»Du verstehst das nicht.«
Er umschloss auch ihren anderen Arm sanft und zog sie an sich. »Dann erkläre es mir.«
Rhiannon holte tief Luft und sah zu Boden. »Sie wusste, wie sehr mich das verletzen würde. Wie sehr kein Drache zu sein an mir … an mir zehren würde, bis nichts mehr von mir übrig ist.« Sie sah zu ihm auf. »Ich weiß, dass du es nicht siehst. Ich weiß, dass du die wahren Absichten meiner Mutter nicht siehst. Du hattest schon immer Scheuklappen an, wenn es um sie ging. Aber sie wird nicht eher zufrieden sein, als bis sie mich vernichtet hat, Bercelak. Bis rein gar nichts mehr von mir übrig ist. Deine Familie … sie lieben einander. Deine Mutter beschützt euch alle, und dein Vater … er würde eher sterben, bevor er zulässt, dass irgendeinem von euch etwas passiert. So etwas gibt es bei meiner Mutter und meinen Geschwistern aber nicht. So etwas hatte ich nie und werde es auch nie haben.«
Sie holte tief Luft und entzog sich seinem Griff. »Sie wird dich vor die Wahl stellen, Bercelak. Ich weiß, dass du es dir nicht vorstellen kannst. Aber glaube es mir.«
Mit einem langen traurigen Blick auf ihn, der ihm das Herz zerriss, wandte sie sich ab und ging. Zurück ins Schloss und in die Sicherheit seiner Sippe.
Rhiannon saß auf dem schrägen Fenstersims vor ihrem Zimmer und starrte hinaus über die Festungsmauern von Aileans Schloss und Ländereien, während die zwei Sonnen verblassten, um der Nacht zu weichen. Das Einzige, was sie von einem Sturz abhielt, war ihr fester Halt mit den Füßen.
Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Fragte sich, wo dieser spezielle Weg sie hinführen würde. Sie wusste jetzt, dass sie Bercelak liebte. Sie wusste es, weil sie ihr Leben für ihn riskiert hatte und weil sein verletzter Blick ihr das Herz in ihrer schwachen menschlichen Brust zerrissen hatte. Sie liebte ihn, aber sie konnte ihm nur Schmerz verursachen. Ihre Mutter würde schon dafür sorgen.
Götter, wie sie diese Frau hasste. Ihre eigene Mutter. Egal, was die Menschen dachten: Drachen waren nicht die gottlosen Kreaturen, für die sie ihre Art hielten. Sie liebten, sie verzweifelten. Sie fühlten Freude und Schmerz. Sie empfanden all die Dinge, von denen Menschen dachten, nur ihre Art könne sie spüren.
Mehr als achtzig Jahre lang hatte Rhiannon ihr Herz ausgeschaltet. Sie erlaubte sich selbst kaum Gefühle, und dennoch hatte ihre Mutter einen Weg gefunden, sie zu verletzen. Wenn das auch eigentlich nicht überraschend war, denn nur eine Mutter wusste, wie sie ihre Kinder verletzen oder stärken konnte. Wo Bercelaks Mutter immer ein freundliches Wort oder eine sanfte Berührung für ihre gesetzlose Brut hatte, hatte Addiena nur Spott und Klagen für ihre.
Rhiannon war nicht bewusst gewesen, wie sehr ihr die Liebe ihrer Mutter gefehlt hatte, bis sie hierhergekommen war. Bis sie sah, wie Bercelaks Familie miteinander umging.
Ein Teil von ihr wollte sie hassen. Hassen dafür, dass sie die Hoffnung in ihr weckten, sich eines Tages so sicher fühlen zu können wie sie alle. Dass sie eines Tages eine Familie haben würde, die stritt und schrie und sich auch sonst gegenseitig fast zu Tode nervte, die sich aber trotzdem liebte und gegenseitig beschützte, als sei es ihr Recht.
Aber nein … das würde sie niemals haben. Dieses Leben würde sie niemals haben.
Sie seufzte und dachte gerade darüber nach, wieder hineinzugehen, als Maelona schrie: »Spring nicht!« Rhiannon erschreckte und spürte, wie ihr Körper auf dem glatten Untergrund rutschte, als sie das Gleichgewicht verlor. Sie glitt ab, ihre Hände tasteten nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Ihr menschlicher Körper würde diesen Sturz niemals überleben, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ohne Flügel abbremsen sollte.
Ihre Beine rutschten über die Kante, und sie glitt ins Leere.
Bercelak lehnte sich im Lieblingssessel seines Vaters zurück und nahm den Kelch Wein, den seine Mutter ihm anbot. Er warf ihr einen Blick zu und sie lächelte.
