Bercelaks Kopf ruckte hoch. »Was?«
Eine starke Hand schnappte sie am Handgelenk. »Hab dich!«
Rhiannon sah zu Ghleanna auf, die zu ihr herablächelte. »Fast hätten wir dich verloren.«
»Deine Schwester hat mich zu Tode erschreckt!«
Ghleanna hievte Rhiannon mit Leichtigkeit zurück durch ihr Zimmerfenster. »Die ist schreckhaft wie ein Reh. Sie dachte, du würdest dich zu Tode stürzen.«
»So menschlich bin ich nun doch noch nicht geworden.«
»Freut mich sehr, das zu hören.«
Maelona zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Ich hatte eine Panikattacke.«
»Davon hat sie viele«, scherzte ihre Schwester.
»Nein, das stimmt nicht! Ich hab sie nur da draußen sitzen sehen und mir Sorgen gemacht.«
Die Tür wurde aufgetreten und krachte gegen die Wand, als Bercelak mit großen Schritten hereinkam. »Warum hast du über dem Abgrund gehangen?«
Mit einem Seitenblick auf Ghleanna sagte Rhiannon mit falschem Ernst: »Ich konnte nicht mehr. Ich habe beschlossen, alledem ein Ende zu machen.«
Er runzelte verwirrt die Stirn. »Was?«
Ghleanna packte Maelona und zog sie aus dem Raum. »Wir lassen euch einfach allein damit, in Ordnung?«
Die Tür schloss sich und Rhiannon sah Bercelak an. »Glaubst du wirklich, ich würde etwas Dummes tun? Hast du so eine geringe Meinung von mir?«
»Mein Vater sagte nur, er hätte dich vom Gebäude herunterfallen sehen.«
»Wenn er mich gesehen hat, warum hat er dann nicht geholfen?«
Bercelak schnaubte. »Mein Vater? Hast du eine Ahnung, wie oft der alte Mistkerl mich schon vom Dach geworfen hat, als ich ein Mensch war? Für ihn ist das eine Mut- und Geschwindigkeitsprobe.«
»Dein Vater ist …«
»Furcht einflößend? Schrecklich? Gestört?«
»Interessant.«
Bercelak verdrehte die Augen und schüttelte kurz den Kopf. »Vergiss ihn.« Seine Stimme wurde unglaublich tief, während seine schwarzen Augen sie unverwandt ansahen. »Komm zu mir, Rhiannon.«
Während sie ums Bett herumging, sodass es zwischen ihnen stand, murmelte sie: »Warum sollte ich?«
»Weil ich es dir befehle.«
Rhiannon lachte laut auf. »Als wenn das etwas zu sagen hätte!«
Er nahm das Halsband hoch, das immer noch am Kopfende festgekettet war, und hielt es ihr hin. »Ich sehe schon, heute Abend wird es wieder die harte Tour.«
»Dann musst du mir das Ding erst mal anlegen, Nichtswürdiger. Und ich glaube nicht, dass du das schaffst.«
Er grinste, offensichtlich nur zu gern bereit, die Herausforderung anzunehmen, doch stattdessen ließ ihn ein weiteres Klopfen an der Tür fluchen.
»Was denn?«
Einer von Bercelaks Brüdern drückte die Tür auf und sah herein. »Wir brauchen dich unten, Bruder.«
»Was ist denn los?«
»Die Wachen der Königin sind hier und wollen mit dir reden.«
Rhiannon blieb ruhig, sie war nicht bereit, auf diese Nachricht zu reagieren, doch sie sah, wie die Farbe aus Bercelaks Gesicht wich. Es war nicht Angst um sich selbst, sondern um sie, die diese Reaktion hervorrief.
»Sag ihnen, dass ich sofort unten bin.«
Sein Bruder nickte und ging.
Bercelak wandte sich Rhiannon zu. »Komm zu mir, Rhiannon.«
Diesmal tat sie es ohne zu fragen, und er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich. »Bleib hier, bis jemand von meiner Familie dich holen kommt.«
Sie nickte und spürte, wie seine Lippen über ihre Stirn strichen.
Dann ließ er sie los und war fort.
10
Der Vollmond war gekommen und wieder gegangen, und immer noch war Bercelak nicht zu ihr zurückgekehrt.
Sie wusste, dass er vorgehabt hatte, sie in der Nacht des Vollmonds in Besitz zu nehmen, wie es Sitte war, aber sie hatte die Nacht allein in ihrem Zimmer verbracht, auf die Festungsmauern hinausgestarrt und zu den Drachengöttern für die Sicherheit ihres Geliebten gebetet.
Seine Familie hatte getan, was sie konnte, um sie bei Laune zu halten, doch selbst sie konnte sehen, wie sie begannen, sich Sorgen zu machen, als die Tage vergingen. Selbst sein Vater sah langsam ernst aus.
