Addiena knurrte, und plötzlich bewegte sich ihre Mutter in Rhiannons Blickfeld. Ihr Götter, die Alte war schön in Menschengestalt! Vielleicht sogar noch schöner als Shalin … Wie ihre Mutter das gewurmt haben musste!
»Ach ja. Deine Gefährtin«, schnaubte sie. »Wie geht es der lieben Shalin?«
»Ihr geht es gut. Sie ist sehr glücklich.«
Addienas Augen verengten sich gefährlich, und Rhiannon wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. »Ach, wirklich?«
»Aye.« Ailean trat vor die Königin. Seine großen Hände liebkosten sanft ihr Gesicht, ihren Hals; und obwohl ihre Mutter sich die größte Mühe gab, ihren wachsenden Zorn am Lodern zu halten, konnte sie offenbar die Gefühle nicht ignorieren, die diese Hände, die sie streichelten, in ihr auslösten.
Rhiannon sah schweigend zu, wie Ailean die Stirn ihrer Mutter küsste, ihre Wangen, ihre Nase, während er langsam vorwärtsging. Verloren in ihren Gefühlen für ihn, achtete Addiena nicht darauf, wohin er sie führte.
»Weißt du, Addiena, Shalin hat es immer bedauert, wie eure Freundschaft zu Ende ging.«
Freundschaft? Was für eine verdammte Freundschaft? Jetzt, wo es gerade interessant wurde!
»Das war ihre Wahl, Ailean. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie dich für sich wollte?«
»Das ist nicht mehr wichtig, meine Liebste. Aber sie hat dir ein Geschenk geschickt.«
Während sie ihren Kopf nach hinten beugte, damit Ailean ihren Hals küssen konnte, stöhnte sie: »Geschenk? Was für ein Geschenk?«
Jetzt, wo Ailean die Frau direkt vor sie manövriert hatte, beugte Rhiannon sich vor und flüsterte: »Tja, meine Königin« –, die Kette fest in beiden Händen, schlang Rhiannon das schwere Silber um den Hals ihrer Mutter und riss sie dicht an sich – »dieses Geschenk!«
Die Wachen griffen augenblicklich an, doch Ailean verwandelte sich, und Bercelak und er stellten sich ihnen gemeinsam entgegen.
Flammen stiegen von ihrer Mutter auf, doch sie erloschen sofort wieder.
Mit beinahe demselben Zauber, den Addiena an Rhiannon verwendet hatte, hatte Shalin die Kette getränkt, sodass die Schlampe sich nicht verwandeln konnte.
Ihre Mutter wusste es auch, nach der Heftigkeit und Brutalität zu urteilen, mit der sie sich plötzlich wehrte und nach den Armen und dem Gesicht ihrer Tochter krallte.
Knurrend zog Rhiannon sie von den kämpfenden Drachen fort in eine Ecke. »Komm, Mutter, lass uns das unter vier Augen besprechen.«
Eins musste Bercelak seinem Vater lassen: Der Mann konnte den Drachengöttern ihr Gold abschwatzen, wenn er wollte. Er hatte nicht ernsthaft daran geglaubt, dass sein Vater immer noch dieselbe Wirkung auf die Königin haben würde wie einst. Doch er tat alles, was er versprochen hatte. Er hatte Addiena dazu gebracht, menschliche Gestalt anzunehmen und hatte sie dicht genug an Rhiannon heranmanövriert, dass diese die Kette benutzen konnte, die seine Mutter ihnen erst an diesem Morgen gegeben hatte.
Als seine Mutter sie am Tag zuvor mit der Ankündigung eines Plans geweckt hatte, war Bercelak ein wenig skeptisch gewesen. Wenn man seine Sippe sich selbst überließ – wer wusste schon, mit was für verrücktem Blödsinn sie daherkommen würde. Und als er den Plan hörte, hatte er gedacht: »Siehst du? Eine verrückte Sippe heißt, ein verrückter Plan.« Dennoch hatte es funktioniert. Die Verführungskünste seines Vaters galten immer noch. Den Göttern sei Dank.
Während die Wachen sich auf die drei und die Königin konzentrierten, sahen sie nicht, wie seine Geschwister in den Thronsaal schlüpften und dabei die Schatten zu ihrem Vorteil nutzten. Kampfbereit rückten sie vor, sobald Rhiannon die Kette um den Hals der Königin geschlungen hatte.
