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Endlich erreichten wir den Leinpfad, und das machte uns ganz glücklich – vorher hatten wir in der Tat nicht mehr gewußt, ob wir uns dem Flusse näherten oder uns von ihm entfernten; wenn man müde ist und gern zu Bett gehen möchte, regt einen eine derartige Ungewißheit etwas auf. Wir kamen an Shiplake vorbei, als die Turmuhr eben dreiviertel auf zwölf schlug. Da sagte Georg nachdenklich: »Erinnerst du dich wohl, an welcher der Inseln wir vor Anker gingen?« »Nein,« erwiderte ich, indem ich nun auch nachdenklich wurde, »ich erinnere mich nicht. Wie viele Inseln sind es denn?« »Bloß vier,« antwortete Georg, »wir finden uns sofort zurecht, wenn er noch wach ist!« »Aber wenn nicht, was dann?« fragte ich; doch unterließen wir, uns auf die Frage Antwort zu geben. Wir riefen aus Leibeskräften, als wir zu der ersten Insel kamen – aber da war keine Stimme noch Antwort; so gingen wir in die Nähe der zweiten – aber mit demselben Erfolg.

»O, jetzt erinnere ich mich,« sagte Georg, »es war die dritte.«

Hoffnungsvoll rannten wir nach der dritten und ließen unser Hallo ertönen.

Keine Antwort!

Jetzt wurde der Fall wirklich ernst! – Es war nun Mitternacht vorüber. Die Hotels in Shiplake und Henley waren mittlerweile sicherlich überfüllt, und wir konnten doch nicht wohl mitten in der Nacht von Haus zu Haus gehen und um ein Zimmer anfragen. Georg schlug als Auskunftsmittel vor, wir sollten zurück nach Henley gehen, dort einen Polizeidiener angreifen, und auf diese Weise freies Quartier auf der Polizeistation erlangen. Aber dann war die Frage, ob er uns am Ende nicht bloß zurücktreiben und sich weigern würde, uns einzusperren. Wir konnten uns doch nicht die ganze Nacht mit dem Polizisten herumschlagen! Überdies hegten wir kein Verlangen, die Sache auf die Spitze zu treiben und schließlich sechs Monate lang brummen zu müssen. In der Verzweiflung versuchten wir es noch mit dem, was wir für die vierte Insel hielten, aber ohne besseren Erfolg. Der Regen fiel nunmehr reichlicher und schien recht andauernd werden zu wollen. Wir waren naß bis auf die Haut und fühlten uns kalt und elend. Nachgerade waren wir auch im Zweifel, ob es wirklich nur vier Inseln seien, und ob wir uns wohl in deren Nähe befänden, oder ob wir überhaupt nach der Gegend gegangen seien, nach der wir strebten; ob wir uns nicht nach einem ganz anderen Teil des Flusses verirrt hätten, so fremd und seltsam erschien uns alles in der Dunkelheit. Wir begriffen jetzt, was die »Kinder im Walde« ausgestanden haben müssen.

Doch als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten – ja, ich weiß wohl, das ist in Romanen und Novellen immer der Augenblick, in dem dann das rettende Ereignis eintritt – aber ich kann's nicht ändern; als ich dies Buch zu schreiben anfing, gelobte ich mir, in allen Dingen streng bei der Wahrheit zu bleiben, und so soll es sein, und wenn ich dabei auch abgedroschene Phrasen anwenden müßte.

Wir hatten wirklich und wahrhaftig schon alle Hoffnung aufgegeben; ich kann mich daher nicht anders fassen.

Als wir dann gerade alle Hoffnung aufgegeben hatten, da glaubte ich plötzlich in der Ferne einen eigentümlich schaurigen Lichtschimmer zu gewahren, der zwischen den Bäumen des entgegengesetzten Ufers hervorzubrechen schien. Einen Moment lang dachte ich an Geister; denn es war ein solch schattenhaftes, unheimliches Licht. Aber im nächsten Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß das unser Boot sein könnte. – Da schickte ich einen solch gellenden Ruf über das Wasser hin, der die Nacht selbst hätte aus ihrer Ruhe erwecken können. Eine Minute lang warteten wir in atemloser Spannung. Dann – o du himmlische Musik in der Dunkelheit – hörten wir das antwortende Gebell Montmorencys. Wir brüllten jetzt zusammen, laut genug, um die Siebenschläfer zu erwecken; ich habe übrigens nie verstehen können, warum es mehr Lärm brauchen sollte, um sieben Schläfer zu erwecken, als für einen einzigen. Da, es schien uns eine Stunde zu währen, in Wahrheit mögen es etwa fünf Minuten gewesen sein, da sahen wir das erleuchtete Boot langsam über die dunkle Wasserflut daherschweben und hörten Harris' verschlafene Stimme fragen, wo wir seien.

