn wir mit deinem Bruder fertig sind, werden wir darüber aber noch reden!«
»Versprochen, versprochen.« Annwyl grinste ihn an, während sie sich rasch ihre Schwerter auf den Rücken schnallte, Lederhandschuhe überzog und ihre Haare mit einem langen Lederstreifen zurückband.