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»Ihr seid ein Ungläubiger!« rief ich empört. »Ich will keine Gräber sehen, wenigstens nicht eure Gräber! Warum sollte ich auch? Wir haben unsere eigenen Gräber, unsere Familiengräber. Da ist mein Onkel Podger, der hat eine Grabstätte auf dem Kensal Green Kirchhof, die der Stolz der ganzen Gegend ist, und meines Großvaters Grabmal in Bow kann acht Bewohner fassen, und meine Großtante Susanne hat eine gemauerte Grabstätte im Friedhof zu Finchleg mit einem Grabstein, worauf etwas wie ein Kaffeetopf als Basrelief ausgehauen ist, mit einer Einfassung von sechs Zoll dickem Marmor, die viele Pfund Sterling gekostet hat. Wenn ich Gräber sehen will, so gehe ich dahin und vergnüge mich dort. Ich brauche anderer Leute Gräber nicht! Wenn ihr selbst einmal begraben seid, will ich kommen und euer Grab sehen; das ist alles, was ich für euch tun kann.«

Der Alte brach in Tränen aus. Er sagte, eines von den Gräbern habe zu Häupten einen Stein, von dem jemand gesagt habe, es sei wahrscheinlich ein Stück einer menschlichen Figur, und auf einem andern Stein seien Worte eingegraben, die noch kein Mensch habe entziffern können. Aber auch das rührte mich nicht; mit herzbrechendem Tone fragte er nun: »So wollen Sie auch nicht mitkommen und das Gedächtnisfenster sehen?«

Ich wollte auch das nicht sehen. Da verschoß er sein letztes Pulver. Er kam näher auf mich zu und flüsterte heiser: »In der Krypta drunten habe ich ein paar Schädel, die müssen Sie sehen. Kommen Sie nur und sehen Sie sich die an! Sie sind doch ein junger Mann und wollen sich einen lustigen Sonntag machen! So kommen Sie und sehen Sie sich die Schädel an!«

Jetzt wandte ich mich und floh davon. Er aber rief mir noch immer nach: »Kommen Sie zurück und sehen Sie sich die Schädel an!«

Harris dagegen schwärmt für Gräber, Grabsteine, Grabschriften und merkwürdige Inschriften, und der Gedanke, daß er das Grab der Frau Thomas nicht sehen sollte, machte ihn ganz kratzbürstig. Er sagte, er habe die Besichtigung schon in Aussicht genommen, als wir zuerst unsere Wasserfahrt besprochen hatten; ja, er behauptete, er würde gar nicht daran teilgenommen haben, wenn er nicht gedacht hätte, daß er bei dieser Gelegenheit das Grab der Frau Thomas zu sehen bekäme.

Ich rief ihm unsern Georg ins Gedächtnis und erinnerte ihn daran, daß wir das Boot bis fünf Uhr nach Shepperton zu bringen hätten, um dort mit Georg zusammenzutreffen; da fing er an auf Georg zu schimpfen: »Was braucht denn Georg den ganzen Tag herumzulungern, so daß wir uns allein mit diesem verdammt schweren Boot abschinden müssen, um es den Fluß hinaufzuschaffen und richtig mit ihm zusammenzutreffen? Warum konnte Georg nicht kommen und auch etwas schaffen? Warum hatte er sich nicht für den Tag freimachen können, um zugleich mit uns die Fahrt anzutreten? Zum Teufel mit der Bank! Zu was ist er überhaupt auf der Bank nütze? Ich habe ihn dort noch nie etwas arbeiten sehen,« fuhr Harris fort, »so oft ich dahin gehe. Er sitzt den ganzen Tag hinter einem Glasfenster und gibt sich die Miene, als tue er etwas. Was nützt einem denn ein Mann hinter einem Glasfenster? Ich muß mir meinen Lebensunterhalt durch sauere Arbeit verdienen! Warum kann er nicht auch arbeiten? Wozu ist er nütze auf der Bank, und wozu sind Banken überhaupt nütze? Sie nehmen euch euer Geld ab, und wenn ihr dann einen Scheck einlösen wollt, so senden sie ihn euch zurück, ganz vollbeschmiert mit Worten wie: ›Keine Zahlung – zurück an den Aussteller!‹ Was kann denn das nützen! Einen solchen Streich haben sie mir letzte Woche zweimal gespielt; das ertrage ich nicht mehr lange, ich werde meine Einlagen zurücknehmen und mit der Bank abbrechen! Ja, wenn Georg jetzt da wäre, so könnten wir nun dieses Grabmal sehen. Ich glaube überhaupt gar nicht, daß er auf der Bank ist! Er wird irgendwo herumstrolchen, das wird seine ganze Beschäftigung sein! Jawohl! Und uns überläßt er inzwischen die ganze Arbeit mit dem vertrackten Boot. Ich gehe hinaus, ich muß eins trinken!«

Ich bedeutete Harris, daß wir dermalen verschiedene Meilen von einem Wirtshause entfernt seien; da warf er seinen Haß auf den Fluß! »Wozu denn solch ein Fluß nütze sei, und ob denn alle, die ihn befahren, dazu verdammt sein müßten, vor Durst umzukommen?«

Wenn Harris in diese Stimmung gerät, so ist es immer das beste, ihn gewähren zu lassen. Dann pumpt er sich leer und wird wieder ruhig. Ich erinnerte ihn daran, daß wir ja im Korbe kondensierte Limonade hätten, sowie einen Maßkrug Wasser im Vordersteven des Boots, und daß man diese zwei Stoffe nur zu mischen brauche, um einen kühlen, erfrischenden Trunk herzustellen.

