Sie rieb sich die Seite. Ihre Wunde war immer noch ein bisschen empfindlich, aber fast verheilt. Der Drache und die Hexe hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet, sie am Leben zu halten.
Dennoch zerbrach sie sich den Kopf über ihre Abmachung mit dem Drachen. Wollte sie ihren Bruder so verzweifelt besiegen? Wollte sie so unbedingt das Blut ihres Bruders auf ihrem Schwert sehen, dass sie das Leben des Drachen riskierte, der sie gerettet hatte? Die Antwort war ein klares Ja.
Doch sie musste verrückt sein. Sie sollte besser fliehen. Zurück zu ihren Männern. Zurück in die Sicherheit ihrer Truppen und fort von dem Drachen. Das sollte sie wirklich. Höchstwahrscheinlich würde sie das aber nicht tun. Die Frage, die sie sich unaufhörlich selbst stellte, war allerdings: warum. Warum verließ sie diesen Ort nicht? Warum verließ sie ihn nicht?
Und warum schien ihm selbst die Vorstellung genauso zu widerstreben, jedes Mal, wenn sie davon sprach zu gehen?
Annwyl lächelte, als sie daran dachte, wie ihr kleiner Raum in seiner Höhle immer besser eingerichtet wurde. Zuerst waren es nur ein Bett zum Schlafen und ein Esstisch für sie gewesen. Danach erschienen mehrere gepolsterte Stühle. Dann ein Teppich. Dann ein Wandbehang. Ein paar hübsche silberne Kerzenleuchter mit süß duftenden Kerzen.
Er wollte, dass sie sich wohlfühlte. Zu Hause. Überraschenderweise fühlte sich die Höhle der Bestie mehr wie ein Zuhause an als jeder andere Ort, an dem sie gelebt hatte, seitdem sie als Kind zu ihrem Vater geschickt worden war.
Nein. Sie konnte dem Drachen seine Freundlichkeit niemals zurückzahlen. Vielmehr gehörte ihr Leben bereits ihm. Und doch spürte sie keine Furcht. Auch wenn sie es eigentlich sollte. Er konnte alles von ihr verlangen als Rückzahlung für ihre Blutschuld. Nein, sie fühlte etwas ganz anderes als Furcht. Vorfreude.
Annwyl blieb stehen, in ihrer stillen Träumerei unterbrochen. Sie hatte den Kampf schon gespürt, bevor sie das Klirren von Schwertern und die Schreie sterbender Männer gehört hatte. Sie wusste, dass sie noch nicht all ihre Kraft zurückgewonnen hatte, aber sie musste nachsehen. Musste wissen, ob die Männer ihres Bruders in die Schlucht des Drachen vorgedrungen waren. Und wenn das so war, würde sie sie alle töten. Sie würde den Drachen nicht noch mehr Gefahren aussetzen.
Sie lief schnell und lautlos, beruhigt durch das Gewicht ihres auf den Rücken geschnallten Schwertes und des Dolchs, der in einer Scheide an ihrer Hüfte steckte. Sie glitt hinter einen Felsblock und beobachtete den brutalen Kampf. Die Männer ihres Bruders. Ungefähr acht von ihnen. Sie alle kämpften gegen einen Mann.
Den Mann aus ihren Träumen.
Annwyls Brust wurde eng und Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie beobachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen. Sein Gesicht war das Gesicht, das sie fast jede Nacht in ihren Träumen sah, während sie ihre Kraft zurückerlangte. Die schwarzen Haare dieselben, in die sie immer ihre Hände vergrub. Wer zur Hölle war das? Abgesehen von der Erinnerung aus ihren Träumen erkannte sie ihn immer noch nicht. Ein Fremder. Ein großer, wunderschöner Fremder, der auf dem leuchtend roten Waffenrock über seinem Kettenpanzer das Wappen einer Streitmacht trug, die man seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Annwyl schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich zu glauben, dass ihr Traum lebendig geworden war und jetzt brutal gegen die Männer ihres Bruders kämpfte.
Und wie er kämpfte! Er bewegte sich schnell. Schneller, als sie je zuvor einen Mann sich bewegen sehen hatte. Sein Geschick mit dem Schwert war beispiellos. Er erledigte zwei der Männer innerhalb von Sekunden und ging dann auf die übrigen sechs los.
Doch das Schwert an ihrem Rücken lenkte sie von dem Edelmann ab. Es waren nicht acht Männer in der Schlucht des Drachen gewesen … es waren neun.
