Er hörte sie aus dem Raum rennen.
Sie tun gut daran zu rennen.
Er würde seine Schwester bekommen. Er würde die Schlampe tot sehen, und wenn er die halbe Welt in Trümmer legen musste, um sie zu erwischen.
»Jetzt weiß ich, warum die Frauen im Dorf ihr aus dem Weg gehen. Sie ist verrückt.«
Fearghus der Zerstörer bettete seine enorme Masse in der Nähe des unterirdischen Sees seiner Höhle. »Sie ist nicht verrückt, kleine Schwester. Sie ist zornig.«
Morfyd lehnte sich an den Felsblock ihrem Bruder gegenüber und zog ihren Umhang eng um ihren Körper. Ihre menschliche Gestalt fror ständig, fröstelte andauernd. Und dennoch lebte sie frei unter den Menschen. Sie glaubten alle, sie sei ein Mensch. Lediglich eine mächtige Hexe und Heilerin. Selbst als Annwyls Bruder in den frühen Tagen seiner Herrschaft befahl, ihr das Gesicht aufzuschlitzen, blieb sie ein Mensch. Fearghus konnte einfach nicht verstehen warum.
Doch zum ersten Mal musste Fearghus die Hilfe seiner Schwester als Mensch in Anspruch nehmen. Seine Macht konnte Annwyl nur für kurze Zeit am Leben halten. Morfyd und ihre Drachenmagie aus uralter Zeit halfen dem Mädchen tatsächlich, indem sie ihre geschädigten Organe heilten. Und als Frau konnte sie gut für die Bedürfnisse des Mädchens sorgen.
Morfyd nickte. »Soweit ich gehört habe, gibt es viel, worüber sie zornig sein kann. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass ihr Vater ein Tyrann war und ihr Bruder sie von dem Tag, an dem sie erschien, hasste.«
»Weißt du, warum?« Fearghus merkte, wie dieses Mädchen ihn immer zwanghafter faszinierte.
»Ich weiß, dass sie nicht dieselbe Mutter haben. Annwyls Mutter hat ihren Vater nie geheiratet. Du weißt, wie wichtig das für diese Menschen ist. Und Lorcan ließ sie nie vergessen, dass sie ein Bastard war. Und dann auch noch ein armer Bastard, aus einem kleinen Dorf östlich von Kerezik.«
»Kann man ihr trauen?«
Morfyd zuckte die Achseln. »Ihre Männer sind ihr treu ergeben. Und ebenso wie die Frauen im Dorf sie meiden, respektieren sie sie auch. Sie vertrauen ihr das Leben ihrer Männer an. Aber ob wir ihr trauen können? Das weiß ich nicht, Bruder. Sie ist trotz allem ein Mensch.«
Fearghus war sich ebenfalls nicht sicher, ob er Annwyl trauen konnte. Drachen besaßen Mächte, die die meisten Kreaturen weit übertrafen. Doch diese Mächte, wie ihre Fähigkeit, Flammen zu speien oder sich in Menschen zu verwandeln, hielten sie am Leben. Menschen waren ein verräterischer und gefährlicher Haufen und machten es zu einer Art Übergangsritus, einen von seiner Art zu töten. Nein. Seine Brüder bauten auf Verschwiegenheit. Er konnte und würde das nicht einem Mädchen preisgeben, über das er nichts wusste. Allein schon, sie in seine Höhle zu bringen, war ein gefährliches Risiko, das er normalerweise nie eingehen würde. Nur sehr wenige wussten, dass ein Drache in der Finsteren Schlucht wohnte. Und diejenigen, die in der Vergangenheit unabsichtlich auf ihn gestoßen waren, hatte er schnell zum Schweigen gebracht. Doch das war in Annwyls Fall nicht infrage gekommen. Sie faszinierte ihn wirklich, genau wie er gesagt hatte. Ihre Unerschrockenheit. Ihre Kraft. Ihre Schönheit. Und sie war schön. Groß. Stark. Braunes Haar mit goldenen Strähnen, das bis über die Hüften ihres schlanken Körpers fiel.