Da fing er an, über Limonade und derartiges Sonntagsschulgeläpper, wie er es nannte, loszuziehen, über Ingwerwein, Himbeersaft usw. Er meinte, all das Zeug verursache nur Magenverstimmung und verderbe Leib und Seele gleicherweise; die Hälfte all der Verbrechen, die in Kapland verübt würden, kämen auf ihre Rechnung. Er müsse nun aber absolut etwas zu trinken haben; mit diesen Worten kletterte er nach dem Vordersteven hinüber und suchte nach der Flasche. Sie war natürlich wieder zuunterst im Korb und schien etwas Schwierigkeiten machen zu wollen, und er mußte sich immer tiefer über den Korb beugen. Da er zu gleicher Zeit auch steuern wollte und über seinem Kramen im Korbe die Aussicht verloren hatte, steuerte er in der falschen Richtung, so daß das Boot ans Ufer anfuhr und einen Stoß empfing, der ihn kopfüber in den Korb hineinwarf. Während er die Beine gen Himmel streckte, hielt er sich wie der grimme Tod mit den Händen an beiden Seiten des Bootes fest und wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht, vollends über Bord zu fallen; in dieser Stellung mußte er bleiben, bis ich herangekommen war, ihn an den Beinen ergriff und zurückzog, was ihn natürlich noch wilder machte, als er ohnehin schon war.

*

Wir hielten unter den Weiden bei Kempton Park, um unser Gabelfrühstück einzunehmen. Es ist ein schönes Fleckchen Erde; eine anmutige ebene Wiese zieht sich am Wasser hin; Weiden hängen drüber her. Wir waren eben beim dritten Gange unserer Mahlzeit – Brot und Eingemachtem – angelangt, als ein Mann in Hemdärmeln und kurzer Pfeife daher kam und uns fragte, ob wir auch wüßten, daß unser Lager da ein gesetzwidriger Akt sei. Wir sagten, wir seien in unserer Betrachtung der Angelegenheit noch nicht so weit gediehen, um über diesen Punkt zu einem definitiven Schlusse kommen zu können; wir wollten aber, falls er uns sein Ehrenwort als Gentleman gebe, daß wir gesetzwidrig handelten, solches ohne weiteres Zögern glauben.

Er gab uns die gewünschte Versicherung, und wir bedankten uns schön; aber sonderbarerweise lungerte er immer noch herum und schien nicht ganz befriedigt; da fragten wir ihn denn, ob wir ihm sonst noch mit etwas dienen könnten; und Harris, der gerne mit einem jeden anbandelte, offerierte ihm ein Stückchen bestrichenes Brot. Der Mann – anders kann ich mir die Sache nicht erklären – muß wohl zu irgendeiner Gesellschaft gehört haben, die sich verschworen, niemals bestrichenes Brot an die Lippen zu bringen, denn er wies es ganz mürrisch zurück, als ob er sich ärgerte, daß ihm eine solche Versuchung überhaupt nahegelegt worden sei, und er fügte hinzu, daß er uns austreiben müsse.

Harris meinte darauf, wenn solches seine Pflicht sei, so solle es auch geschehen, und er fragte den Mann, was ihm wohl als die beste Art und Weise zur Ausführung besagter Maßnahme erscheine. Harris ist, was man so einen gut gebauten Mann – Größe Nr. 1 – nennt, und er schaut handfest und knochig drein; und der Mann maß ihn denn auch von oben bis unten und meinte, er müsse heim und seinen Herrn befragen; er würde dann zurückkommen und uns beide in den Fluß hineinspedieren.

Natürlich ward er nicht mehr gesehen, und natürlich wollte er in Wahrheit nichts anderes als einen Schilling. Es gibt so eine Art uferbewohnendes Gesindel, das ein förmliches Geschäft daraus macht, während des Sommers an den Flüssen entlang zu schlendern und von schwachmütigen Dummköpfen auf diese Weise Geld zu erpressen. Sie spielen sich auf, als wären sie vom Eigentümer hergeschickt worden. Das richtige Verfahren ist in solchem Fall, seinen Namen und Adresse anzugeben und ruhig abzuwarten, bis der Eigentümer einen gerichtlich fordert und klaren Beweis und Rechnung über den Schaden liefert, den man seinem Grundbesitz dadurch zufügte, daß man auf ein paar Quadratzentimetern desselben gesessen. Aber die meisten Leute sind so intensiv träge und furchtsam, daß sie es vorziehen, die Betrügerei förmlich großzuziehen, dadurch, daß sie nachgeben, anstatt durch charakterfestes Auftreten dem Schwindel ein Ende zu machen.