Jetzt saß sie in ihrem Speisesaal und hatte ein Buch im Schoß, ohne zu lesen, während sie mit leerem Blick durch den Raum sah. Bercelaks Familie beschäftigte sich damit, Waffen zu schärfen, zu lesen, zu reden oder mit kleinen Flammenstößen Dinge in Brand zu setzen. Dennoch blieben sie immer in ihrer Nähe und beschützten sie, wie sie es zweifellos Bercelak versprochen hatten, bevor er ging.
Shalin saß nicht weit von ihr und studierte das Buch, das die alte Drachenhexe ihnen gegeben hatte, doch soweit Rhiannon wusste, hatte sie immer noch keinen Weg gefunden, den Zauber der Königin rückgängig zu machen. Obwohl Shalin der Meinung war, sie hätte den Zauber gefunden, den Rhiannons Mutter gewirkt hatte. Im Moment sah es aus, als würde Rhiannon Addiena womöglich töten müssen, um den Zauber zu brechen … als hätte sie auch nur die Spur einer Chance dazu. Nicht, solange sie Mensch und ihre Mutter von ihren verdammten Wachen umgeben war.
Ein Teil von ihr hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie je wieder fähig sein würde, sich in einen Drachen zu verwandeln. Doch diese Sorge verblasste gegen ihre Angst davor, was Bercelak passiert sein konnte.
»Lord Bercelak ist zurück!«, schrie einer der menschlichen Diener aus dem Hof herauf.
Rhiannon stand so schnell auf, dass sie ihren Stuhl umwarf und ihr das Buch vom Schoß fiel, das sie vollkommen vergessen hatte. Sie schob sich an Bercelaks Familie vorbei, die geschlossen auf die Tür des Speisesaals zusteuerte. In seiner Drachengestalt befreite sich Bercelak von seiner Kampfrüstung, die laut scheppernd zu Boden fiel. Er stieg darüber hinweg und verwandelte sich beim Gehen in seine menschliche Gestalt.
Ihre Knie wurden weich, als sie sah, dass er lebte und anscheinend unverletzt war. Doch sie sah seinen Blick. Etwas stimmte nicht, und sie konnte nur raten, was es war.
Der nackte Bercelak nahm auf der Treppe, die zum Saal hinaufführte, zwei Stufen auf einmal. Mit nur einem kurzen Nicken in Richtung seiner Mutter nahm er Rhiannon fest an der Hand und zerrte sie zur Treppe. Sie warf einen Blick zurück auf seine verwirrte Familie und folgte ihm, ohne eine andere Wahl zu haben. Er führte sie die Treppe hinauf und zurück in ihr Zimmer. Dort angekommen, schloss er die Tür hinter ihnen.
Im Zimmer ließ er sie los und schritt zum Fenster. Er stellte sich dorthin, wo sie Nacht um Nacht gestanden und auf seine Rückkehr gewartet hatte. Sie hatte sogar auf einem Stuhl geschlafen, weil sie es nicht über sich brachte, ohne ihn ins Bett zurückzukehren.
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, die Beine breit gespreizt.
Mehrere Minuten sagte Bercelak nichts, und sie wartete und starrte seinen menschlichen Körper an. Nie zuvor hatte sie seine Muskeln so fest und angespannt gesehen, nicht einmal, wenn er sie vögelte.
Schließlich sagte er: »Du hattest recht. Was deine Mutter angeht. Und anscheinend auch, was meinen Ruf unter den meisten an ihrem Hof angeht.«
Sie sagte immer noch nichts und ließ es ihn auf seine eigene Art sagen.
»Sie will, dass ich dich breche, und dann … da bin ich mir sicher … wird sie mir befehlen, dich zu töten. Um meine Treue zu beweisen. Und«, brachte er mühsam heraus, »sie scheint zu denken, dass ich das tun werde.«
Bercelak räusperte sich, dann sprach er weiter. »Das Erste, was sie mich gefragt hat, war, ob ich dich schon in Besitz genommen habe, und als ich Nein sagte, schien sie erleichtert. Sie weiß, es wäre für jeden Drachen schwer, seine Gefährtin zu töten. Deshalb brachte sie immer neue Entschuldigungen vor, um mich dortzubehalten, damit der Vollmond vorübergeht. Soweit ich den Hofklatsch mitbekommen habe, dachte sie, der Sturz würde dich töten.« Er sah sie über seine Schulter an, und Rhiannon sah die Liebe und den Schmerz in diesen schönen schwarzen Augen. Mit einem sanften Lächeln sagte er: »Sie hat deinen Überlebenswillen unterschätzt, denke ich.«