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Rhiannon verbrachte die Stunde vor Tagesanbruch in dem Versuch, das, was auch immer ihre Mutter mit ihr angestellt hatte, rückgängig zu machen, damit sie sich wieder in einen Drachen zurückverwandeln konnte. Ohne Erfolg.
Sie vermisste ihr Drachen-Ich. Sie vermisste ihre Flügel und ihre Krallen. Sie vermisste es, ein Pferd als schnelle Mahlzeit einnehmen zu können.
Aber was am wichtigsten war: Sie fühlte sich in diesem menschlichen Körper unsicher. Sie piekte in ihre Haut und es schmerzte. Sie grub ihren Fingernagel in ihren Unterarm und es blutete. Bei den Göttern! Wie leben diese Menschen bloß damit?
Und dann war da noch Bercelak. Sie war sich in der Nacht sicher gewesen, dass er zu ihr kommen würde. Dass er kommen würde, um sie in Besitz zu nehmen. Und sie wäre auch vorbereitet gewesen. Bereit, ihn als Mensch herauszufordern. Bereit zu sterben, wenn er als Drache gekommen wäre. Doch er kam überhaupt nicht. Und sie am Ende auch nicht.
Er sollte sich zum Teufel scheren! Nie hatte es ein männliches Wesen, irgendein männliches Wesen geschafft, dass sie sich so … so … bedürftig fühlte. Und sie hungerte nicht nach Essen oder Sicherheit oder sonst etwas Wichtigem. Sondern nach Sex. Sie wollte endlich geritten werden von diesem Mistkerl, und sie hasste ihn dafür, dass sie sich so fühlte. Vor allem, weil es immer so bequem gewesen war, überhaupt nichts zu fühlen.
»Bist du bereit?«
Sie wandte den Blick von den beiden frühmorgendlichen Sonnen zu dem Drachen, der neben ihr stand. Sie standen am Eingang seiner Höhle, Meilen über der Erde. Wenn sie jetzt von hier hinunterfiel, würde sie sterben. Vielleicht hatte ihre Mutter darauf gehofft. Dass ihre menschliche Gestalt zerschmettert und Bercelak gezwungen sein würde, sich um die Überreste zu kümmern.
»Ich warte immer noch darauf, dass du mir erklärst, warum wir nach Kerezik gehen.«
Sie zog am Ausschnitt des Kleides, das sie trug. Es war keineswegs hochgeschlossen. Um genau zu sein, endete der Ausschnitt gefährlich tief über ihren Brüsten. Ein klein wenig tiefer, und man hätte ihre Nippel gesehen. Sie hasste es, Kleidung zu tragen, aber sie fühlte sich furchtbar nackt ohne sie, und doch hatte sie das Gefühl zu ersticken, wenn sie sie anhatte.
»Eigentlich gehen wir in das Tal zwischen den großen Bergen von Kerezik.«
»Faszinierend. Ich warte immer noch auf den Grund.«
Er sah sie an, und seine Schuppen verdeckten kaum die Stelle, wo sie ihm die Haut aufgerissen hatte. Sie gab sich keine Mühe, ihr Grinsen darüber zu verbergen.
»Und du wirst weiter warten«, knurrte er. »Jetzt steig auf, Drachenprinzessin. Oder ich bringe dich in meiner Klaue dorthin.«
Ohne ein weiteres Wort schwang sie sich auf seinen Rücken. »Ich bin nicht mehr auf dem Rücken eines anderen Drachen geritten, seit ich ein Baby war. Das könnte lustig werden.«
Um das zu betonen, fuhr sie mit ihren Händen durch seine Haare, bevor sie sich festhielt. Sie hörte sein unterdrücktes Stöhnen und biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Drachen ertrugen einfach nicht viel Spott.
Ohne ein weiteres Wort stieg Bercelak in die Luft und steuerte auf Kerezik zu … und auf das, was auch immer dort war.
»Und meine Mutter kennst du ja.«
Rhiannon konnte ihr Knurren kaum zurückhalten, als Bercelak sie seiner ganzen Sippe vorstellte. Eine extrem große, gut aussehende Brut, die an diesem Tag wohl alle das Bedürfnis verspürt hatten, Menschengestalt anzunehmen. Sogar Bercelak hatte eine Garnitur Kleidung dabei. Kettenhemd und -hose und einen dunkelblauen Wappenrock mit dem Wappen von Menschen, die die Armee der Königin schon vor langer Zeit vernichtet hatte.
Er stellte sie seiner ganzen Verwandtschaft als die Frau vor, die er in Besitz nehmen wollte.
Der Mistkerl!