»Keine Sorge. Der ist nicht von deinem Vater. Er ist von mir.«
Nickend nahm er einen großen Schluck.
Ihre Hand strich über sein Gesicht und legte sich unter sein Kinn. Das tat sie oft und gerne.
»Mutter?«
»Hmmm?«
»Hast du es je bereut, mit meinem Vater zusammen zu sein?«
»Warum fragen mich das ständig alle?«
»Wie bitte?«
»Nichts.« Sie setzte sich an den Tisch ihm gegenüber und fuhr sich mit den Händen durch ihr goldenes Haar. »Das ist nicht leicht zu beantworten, mein Sohn. Zumindest dir nicht.«
»Warum?«
»Weil du nicht so leicht abzuspeisen bist wie deine restliche Sippe.« Sie zuckte leicht die Achseln. »Weißt du, es gibt Opfer, die alle Gefährten füreinander bringen müssen. Und man tut es gern, weil man sie liebt.«
»Du magst es nicht, so viel Zeit als Mensch zu verbringen, oder?«
Sie schwieg lange, dann sagte sie: »Ich vermisse meine Höhle. Ich vermisse meine Ungestörtheit. Ich habe gelernt, diesen Körper zu ertragen, weil …« Sie lächelte sanft, und ihr Sohn hob die Hände.
»Ich verstehe.« Wenn es eines gab, was er und der Rest des Universums über seinen Vater wussten, dann, dass der Mistkerl einer Frau Freude bereiten konnte. Doch Ailean hatte besonderen Spaß daran, den Körper einer menschlichen Frau zu erkunden. »Dann hast du also viel aufgegeben.«
»Nein. Ich habe meine Höhle noch. Ich gehe dorthin, wenn dein Vater im Krieg oder auf Reisen ist. Wenn ich allein bin, bin ich immer Drache, und ich genieße es. Aber nichts, absolut nichts macht mir so viel Freude wie dein Vater.«
»Er ist laut und unausstehlich.«
»Er ist urkomisch und leidenschaftlich und dein Vater.«
»Leider.«
Die Hand seiner Mutter, die hart auf den Eichentisch niederfuhr, ließ Bercelak zusammenzucken, obwohl er sonst niemals zusammenzuckte.
»Dein Vater liebt dich, du Rotzlöffel. Er würde sterben, um dich zu schützen und will nur, dass du glücklich bist. Ich habe nie einen Drachen so stolz gesehen wie deinen Vater an dem Tag, als du ihn zum ersten Mal mit deinem finsteren Blick angesehen hast. Schon damals wusste er, dass du etwas Besonderes bist. Anders. Also glaub bloß keine Sekunde, dass du ihn nicht ernst nehmen musst, und glaub auf gar keinen Fall, du könntest ihn vor mir schlecht machen. Das werde ich nicht dulden!«
Bercelak neigte den Kopf. »Es tut mir leid.«
Er hörte seine Mutter tief einatmen. Dann noch einmal. Schließlich sagte sie: »Schon gut. Ich weiß, dass du frustriert bist und nicht weißt, was du tun sollst. Aber ich weiß, du wirst das Richtige tun.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Die Tür zum Studierzimmer ging auf und sein Vater kam herein, hielt aber inne, sobald er die beiden so ernst dreinblicken sah.
»Oh, Entschuldigung. Ich … ähm … unterbreche doch nichts, was mir unangenehm sein könnte, oder?«
Shalin lachte. »Nein, du alter Bär. Tust du nicht. Ich unterhalte mich nur mit unserem Jungen.«
Ailean nickte. »Gut. Gut.« Er ging zu seiner Gefährtin hinüber, sprach aber zu seinem Sohn. »Übrigens gute Arbeit mit den Soldaten da draußen.«
»Danke, Vater.«
»Deine Frau hat ihre Sache auch gut gemacht. Ich bin beeindruckt, dass sie keine fade Prinzessin ist.«
»Sie hat mich beschützt.«
»Gut. Gut.« Sein Vater hob seine Mutter hoch, setzte sich in den Sessel und zog sie auf seinen Schoß, wo er sie fest umschlang, wie er das immer tat. »Ich mag sie, wenn dir das etwas bedeutet. Sie ist ein bisschen ungehobelt, aber ich denke, das liegt daran, dass sie keine Wahl hatte mit dieser Hexe von einer Mutter, mit der sie geschlagen ist.«
»Da bin ich deiner Meinung«, antwortete Bercelak ernst. »Ich weiß nur nicht, wie ich sie glücklich machen soll.«
»Das wirst du noch rechtzeitig lernen. Vielleicht willst du ja nachsehen, ob sie auf dem Boden aufgeschlagen ist oder nicht. Ich habe sie gerade vom Sims unter ihrem Fenster rutschen sehen.«