Um wieder auf Georg zurückzukommen – nach einer guten Weile bekam auch er seine Leine wieder klar, und dann zog er uns ganz normal bis Penton-Hook. Da besprachen wir nun die wichtige Frage wegen des Nachtlagers. Wir hatten beschlossen, die Nacht an Bord zu schlafen; in diesem Fall mußten wir entweder bleiben, wo wir waren, oder noch bis Staines weiterfahren. Es schien uns noch zu früh, jetzt schon unter Dach zu gehen, da die Sonne noch am Himmel stand, so beschlossen wir denn, gerade noch bis Runnymead, drei und eine halbe Meile weiter stromaufwärts, zu schiffen, wo ein ruhiges, bewaldetes Plätzchen am Ufer einen guten Schutz für die Nacht versprach.
Nachmals wünschten wir indessen alle drei, daß wir lieber in Penton-Hook übernachtet hätten. Drei oder vier Meilen stromaufwärts zu rudern, ist am frühen Morgen eine Kleinigkeit, aber am Ende eines langen Tages eine schwere Arbeit. Während dieser letzten Meilen interessiert euch die schönste Landschaft nicht mehr, ihr mögt nicht mehr schwatzen und nicht mehr lachen. Jede halbe Meile erscheint euch so lang wie zwei ganze. Ihr könnt kaum begreifen, daß ihr erst da seid, und glaubt steif und fest, daß die Karte unrichtig sei; und wenn ihr euch mit Ach und Krach eine Strecke weiter gerudert habt, die euch zum wenigsten zehn Meilen weit dünkt, und die Schleuse dann noch immer nicht in Sicht ist, so fürchtet ihr im Ernst, irgend jemand müsse sie gestohlen oder fortgeschleppt haben. Ich erinnere mich, bei einer Fahrt den Fluß hinauf einmal schmählich aufgesessen zu sein – ich meine natürlich im figürlichen Sinne. Ich hatte eine junge Dame bei mir, eine Cousine mütterlicherseits. Wir waren auf dem Rückweg hinab nach Goring. Es war schon etwas spät, und es lag uns daher daran, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen, d. h. meiner Base lag daran. Schon drohte die Dämmerung hereinzubrechen; da fing das Fräulein an, in Aufregung zu geraten. Sie meinte, zum Abendessen müsse sie zu Hause sein. Ich erwiderte ihr, auch ich verspürte so ein gewisses unbestimmtes Sehnen nach einem Abendbrote. Ich zog die mitgenommene Karte heraus und sah nach, wie weit wir jetzt noch hätten. Ich überzeugte mich, daß es gerade noch anderthalb Meilen bis zur nächsten Schleuse, bei Wallingford, seien, und von da noch fünf Meilen bis Cleeve.
»O, nur keine Angst!« sagte ich; »wir kommen noch vor sieben Uhr durch die nächste Schleuse, und dann gibt es nur noch eine weitere zu passieren.«
So legte ich mich denn wieder ins Zeug und ruderte in gleichmäßigem Tempo weiter. Wir fuhren unter der Brücke durch, und bald darauf fragte ich sie, ob sie die bewußte Schleuse sehe. Sie erwiderte mir aber: nein, sie sehe keine Schleuse; ich bemerkte hierauf: »O!« und ruderte weiter. Nach Verlauf von weiteren fünf Minuten bat ich sie, nun wieder auszuschauen. »Nein,« sagte sie, »ich sehe keine Spur von einer Schleuse.« »Aber bist du – bist du wirklich sicher, daß du weißt, was eine Schleuse ist, wenn du eine siehst?« fragte ich sie etwas zögernd, da ich sie nicht beleidigen wollte.
Aber es beleidigte sie doch, und sie meinte ärgerlich, ich sollte selbst ausschauen; so zog ich denn die Ruder ein und schaute aus. In gerader Richtung lag der Fluß vor uns da, ungefähr eine Meile weit sichtbar – aber weit und breit keine Spur von einer Schleuse.
»Du meinst doch nicht, daß wir den Weg verloren haben, wie?« fragte meine Gefährtin.
Wie dies hätte zugehen sollen, konnte ich zwar nicht einsehen; doch gab ich der Vermutung Ausdruck, wir seien vielleicht auf irgendeine Weise in den Wehrabfluß geraten und steuerten jetzt auf die Wasserfälle zu. Diesen guten Gedanken fand meine Base nicht im mindesten tröstlich; im Gegenteil, sie fing an zu weinen, und sagte, wir würden beide ertrinken, und dies wäre ein über sie verhängtes Strafgericht, weil sie mit mir ausgefahren sei. Das erschien mir nun doch eine ungebührlich harte Strafe zu sein; aber meiner Base kam es nicht so vor; sie äußerte die Hoffnung, es werde bald alles vorüber sein.