»Ich bin immer noch beeindruckt, dass sie dich so herausgefordert hat«, fuhr seine Schwester fort. »Obwohl das auch einfach ein zusätzlicher Beweis sein könnte, dass sie verrückt ist.«
Fearghus hörte sie zwar, allerdings nur am Rande. Seine Gedanken waren mit dem Moment beschäftigt, als er Annwyl gefunden hatte. Er hatte sich in einen Menschen verwandelt, um ihr leichter die Rüstung abnehmen und an ihre Wunde herankommen zu können. Er erinnerte sich, wie unmittelbar und heftig sein menschlicher Körper auf ihren Anblick reagiert hatte. Nackt, blass und mit ihrem eigenen Blut bedeckt, war da etwas an ihr, das etwas in ihm auslöste. Während er den Zauber sprach, der sie am Leben erhalten würde, bis Morfyd kam, sah sie ihn mit den dunkelsten grünen Augen an, die er je gesehen hatte. In den folgenden Tagen, während er sie pflegte, sah er diese Augen immer wieder in seinen Träumen. Und diesen langen, schlanken Körper mit den vielen Narben aus unzähligen Kämpfen. Ohne es auch nur zu versuchen, nahm dieses Mädchen seine Aufmerksamkeit gefangen, und er konnte nicht aufhören, an sie zu denken, was ungewöhnlich war. Eine ganze Menge Frauen hatten sein Leben in den mehr als zweihundert Jahren, die er nun existierte, geziert. Jede von ihnen schön und kultiviert. Manche Menschen, andere Drachen. Doch keine bezauberte ihn so wie dieses winzige Mädchen. Wie groß war sie überhaupt? Vielleicht knapp über eins achtzig? Er lächelte; nur sein Volk würde sie »winzig« nennen.
Ein kleiner Feuerball traf ihn im Gesicht. Er sah wieder seine Schwester an, der sich noch Rauch aus den menschlichen Nasenlöchern kräuselte.
»Was denn, du Zicke?«
»Ich sagte, sie wird zu ihren Männern zurückkehren wollen, sobald sie kann.«
»Ich weiß.«
Seine Schwester lächelte zu ihm herauf. »Und wirst du dafür bereit sein, Idiot?«
»Für dich immer noch Mylord Idiot.« Fearghus legte den Kopf auf seine gekreuzten Unterarme. »Und ja, du Landplage. Ich werde bereit sein.«
Egal, wie schön er Annwyl auch fand, er würde sich nicht mit einem menschlichen Mädchen einlassen. Er würde sie ganz einfach gesund werden lassen und sie dann zurück zu ihrem Volk schicken. Und das war alles.
3
Annwyl träumte wieder. Seit das Schwert dieses Bastards sie gepfählt hatte, kam derselbe Traum immer und immer wieder. Von einem schönen Mann mit langen, schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Groß, mächtig und stark. Er stand über ihr, wischte ihr die Stirn ab und flüsterte sanft, dass sie leben würde. Und einmal, in ihrem Lieblingstraum, hatte er sie geküsst. Der sanfteste, süßeste Kuss, den sie je bekommen hatte.
Und jedes Mal, wenn sie aufwachte und er nicht da war, verengte ihr derselbe Stich des Bedauerns die Brust und schmerzte in ihrem ganzen Körper. Dasselbe sehnsuchtsvolle Stechen quälte sie in ihren wachen Stunden.
Vor langer Zeit hatte Annwyl die Hoffnung aufgegeben, dass sie je einen Mann finden würde, den sie lieben und respektieren konnte. Die Krieger in der Burg ihres Bruders waren brutal, roh und oft dumm. Zu dem Zeitpunkt, als sie floh und ihr eigenes Heer anführte, war sie innerlich schon fast tot. In den zwei Jahren, die sie den Aufstand anführte, hatten ein paar ihrer Männer Interesse an ihr gezeigt … bis etwas sie wütend machte. Dann schienen sie sich alle irgendwie von ihr zu entfernen. Anders der Drache. Er schreckte nicht vor ihrem Zorn zurück. Er schien ihn zu genießen. Sehr sogar.
Die seltsame Art von Menschen und Tieren. Die hatte sie schon immer verwirrt.
Sie fragte sich, woher sie diesen Mann aus ihren Träumen heraufbeschworen hatte. Hatte sie ihn zuvor einmal gesehen? Vielleicht in einer der Städte oder Dörfer, die ihre Truppen unterstützten? Vielleicht hatte sie ihn auch aus ihrer eigenen Phantasie erschaffen. Sie wusste es nicht. Doch sie bedauerte es in letzter Zeit zunehmend, dass sie aufwachen musste.
Er saß auf ihrer Bettkante und sah sie an, wie er es immer tat. Er streichelte ihr Gesicht mit seiner großen, starken Hand. Sie seufzte zufrieden und lächelte. Er lächelte zurück. Annwyl fühlte sich verwegen in dieser Traumwelt. Schamlos. Sie streckte eine Hand aus und schlang sie um seinen Nacken, zog ihn zu sich herab, um ihn zu küssen. Sie mochte diesen Traumliebhaber, er widersetzte sich ihr nicht. Stattdessen ließ er sich von ihr führen. Als ihre Lippen sich berührten, reagierte ihr ganzer Körper. Die starke Hitze, die von seinem Körper ausging, züngelte über ihre Haut. Ihre Knospen zogen sich zusammen und wurden hart, bettelten um die Berührung seiner starken Hände. Hitze und Feuchtigkeit pulsierten zwischen ihren Beinen. Sie fühlte Dinge, die sie nie zuvor gefühlt hatte. Und sie wollte mehr.