»Er hat dich wirklich gebrandmarkt«, fügte Morfyd hinzu.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe einfach noch nie so ein … Dunkles gesehen. Außer das von meiner Mutter. Diese Linien sind kohlschwarz.«
»Er sagte, es wäre deutlich, dass meine Liebe und Loyalität einem Drachen gehören. Dein Bruder hat es ernst gemeint.« Annwyl blinzelte, als sie sich an die ganze Inbesitznahme der letzten Nacht erinnerte. Sie hob die Felldecke über ihren Beinen an und seufzte. »Also ehrlich!«
Morfyd spähte über die Decke und lachte schnaubend beim Anblick von Annwyls Schenkeln. Drachen, größer als die auf ihren Unterarmen, und deutlich in ihr Fleisch eingebrannt. »Er ähnelt Bercelak mehr als irgendwem von uns klar war«, lachte Morfyd.
»Tja, ich werde jedenfalls keine Kette tragen. Das überlasse ich der Königin.«
Morfyd lehnte sich zurück, und ihr Lächeln ließ erkennen, was für eine schöne Frau sie war, trotz der Narbe. »Wenn du willst, könnte ich Stulpen machen lassen, die die Male auf deinen Armen verdecken. Wenn du dich unsicher fühlst.«
Annwyl schüttelte den Kopf. »Nein. Was sind schon ein paar mehr Narben, Brandzeichen, Verbrennungen? Abgesehen davon werde ich meine Treue deinem Bruder gegenüber vor keinem Mann verstecken.« Sie stand auf und steuerte auf die Badewanne zu. »Und wenn einer von ihnen es wagt, mich eine Drachenhure zu nennen, schlage ich ihm den Kopf ab.« Sie blieb stehen und deutete auf die Wanne. »Also, kannst du diesen Trick mit dem Wasser machen?«
20
Brastias suchte die Festung nach ihr ab. Immer wieder verschwand sie einfach. Und wenn sie eines ihrer Verstecke gefunden hatten, suchte sie sich einfach ein anderes.
Ein Jahr war vergangen, seit Annwyl ihren Bruder geköpft und seinen Platz als Herrscher von Garbhán und den Dunklen Ebenen eingenommen hatte. Sechs Monate lang hatte sie Aufstände genauso schnell niedergeschlagen wie sie sich gebildet hatten. Sie schmiedete mit benachbarten Königreichen Bündnisse, die es fast ein Jahrhundert lang nicht gegeben hatte.
Doch als die Kämpfe endeten und Annwyls Königreich friedlich wurde, schien sie zunehmend unglücklich. Schnell wurde ihm bewusst, dass sie eine Herrscherin für Kriegszeiten war. Ihre Herrschaft geboren aus Blut und Kämpfen um Land. Das war alles, was sie kannte.
Doch Brastias wusste auch, dass sie mit Fearghus an ihrer Seite sehr viel weniger rastlos gewesen wäre. Doch der Drache kam nie zu ihr. Und sie kehrte nie in die Finstere Schlucht zurück, um ihn zu suchen.
Morfyd dagegen blieb als Ratgeberin an ihrer Seite. Mit beinahe zweihundertfünfzig Jahren Wissen in ihrem schönen Körper half sie Annwyl bei den Entscheidungen um Frieden und Politik. Brastias tat, was er konnte, doch es war Morfyd, die Annwyl davon abhielt, Adligen aus einer Laune heraus die Köpfe abzuschlagen. Ein erstaunlicher Drache war sie.
Er war gerade an einem unbenutzten Schlafzimmer vorbeigekommen, als er ein Geräusch hinter der Tür hörte. Das Geräusch einer Buchseite, die umgeblättert wurde.
Brastias ging zurück und schob die schwere Eichentür auf. Er fand sie lesend an einem Fenster; eine einsame Kerze war die einzige Lichtquelle im Raum.
»Annwyl?«
»Was denn?« Ihr schnippischer Tonfall verstärkte sich mit jedem Monat, der verstrich.
»Wir brauchen dich in der Haupthalle.«
»Warum?«
»Delegationen sind hier, um dir ihren Tribut zu bringen.«
»Schon wieder?« Sie klang so genervt, dass er ihr beinahe die Wahrheit gesagt hätte. »Kannst du das nicht machen, Brastias?«
»Ich herrsche nicht über dieses Land.«
»Na schön!« Sie warf ihr Buch durch den Raum und stürmte an ihm vorbei. Als sie außer Reichweite für einen Boxhieb war, seufzte er vor Erleichterung tonlos auf und folgte ihr.