Ich versuchte ihr wieder etwas Lebensmut und Hoffnung einzuflößen und die Angelegenheit auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich erklärte ihr, die ganze Geschichte rühre davon her, daß ich eben nicht so geschwind gerudert hätte, als ich geglaubt; aber wir würden nun bald die Schleuse erreichen. Dann ruderte ich noch eine Meile vorwärts.
Jetzt fing ich selbst an, unruhig zu werden. Ich schaute wieder auf die Karte. Da stand die Wallingfordschleuse ganz deutlich bezeichnet – anderthalb Meilen unter der Pensonsschleuse. Es war eine gute, verläßliche Karte, und überdies erinnerte ich mich der Schleuse noch ganz gut von früher her. Ich hatte sie schon zweimal passiert. Aber wo waren wir denn um des Himmels willen? Was war uns zugestoßen? Es kam mir zuletzt alles wie ein Traum vor; mir war's, als müsse ich schlafend im Bette liegen, um in der nächsten Minute mit dem Rufe, es sei zehn Uhr, aufgeweckt zu werden. Ich fragte meine Base, ob sie es für möglich hielte, daß dies alles nur ein Traum sei; sie meinte, sie habe diese Frage eben an mich richten wollen; dann fragten wir uns, ob wir beide wohl schliefen, und wenn dies der Fall wäre, wer von uns wirklich diesen Traum träume, und wer nur eine Traumgestalt für den andern sei. Es war dies eine ganz interessante Untersuchung.
Währenddessen ruderte ich immerzu, aber trotzdem kam noch immer keine Schleuse in Sicht. Der Fluß, von den dunkler werdenden Schatten der Nacht bedeckt, wurde immer düsterer und unheimlicher, überall schien es gespenstisch zu spuken. Ich dachte an Kobolde und Hexen, an Irrlichter und an jene bösen Mädels, die nächtlicherweile auf den Felsen sitzen und die Leute in die Wirbel der Fluten und in solches Zeug hineinlocken; und ich wünschte jetzt ein besserer Mensch gewesen zu sein und mehr fromme Lieder gelernt zu haben.
In solche Betrachtungen versunken, hörte ich auf einmal – wer beschreibt mein Entzücken – auf einer schlecht gespielten Ziehharmonika die Weise »Ach, ich hab' sie ja nur usw.« ertönen, und jetzt wußte ich, daß wir gerettet waren.
In der Regel schwärme ich nicht für die Töne der Ziehharmonika; aber wie herrlich erklangen sie uns beiden in diesem Augenblick! Weit, weit lieblicher als die Stimme des Orpheus oder Apollos Leier oder irgend etwas derartiges uns hätte erklingen können. Himmlische Musik hätte uns beide in unserem damaligen Gemütszustande nur noch tiefer beunruhigen können. Eine ergreifende, schön wiedergegebene Melodie würden wir ohne Zweifel für eine Geisterwarnung gehalten und alle Hoffnungen aufgegeben haben. Aber die Klänge des »Ach, ich hab' sie ja nur usw.«, das krampfhaft aus den Saiten gezerrt und mit unfreiwilligen Variationen vorgetragen wurde, waren unzweifelhaft von Menschenhänden hervorgebracht – ein unsagbar beruhigender Gedanke!
Die süßen Töne kamen näher, und bald lag das Boot, dem sie entströmten, an unserer Seite. Es enthielt eine Partie männlicher und weiblicher Insassen vom Lande, die eine Fahrt im Mondschein machen wollten. (Daß kein Mond scheinen wollte, war ja nicht ihre Schuld!) Ich habe in meinem ganzen Leben keine reizenderen, liebenswürdigeren Leute gesehen. Ich rief sie an und fragte, ob sie mir den Weg nach der Wallingfordschleuse weisen könnten, und teilte ihnen mit, daß ich schon seit zwei Stunden auf dem Lugaus nach dieser Schleuse sei. »Wallingfordschleuse?« riefen sie aus. »Na, Gott soll Ihnen helfen, Herr! Diese Schleuse ist schon seit über einem Jahr abgetragen worden, es gibt jetzt keine Wallingfordschleuse mehr, mein Herr. Sie sind jetzt ganz nahe bei Cleeve!«
»Hol' mich der Kuckuck! Da ist ein Herr, Willy, der nach der Wallingfordschleuse auslugt!«
Daran hatte ich niemals gedacht. Ich hätte allen um den Hals fallen und sie küssen mögen; aber der Fluß strömte zu stark, um das zu erlauben; so mußte ich mich begnügen, ihnen mit kalt klingenden Worten meine warme Dankbarkeit zu bezeigen.
Wieder und wieder dankten wir ihnen und sagten, es sei eine entzückende Nacht, und wir wünschten ihnen eine vergnügte Weiterfahrt; ja, ich glaubte gar, ich habe sie alle auf eine Woche zu mir eingeladen, und meine Base meinte, ihre Mutter würde sich so freuen, sie alle bei sich zu sehen. Dann sangen wir das Soldatenlied aus »Faust« und kamen noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.