Sie schlachtete zwei weitere Soldaten ab, die dumm genug waren, ihr in den Weg zu geraten, dann stürmte sie den Bergkamm hinauf und schrie dabei nach Lorcan. Oben kam sie in dem nassen Gras rutschend zum Halten. Lorcan wartete auf sie. Mit seinem Drachen.
Sie warf einen Blick hinter sich und sah, dass weitere seiner Soldaten ihr den Fluchtweg abschnitten.
Annwyl sah ihren Bruder böse an. »Na, Angst, dich mir allein zu stellen, Lorcan?« Er sah ihr nicht einmal in die Augen. »Kannst du mir nicht antworten, Bruder?«
»Du kannst deine Fragen an mich richten, Lady Annwyl.«
Der Sprecher konnte nur Hefaidd-Hen sein. Anders als bei Fearghus und seiner Sippe sah sie in dieser Bestie keine Schönheit. Keine Anmut oder Eleganz. Nur einen kaltblütigen Mörder. Sein Drachenkörper schien fast wie ein Skelett. Seine Farbe war ein widerwärtiges Madenweiß. Seine Drachenaugen waren von einem blassen, wässrigen Blau. Allein sein Anblick verursachte ihr eine Gänsehaut.
»Bist du jetzt der Herrscher der Dunklen Ebenen, Hefaidd-Hen?«
»Ich bin lediglich Lorcans Berater.«
»Und was war dein Rat an meinen Bruder?«
»Dass er seine Zeit nicht damit verschwenden soll, dich zu töten. Das sollte er mir überlassen.«
Annwyl unterdrückte ihre Panik. Die Königin hatte ihr ein Geschenk gemacht, das ihr helfen sollte, Hefaidd-Hen zu bekämpfen. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Flammen bewirkt haben sollten, doch sie betete, dass die Königin ihr wirklich geholfen hatte. Sie betete inbrünstig. Denn obwohl sie Brastias’ Rufe an seine Männer hörte und hören konnte, wie sie kämpften, um die Linie von Soldaten zu durchbrechen, die sie von ihr trennte, wusste sie es doch. Sie wusste, als Hefaidd-Hen sich zurücklehnte, um eine Lunge voll Luft einzusaugen, dass sie niemals rechtzeitig bei ihr sein würden.
Sie sah ihren Bruder an. »Egal, was passiert: Wir sind noch nicht miteinander fertig, Bruder.«
Fearghus flog so schnell er konnte; Morfyd tat ihr Bestes, um mitzuhalten und rief seinen Namen. Er ignorierte sie. Morfyd sah den Hinterhalt. Ein Hinterhalt, allein für Annwyl. So stark sie jetzt auch war: Sie würde niemals allein mit Hefaidd-Hen fertig werden. Sie konnte nicht gegen ihn gewinnen. Er war nicht nur ein Drache, sondern auch ein Zauberer. Seine Flamme würde, genau wie manchmal auch die von Morfyd, mit alter Magie getränkt sein.
Doch als Fearghus nun dem Bergrücken näher kam, auf dem seine Frau stand, konnte er sehen, dass er nicht rechtzeitig dort sein würde. Egal, wie schnell er flog. Egal, was er tat. Er würde sie verlieren.
Brastias konnte die feindlichen Soldaten nicht aus dem Weg räumen und es auf den Bergrücken hinauf schaffen, bevor das widerliche Biest eine Flamme spie, die seine Anführerin komplett in weiß glühendes Feuer hüllte. Und zwar keine normale Flamme wie die, die er ihren Drachenliebhaber hatte spucken sehen. Es war etwas anderes. Und scheinbar eine Verschwendung von Magie, wenn man bedachte, dass sie nur ein Mädchen war.
Doch als die Flamme und der Rauch sich verzogen, stand sie immer noch da. Die Augen fest zugekniffen, das Gesicht abgewandt. Alles war, wie es sein sollte. Sogar ihr Kettenhemd und ihr Wappenrock.
Brastias blieb stehen. Das war nicht möglich. Eigentlich hätte nichts von ihr übrig sein dürfen. Nicht einmal Asche.
Er sah den Drachen verwirrt zurückweichen, als Annwyl langsam die Augen öffnete und sich umsah. Sie erwartete höchstwahrscheinlich, von ihren Vorfahren umgeben zu sein, die sie in der nächsten Welt willkommen hießen. Stattdessen richtete sich ihr Blick auf einen verblüfften und ein kleines bisschen beunruhigten Brastias.
Sie grinste ihn an und wackelte mit den Augenbrauen. »Sie ist wirklich irre«, flüsterte er, als sie sich umdrehte und den Drachen ansah.
»Hast du mich verfehlt?«, fragte sie honigsüß.
Der Drache sah aus, als wolle er antworten, doch er kam nicht dazu. Fearghus schoss herab und riss ihn nach oben, die schöne Morfyd direkt hinter sich.
Brastias warf sich wieder ins Schlachtgetümmel, allerdings nicht ohne gehört zu haben, wie Annwyl sich an Lorcan wandte: »Dann bleiben wohl nur noch wir beide übrig, was, Bruder?«
Lorcan lächelte. Die Lage hatte sich zu seinen Gunsten gewendet. Er wusste, dass er Hefaidd-Hen nicht allein besiegen konnte. Er hatte schon vorher Drachen getötet. Doch Hefaidd-Hen war kein gewöhnlicher Drache. Er war etwas ganz anderes. Unnatürlich. Böse. Schrecklich. Doch nun, als Hefaidd-Hen fort war, um gegen seine eigene Art zu kämpfen, konnte Lorcan endlich tun, was er schon seit dem Tag tun wollte, als diese kleine Schlampe Teil seines Lebens geworden war.
Er würde seine einzige Schwester töten.