Er zuckte zusammen, als er sah, was sie trug. Lederhose, Lederstiefel und eines von diesen verfluchten ärmellosen Kettenhemden, die sie unbedingt tragen musste. Ihre gebrandmarkten Unterarme waren für den ganzen Hofstaat sichtbar. Er dachte daran, sie zu bitten, sie mit Stulpen zu verdecken, doch er hing an seiner Kehle und wollte sie auch auf keinen Fall durchtrennen lassen.
Er dachte an den bevorstehenden Abend und hoffte, dass Morfyd ihren Plan sorgfältig durchdacht hatte.
Annwyl stolzierte in den Thronsaal. Einige der Adligen begannen, sich zu verneigen, schienen sich dann aber daran zu erinnern, wie sehr Annwyl das hasste und bremsten sich. Wäre sie nicht so genervt von der ganzen Prozedur gewesen, hätte sie gelacht. Aber sie war genervt. Sehr, sehr genervt.
Annwyl warf sich auf den Steinsessel mit der hohen Lehne, den ihr Bruder und Vater einst als Thron benutzt hatten. Sie hasste ihn. Und sie benutzte ihn nur für Gelegenheiten wie diese.
»Lady Annwyl …«, begann Morfyd, doch Annwyl unterbrach sie. »Können wir das einfach hinter uns bringen?«
Morfyd nickte. »Wie du willst.«
Delegationen von den benachbarten Königreichen begannen, vor sie zu treten. Sie brachten ihren Tribut an Edelmetallen oder Schmuck. Oder überreichten etwas, das in ihrem Land viel bedeutete. Doch Annwyl bemerkte langsam noch etwas anderes. Jeder zweite Adlige, der vor sie trat, brachte ihr einen Sohn. Einen starken, vor Männlichkeit strotzenden, unverheirateten Mann. Als das Haus von Arranz drei Söhne präsentierte; einer von ihnen ein Junge von nicht mehr als zehn und zwei Jahren, hatte sie genug.
»Entschuldigt mich.« Sie stand auf und ging hinüber zu Morfyd. »Kann ich dich mal kurz sprechen?«
Sie gab dem Drachen keine Chance zu antworten, sondern nahm ihren Arm und zerrte sie aus dem Thronsaal in einen Bedienstetenflur.
»Was soll das?«, wollte Annwyl wissen.
»Was glaubst du wohl? Und lass mich los!«
Annwyl erinnerte sich im Stillen daran, dass Morfyd wirklich ein Drache war. Sie konnte auf der Stelle beschließen, sich zu verwandeln und die ganze Festung mitreißen.
»Ich will das nicht.«
»Niemand sagt, dass du einen von ihnen als Gefährten nehmen sollst. Aber du solltest zumindest so aussehen, als dächtest du darüber nach. Wenn sie glauben, einer ihrer Söhne hätte eine Chance, dein Gemahl zu werden, haben wir ein bisschen mehr Verhandlungsmacht.«
»Verhandlungsmacht wofür?«
»Getreide aus Kerezik. Bauholz aus Madron. Die Liste ist lang. Hörst du nicht zu bei unseren täglichen Beratungen über die Lage in deinen Ländern?«
»Natürlich nicht. Sie sind todlangweilig.«
»Nicht alles kann mit Blutvergießen zu tun haben, Annwyl.«
»Kannst du mich nicht holen kommen, wenn es Blutvergießen gibt? Ansonsten kannst du mich einfach in Ruhe lesen lassen.« Morfyd nahm Annwyl bei den Schultern und schubste sie nicht allzu sanft zurück in den Thronsaal.
Widerwillig kehrte Annwyl zu ihrem Thron zurück und ließ die unangenehme Prozession weitergehen.
Irgendwann hörte sie auf, überhaupt einen von ihnen anzusehen. Sie setzte sich seitwärts in ihren großen Sessel, die Beine über die Armlehnen geworfen. Sie reagierte höflich auf jeden Gesandten, doch sie konnte ihren Verdruss über die ganze Prozedur nicht länger verbergen.
Doch als der Erbe des Hauses Madron mit seiner Entourage hereinstolzierte, wusste sie, dass sie nun wirklich langsam mit ihrer Geduld am Ende war.
Der Ratgeber von Madron machte die Ankündigung. »Lady Annwyl von der Insel Garbhán, das Volk von Madron bringt Euch seinen Dank und unsterbliche Treue.«
Annwyl warf Brastias und Morfyd finstere Blicke zu, die sich in einer Ecke zusammendrängten und sie beobachteten. Sie wussten beide, was sie von Hamish Madron hielt. Und wie Hamish Madron für sie fühlte.