Seine Mutter neigte kurz den Kopf, aber sie sah den Hass in den Augen der Frau. »Prinzessin.«
»Gebieterin.«
Goldene Augen wandten sich Bercelak zu. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, mein Sohn?«
»Natürlich.« Er nickte ihr zu. »Ich bin gleich zurück.«
»Wie du willst«, brummelte Rhiannon und wünschte, sie hätte ihm am Abend zuvor die Kehle zerfetzt.
Jemand, sie hatte keine Ahnung wer, drückte ihr einen Becher Wein in die Hand, während sie sich an einen langen Esstisch lehnte, der schon für ein Festmahl gedeckt war.
»Ich bin Maelona.«
»Ich erinnere mich«, seufzte Rhiannon, unfähig, ihren Verdruss über ihre momentane Lage zu verbergen.
»Bercelaks jüngste Schwester.«
Rhiannon bekämpfte den Drang zu sagen: »Na und?«
»Ich bin auch eine Hexe.«
Jetzt sah Rhiannon die Frau überrascht an. Sie war ein zierlicher grüner Drache mit Bercelaks schwarzen Augen und als Mensch besonders hübsch mit ihrem dunkelgrünen Haar. Vermutlich glitzerte sie wie Smaragde, wenn sie ein Drache war. Sie lehnte sich neben Rhiannon an den Tisch.
»Eine Hexe? Ich? Meine Fähigkeiten sind …« Rhiannon zuckte die Achseln. »Schwach.« Peinlicherweise.
»Wirklich?« Noch eine Schwester, Ghleanna oder so ähnlich, lehnte sich auf Rhiannons anderer Seite an den Tisch. »Das überrascht mich. Ein weißer Drache ohne jede Magie? Da stimmt doch was nicht.«
Stimmte im Moment überhaupt irgendetwas?
»Vielleicht.«
»Hast du dich je gefragt warum?«
»Warum was?«
»Warum dir anscheinend die Magie fehlt?«
»Nein. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass ich so geboren wurde.«
Ghleanna, ein schwarzer Drache und einige Jahrzehnte älter als Bercelak, hob eine glänzende schwarze Augenbraue. »Vielleicht.«
»Was soll das heißen?« Rhiannon hatte keine Geduld für Wortspiele mit den niederen Klassen.
Statt die Frage zu beantworten, stellte Ghleanna selbst eine. »Du weißt aber schon, dass deine Mutter etwas mit unserem Vater hatte … lange vor unser aller Geburt natürlich.«
»Ghleanna!«, mahnte ihre jüngere Schwester.
»Was denn? Das ist doch wohl kein Geheimnis!«
»Ist es nicht.« Rhiannon nippte an ihrem Wein. »Wenn ich es richtig verstehe, gibt es in einem gewissen Alter wenige, die nichts mit eurem Vater hatten.«
»Das ist wohl wahr«, lachte Ghleanna. »Mein Vater kann gut mit Frauen. Das liegt ihm im Blut.«
»Und das habt ihr alle geerbt, nehme ich an?«
»Ein paar von unseren Brüdern. Und eine unserer Schwestern.«
»Und Bercelak.«
Beide Schwestern spuckten ihren Wein aus.
Rhiannon blickte mit hochgezogener Augenbraue zwischen den Schwestern hin und her. »Hab ich etwas Falsches gesagt?«
»Bercelak wer?«, wollte Ghleanna wissen, während sie sich das Kinn abwischte.
»Unser Bercelak?«, fragte Maelona überrascht.
»Na ja … schon.«
»Er ist überhaupt nicht wie Vater.«
»Vater ist sehr jovial und fröhlich«, erklärte Maelona. »Wohingegen Bercelak sehr … ähm …«
»… mürrisch und unglaublich launisch ist?«
»Das ist nicht fair, Schwester.« Maelona sah Rhiannon an. »Er war immer nett zu mir.«
»Zu mir war er auch immer nett«, unterbrach Ghleanna sie. »Aber er ist trotzdem nicht unbedingt eine Stimmungskanone. Ich glaube nicht, dass ich ihn je lächeln gesehen habe.«
»Mutter sagt, er hätte früher gelächelt … du weißt schon … bis Vater …«, sie zuckte die Achseln, »na ja … du weißt schon.«
Ghleanna nahm noch einen Schluck Wein. »Vaters Art, uns zu erziehen, unterscheidet sich von den meisten.«
»Man lernt auf jeden Fall, wachsam zu sein. Ich bin im Kampf noch nie gefangen genommen oder verletzt worden.«
»Aye. Das stimmt.«
Neugierig, wie ihre Reaktionen ausfallen würden, gab Rhiannon zu: »Mich lächelt er an.«