Lorcan hob sein Schwert und griff an.
Annwyl parierte den Schlag und schlitzte ihrem Bruder den Rücken auf, als er an ihr vorbeikam. Doch ihre Klinge berührte ihn kaum. Er wirbelte wieder zu ihr herum.
»Du bist schnell geworden, kleine Schwester.« Er grinste sie offen anzüglich an. »Hat der Drache dir das beigebracht, bevor er dich auf die Knie zwang?«
Die Geschwister belauerten sich gegenseitig. Sie bewegten sich langsam, vorsichtig. Warteten, dass der andere den nächsten Schritt tat.
Annwyl wusste genau, was ihr Bruder vorhatte. Er köderte sie. Und es hätte funktioniert … vor ein paar Wochen.
»Er hat mir vieles beigebracht, Bruder. Allerdings glaube ich, dass du es bist, der zur Hure eines Drachen geworden ist. Hat dich Hefaidd-Hen zum Stöhnen gebracht, als er dich nahm?«
Lorcan begann zu knurren, doch es wurde rasch zu einem ausgewachsenen Brüllen. Er griff an. Ein direkter Stoß in Richtung ihres Bauches. Annwyl parierte ihn mit einer Klinge und schlitzte seine Körpermitte mit der anderen auf. Dann tänzelte sie rückwärts von ihm weg.
Ihr Bruder sah nach unten auf das Blut, das unter seiner Rüstung heraussickerte. Annwyl wusste, dass es nur eine leichte Verletzung war. Doch Lorcans Schock kam daher, dass wenige vor ihr so dicht davor gewesen waren, ihn zu treffen. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie ihn hatte, wo sie ihn haben wollte.
Seine Wut brach aus ihm heraus und umschloss sie. Sie wusste, dass sie Angst bekommen sollte. Oder wütend werden. Nichts davon fühlte sie. Seine Wut beruhigte sie. Besänftigte sie. Sie wusste, dass sie die Kontrolle hatte, während er in seiner eigenen Raserei erstickte.
Sie blieb in der Defensive, ließ ihn auf sich zukommen. Er griff erneut an; diesmal zielte er auf ihren Hals. Sie parierte die Klinge und warf sich mit ihrem Körper gegen ihn. Lorcan stolperte rückwärts. Er richtete sich jedoch schnell wieder auf und traf Annwyl mit einem brutalen Hieb. Ihr Körper flog mehrere Fuß weit, bevor er auf dem Boden landete. Doch ihr Drache hatte sie beim Training auch schon so getroffen, deshalb spürte sie Lorcans Faust kaum. Sie war schon wieder auf den Beinen, bevor er sie erreicht hatte.
Nach den Kämpfen mit Fearghus erschienen ihr Lorcans Bewegungen langsam und ungelenk. Nicht wie die flüssigen Bewegungen ihres Drachen. Plötzlich verstand sie nicht mehr, was sie all diese Jahre so gefürchtet hatte. Zum Teufel, sie hatte sich Bercelak dem Großen gestellt und ihn fast getötet. War ihr Bruder wirklich eine so große Herausforderung?
Sie merkte, wie sie immer ruhiger wurde. Sah seine Bewegungen voraus, lange, bevor er sie ausführte. Außerdem sah sie seine Wut in seinem ganzen Körper brennen. Er wollte sie so dringend tot sehen, dass seine Angriffe schlampiger wurden. Bald war er voller Blut. Und es war nicht ihres.
Fearghus schleppte Hefaidd-Hen hoch hinauf zu den Sonnen, seine Krallen in seinen weichen weißen Bauch gegraben. Er besaß nicht mehr die schützenden Schuppen ihrer Art.
Was hat dieser Drache sich angetan?
Hefaidd-Hen spie einen Zauber aus, und ein beinahe unerträglicher Schmerz durchlief Fearghus’ Körper. Ein Schmerz, der von innen kam. Jetzt sah er, dass die Bestie Teile von sich selbst opferte für die Magie, die durch ihre Adern floss. Die Magie, die Hefaidd-Hen nun gegen ihn richtete. Doch Fearghus würde den Mistkerl nicht loslassen. Er würde nur wieder Annwyl verfolgen. Das konnte er nicht riskieren. Also hielt er seine Krallen weiterhin tief in Hefaidd-Hens Fleisch vergraben und hielt ihn fest.
Eine erneute Schmerzwelle brandete durch Fearghus’ Körper. Er brüllte. Doch sein Brüllen konnte sich nicht mit Hefaidd-Hens gellendem Schrei messen. Er öffnete die Augen und sah, dass Morfyd sich an Hefaidd-Hens Rücken festhielt. Ihre Klauen gruben sich tief in das weiße Fleisch, während sie einen Zauber sprach, der die Bestie in Brand setzte. Und ohne Schuppen hatte er keinerlei Schutz vor den schrecklichen Flammen, die Morfyd auf ihn abschoss.
»Jetzt, Fearghus! Jetzt!«
Fearghus grub seine Krallen noch tiefer in Hefaidd-Hens Unterleib und riss ihn von den Eingeweiden bis zur Kehle auf.
Hefaidd-Hen schrie. Ein Schrei der Überraschung und des äußersten Schmerzes. Fearghus und Morfyd ließen seinen Körper los. Die widernatürliche Bestie stürzte der Erde entgegen, während sie vergeblich versuchte, ihre Eingeweide im Körper zu halten und das Feuer zu löschen, das sie einhüllte. Morfyd spie der sich entfernenden Gestalt noch einen Zauber hinterher, und Hefaidd-Hen zerbarst in Stücke.
Fearghus sah seine Schwester an. »Das war ein bisschen viel, findest du nicht?«
Sie zuckte unschuldig die Achseln. »Ich gehe gern auf Nummer sicher.«