Es war etwas unerklärlich Seltsames in Harris' Wesen; es war mehr als seine gewöhnliche Schläfrigkeit. Er ruderte das Boot an eine Stelle des Ufers, an welcher es uns ganz unmöglich war einzusteigen – und schlief dann sofort wieder ein. Wir brauchten ein unendliches Gebrüll, um ihn wieder aufzuwecken und ihm etwas Verstand beizubringen; doch zuletzt gelang es uns, und wir kamen sicher an Bord.

Wir bemerkten jetzt, daß Harris' Gesicht einen sonderbar traurigen Ausdruck hatte. Er sah aus wie ein Mensch, der Schweres durchgemacht hat. Wir fragten ihn, ob ihm irgend etwas passiert sei. Er antwortete: »Schwäne.«

Wir hatten uns, wie es schien, in der Nähe eines Schwanennestes vor Anker gelegt, und bald nach meinem und Georgs Abgang war die Schwanenmutter heimgekehrt und hatte sofort einen Skandal darüber angefangen. Harris hatte sie davongejagt; da war sie gegangen, den Herrn Gemahl herbeizuholen.

Mit diesen zwei Schwänen, erzählte Harris weiter, habe er eine wirkliche Schlacht gehabt, aber Mut und Geschicklichkeit hätten am Ende obgesiegt, und er habe sie abgetrieben. Eine halbe Stunde später seien sie dann mit achtzehn weiteren Schwänen zurückgekehrt. Es muß ein furchtbarer Kampf gewesen sein, soviel wir aus Harris' Bericht entnehmen konnten. Die Schwäne hatten versucht, das Boot zu kentern und ihn und Montmorency zu ertränken; und er hatte wie ein Held vier Stunden lang alle Angriffe abgeschlagen und das ganze feindliche Heer unschädlich gemacht, so daß sie schließlich davongeschwommen seien, um zu sterben.

»Wieviel Schwäne, sagtest du, waren da?« fragte Georg.

»Zweiunddreißig,« gab Harris schläfrig zurück.

»Aber gerade vorhin sagtest du doch achtzehn,« sagte Georg.

»Nein, so sagte ich nicht,« brummte Harris, »ich sagte zwölf, meinst du denn, ich könne nicht zählen?«

Wie es sich in der Tat mit diesen Schwänen verhielt, das konnten wir nie ausfindig machen. Als wir Harris am andern Morgen über die Sache befragten, antwortete er: »Was für Schwäne?« Er glaubte augenscheinlich, es habe Georg und mir geträumt.

O, wie köstlich war es nun, nach all unsern nächtlichen Gefahren und Abenteuern sicher und wohlgeborgen im Boot zu sein! Wir aßen noch herzhaft zu Nacht. Georg und ich hätten uns nachher gerne noch einen Grog gemacht, wenn wir die Whiskyflasche hätten finden können, aber wir fanden sie nicht. Wir fragten Harris, wo er sie denn hingesteckt habe, aber er schien nicht zu begreifen, was wir mit dem Worte Whisky bezeichnen wollten, oder wovon wir überhaupt sprachen. Montmorency schaute drein, als ob er etwas davon wüßte, aber er sagte nichts.

Ich schlief recht gut in jener Nacht und hätte noch besser geschlafen, wenn Harris nicht gewesen wäre. Ich habe noch eine dunkle Erinnerung, daß ich mindestens zwölfmal von Harris, der die ganze Nacht mit der Laterne in der Hand im Boot hin und her wanderte und seine Kleider suchte, aufgeweckt wurde. Er schien wegen seiner Kleider in Unruhe zu sein. Zweimal störte er Georg und mich auf, um nachzusehen, ob wir nicht auf seinen Beinkleidern lägen. Beim zweitenmal wurde Georg fuchsteufelswild: »Was zum Donner brauchst du jetzt mitten in der Nacht deine Hosen?« fuhr er ihn an, »warum legst du dich denn nicht aufs Ohr und schläfst?«

Das nächstemal, als er mich aufweckte, war er auf der Suche nach seinen Socken; das letzte, dessen ich mich noch dunkel erinnere, ist, daß er mich auf die Seite drehte, und ich ihn murmeln hörte, er möchte doch zum Kuckuck wissen, wo sein Regenschirm hingekommen sei.

*

Ungefähr um elf Uhr bekamen wir Reading in Sicht. Der Fluß ist hier trübe und schmutzig. Um Reading herum hält man sich nicht gern lange auf. Die Stadt selbst ist ein berühmter alter Ort, der schon in den sagenhaften Zeiten des Königs Ethelred bestanden haben soll, als die Dänen mit ihren Kriegsschiffen in Kennet vor Anker lagen und von Reading aus die ganze Grafschaft Wessex verheerten; aber hier kämpften Ethelred und sein Bruder Alfred gegen sie und besiegten sie in gemeinschaftlicher, redlich geteilter Arbeit – Ethelred besorgte das Beten und Alfred das Fechten. In späteren Jahren scheint Reading als ein angenehmer Zufluchtsort betrachtet worden zu sein, wenn einem das Pflaster in London zu heiß geworden war.