Die Wachen der Königin, manche von ihnen seine eigenen Kameraden, dachten wirklich, sie könnten die Familie von niederer Geburt mit ihrer guten Kampfausbildung schlagen. Bercelak schnaubte bei dem Gedanken, als er einem Drachen den Kopf umdrehte, bis dessen Knochen knackten, während sein Schwanz einen weiteren Drachen, der versuchte, sich von hinten anzuschleichen, unter dem Kinn aufspießte. Wenn man mit Ailean dem Verruchten als Vater aufwuchs, war man für jeden Kampf gewappnet. Er hatte sie alle schon beim Schlüpfen gelehrt, alles und jedes zu bekämpfen, das ihnen im Weg stand. Und obwohl seine Schwestern definitiv ein bisschen netter behandelt wurden als die männlichen Nachkommen seiner Sippe, waren sie sehr viel brutaler, und Bercelak zuckte zusammen, als zwei seiner Schwestern einen Drachen zwischen sich in Stücke rissen.
Er wandte sich um und suchte nach Rhiannon. Er vertraute der Magie seiner Mutter, aber er wusste nicht, wie stark oder schwach ihre Fähigkeiten im Vergleich zu denen der Königin waren.
Schnell entdeckte er seine Gefährtin und deren Mutter in einer Ecke. Rhiannon hielt die alte Hexe immer noch mit der Kette an der Kehle fest, was bedeutete, dass sie sich immer noch nicht verwandeln konnte. Doch fünf Wachen der Königin rückten rasch vor, und Rhiannon konnte sie nicht abwehren oder mit ihrer Mutter in den Armen weglaufen. Abgesehen davon kannte er seine Rhiannon – sie würde niemals weglaufen.
Während Bercelak durch die Halle stürmte, schlug er größere Drachen beiseite, als wären sie Spielzeug. Nichts konnte ihn davon abhalten, Rhiannon zu erreichen.
Er schnappte zwei Wachen am Hals, riss sie zurück und warf sie seinen Brüdern zu, die ihm gefolgt waren. Er machte sich an die anderen beiden heran, doch plötzlich griff ihn ein kleiner Trupp Kampfdrachen an und umringte ihn geschlossen.
Verzweifelt kämpfte er und versuchte, zu Rhiannon zu gelangen. Er sah, wie die Wachen der Königin wieder vorrückten und die grimmige Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Dann riss sie die Arme nach rechts, und an Bercelaks Ohren drang das Geräusch von brechenden Knochen. Als die Drachen sich ihr näherten, stieß Rhiannon plötzlich einen Seufzer aus. Einen kurzen Augenblick dachte er, einer von ihnen hätte sie mit seiner Schwanzspitze durchbohrt. Doch Flammen, gleißend weiße Flammen wirbelten um sie herum, und dann war Rhiannon Rhiannon die Weiße Drachenhexe. Die mächtigste Drachenhexe im Land. Und jetzt … Königin Rhiannon.
Als sich ihre Macht voll entfaltete und sie ihre Drachenform wiederhatte, hob sie den Kopf und spuckte mit einem mächtigen Brüllen eine Flammensäule, die die felsige Decke über ihr verkohlte.
Alle hörten auf zu kämpfen, und aller Augen ruhten auf ihr.
Sie trat mit ihrer Vorderklaue aus, und der schlaffe Körper ihrer Mutter flog mit gebrochenem Genick über den Saalboden und krachte gegen die gegenüberliegende Wand.
Bercelaks Glied regte sich, als Rhiannons blaue Augen ihren Hofstaat anblickten.
Rhiannon hatte sich nie zuvor so stark, so lebendig gefühlt. Macht – Macht der Götter – floss jetzt durch ihre Adern. Selbst ihre Drachengestalt war größer. All diese Jahre hatte sie gedacht, sie sei einfach winzig, ein Kümmerling. Nein. Ihre Mutter hatte sie eindeutig kleingehalten – doch das war jetzt vorbei.
Sie starrte die Drachen ihres Hofes an. Sie war jetzt Königin. Jetzt war es an ihr zu herrschen.
Doch zuerst …
Mit einem kurzen Zauber entfesselte sie ein Feuerband, getränkt mit mächtiger alter Magie. Wie eine Schlange glitt es durch den Saal, mied Bercelak und seine ganze Familie, bis es jeden Einzelnen der Wachen der alten Königin erreicht hatte. Mit blitzartiger Präzision machte es sich über sie her und ließ nichts zurück als ein Häufchen Asche und ein paar verbrannte Schuppen.
Die anderen, diejenigen, deren Loyalität dem Thron galt und weniger Addiena selbst, sahen schreckerstarrt zu und erwarteten höchstwahrscheinlich, als Nächste dran zu sein. Doch sie hatte nicht vor, die zu töten, die dem Thron treu waren. Sie sollten nur daran denken, wem der Thron jetzt gehörte.
»Meine Mutter ist tot«, wandte sie sich an die Überlebenden. »Ich bin eure Königin. Verneigt euch jetzt vor mir und zeigt mir eure unsterbliche Loyalität oder verlasst den Berg Devenallt und die Dunklen Ebenen für immer und hofft, dass ich euch in diesem Leben nicht mehr wiedersehen werde.«