»Lady Annwyl. Als ich die Männer dieses Gebiet erkunden ließ, hatte ich keine Ahnung, dass wir dich finden würden.«
Annwyl knirschte mit den Zähnen. Sie erkannte diese Stimme. Desmond L’Udair. Einer der vielen Leutnants ihres Bruders, und der Mann, der ihr einmal während eines Festessens an die Brust gefasst hatte. Natürlich hielten nur die verbliebenen vier Finger seiner rechten Hand das Schwert, das sich jetzt in ihr Rückgrat bohrte.
»Lord L’Udair. Ich hatte so gehofft, du seist tot.« Sie sah ihn über ihre Schulter hinweg an. »Wie geht’s der Hand?«
Manche fanden L’Udair gut aussehend. Doch sie sah nur seine hässliche Seite. Wie jetzt, als seine Lippen sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Er schnappte sie an den Haaren und riss sie zu sich heran, sodass ihr Rücken mit dem Schwert gegen seine Brust knallte.
»Die Frage, meine Süße, ist wie immer, ob ich dich deinem Bruder mit oder ohne Kopf zurückbringe.« Er setzte ihr die Klinge seiner Waffe an den Hals. »Oder sollen wir vielleicht noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen, bevor ich dich zurückbringe? Ich schulde dir noch was für den Verlust meines Fingers.«
»Leg dich zu mir, L’Udair, und du riskierst den Rest deiner … Teile.« Sie lächelte ihn an und sah sein anzügliches Grinsen verblassen.
»Was mich wundert«, sagte eine ruhige Stimme vor ihr, »ist, dass du ihn noch nicht getötet hast.«
Annwyl richtete ihren Blick auf den geheimnisvollen Mann, der während L’Udairs Drohungen den Rest des kleinen Spähtrupps eliminiert hatte.
»Hast du wirklich Zeit hierfür?«, fragte er.
Sie hob eine Augenbraue. »Du hast natürlich vollkommen recht.« Annwyl zog den Dolch aus der Scheide an ihrer Seite, hob ihn in einer einzigen fließenden Bewegung rückwärts über ihre Schulter und hielt erst inne, als er L’Udairs Auge durchstach. Sobald er zu schreien begann, löste sie sich von ihm, bevor er sie mit seinem eigenen Schwert erledigen konnte. Sie hätte ihm den Kopf abgeschlagen, doch er starb schnell, und Toten trennte sie nur selten den Kopf ab.
Annwyl hörte, wie sich der Mann aus ihren Träumen bewegte. Sie zog das Schwert, das auf ihrem Rücken festgeschnallt war, und setzte ihm die Spitze an die Kehle, als er auf Armeslänge herankam. »Halt, Edelmann.« Sie starrte ihn an, während sie tief Luft holte, um ihr schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Bei den Göttern, er ist schön! Und Annwyl traute ihm nicht weiter über den Weg, als sie ihn hätte werfen können. Und das war nicht weit. Er war bestimmt der größte Mann, den sie je gesehen hatte. Von oben bis unten harte Muskeln, die Macht und Stärke ausstrahlten.
Sie verstärkte ihren Griff um ihr Schwert. »Ich kenne dich.«
»Und ich kenne dich.«
Annwyl runzelte die Stirn. »Wer bist du?«
»Wer bist du?«
Ihre Augen verengten sich. »Du hast mich geküsst.«
»Und ich glaube, du hast mich geküsst.«
Annwyls Zorn wuchs, während ihre Geduld für Spielchen stark abnahm. »Vielleicht ist dir entgangen, dass ich dir eine Klinge an die Kehle halte, Edelmann.«
»Und vielleicht ist dir entgangen« – er schlug ihr Schwert weg und setzte ihr die Spitze seines eigenen an die Kehle –, »dass ich nicht irgendein willenloser Speichellecker bin, der für deinen Bruder schuftet, Annwyl die Blutrünstige von den Dunklen Ebenen.«
Annwyl sah hinab auf das Schwert und wieder zurück zu dem Mann, der es hielt. »Wer zur Hölle bist du?«
»Der Drache hat mich geschickt.« Er senkte sein Schwert. »Und er hatte recht. Du bist zu langsam. Du wirst Lorcan niemals besiegen.«
In ihr brandete die Wut auf, und sie hieb mit ihrem Schwert nach ihm. Doch es war keines ihrer oft trainierten Manöver. Es fühlte sich ungeschickt und schlampig an. Er blockte sie mit Leichtigkeit ab und schleuderte sie zu Boden.