Aber wenn unaufhörlicher Regen auf seine braunen, trägen Fluten herniederfällt, daß es klingt, als ob ein Weib in einer dunklen Kammer leise weinte; wenn die Uferbäume, dunkel und schweigend, in Nebelschleier gehüllt, wie Geister am Wasserrand stehen, wie stille Geister, die vorwurfsvoll ihre Augen auf euch richten, wie die Rächer böser Taten – wie die Geister verratener Freunde, – dann ist der frostig trübe Fluß ein unheimliches, spukhaftes, das Land vergeblicher Reue durchziehendes Gewässer. Ja, das Sonnenlicht ist das Lebensblut der Natur! Die Mutter Erde sieht uns mit so dumpfen, seelenlosen Augen an, wenn das Licht der Sonne von ihr geschieden ist. Es macht uns traurig, allein bei ihr zu verweilen. Sie scheint uns dann nicht mehr zu kennen, die Mutter, nicht für uns zu sorgen. Sie gleicht einer Witwe, die den geliebten Gatten verlor; ihre Kinder berühren ihre Hand, sehen ihr in die Augen, können ihr aber kein Lächeln abgewinnen.
Wir ruderten den ganzen Tag lang im Regen dahin; es war ein trauriges Geschäft. Zuerst flunkerten wir uns vor, daß wir uns darüber freuten; es sei doch eine Abwechslung; auch sähen wir den Fluß gerne in all seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Wir könnten mit Grund, sagten wir uns, doch nicht erwarten, immer Sonnenschein zu genießen, noch könnten wir das auch nur wünschen. Wir kamen dahin überein, die Natur sei auch unter Tränen schön.
Harris und ich waren in der Tat ganz begeistert, d. h. während der ersten Stunden. Wir sangen ein Lied, welches das Zigeunerleben und seine Herrlichkeiten pries: »Der Sonn', dem Regen, dem Sturm entgegen« – wir sangen, wie der Zigeuner den Regen so gern gehabt, wie gut derselbe ihm bekommen, und wie er die Leute verlacht, die keinen Geschmack daran finden konnten. Georg faßte den Spaß etwas nüchterner auf und hielt sich an den Regenschirm. Wir hißten die Bedeckung auf, ehe wir frühstückten, und behielten sie auch noch den ganzen Nachmittag droben; nur so viel Raum ließen wir am Bug frei, daß einer von uns die kleinen Ruder gebrauchen und Umschau halten konnte. So legten wir an diesem Tag neun Meilen zurück und ankerten etwas unterhalb der Dayschleuse, um zu übernachten. Ehrlich gestanden, könnte ich nicht sagen, daß wir einen lustigen Abend gehabt hätten. Der Regen strömte noch immer mit stiller Hartnäckigkeit herunter. Im Boot war alles feucht und klebrig. Unser Nachtessen war auch nichts Glorreiches. Kalte Kalbspastete ist nicht sehr einladend, wenn man keinen Hunger hat. Mein Magen verlangte nach frisch gebackenem Weißfisch und Koteletten. Harris schwatzte etwas von Schollen in weißer Sauce, während er die Reste seiner Pastete Montmorency verehrte, der sie aber dankend ablehnte. Er war augenscheinlich durch das Anerbieten beleidigt, ging weg und setzte sich an das andere Ende des Bootes. Georg ersuchte uns, über diesen Gegenstand nicht weiter zu sprechen, wenigstens nicht, bis er mit seinem kalten, gesottenen Rindfleisch fertig sei, das er ohne Senf verzehren mußte.
Nach dem Abendessen spielten wir Karten, den Point zu zehn Pfennig. Wir spielten ungefähr anderthalb Stunden; am Ende hatte Georg gerade vierzig Pfennig gewonnen. Georg hat immer Glück im Spiel. Wir dachten jetzt, dem Laster des Spiels nicht länger zu frönen; denn es führe, sagte Harris, zu weit getrieben, zu einer ungesunden Aufregung. Georg bot uns Revanche an; aber Harris und ich weigerten uns noch weiter gegen das Schicksal anzukämpfen.
Hiernach bereiteten wir uns Toddy (Grog) und setzten uns zu einem Gespräch zusammen. Georg erzählte uns von einem Mann, der vor zwei Jahren den Fluß heraufgefahren und während einer Nacht wie die heutige in einem feuchten Boot geschlafen und davon rheumatisches Fieber bekommen habe; alle ärztlichen Bemühungen seien vergeblich gewesen; zehn Tage nachher sei er unter großen Schmerzen gestorben. Es sei ein noch ganz junger Mann gewesen, setzte Georg hinzu, der demnächst hätte Hochzeit halten sollen. Es sei eine der traurigsten Geschichten gewesen, die ihm je zu Ohren gekommen, schloß Georg seine Erzählung.
Das erinnerte Harris an einen Freund, der, unter den Freiwilligen dienend, im Lager zu Aldershot eine Regennacht im Zelt zugebracht habe; es sei eine Nacht gewesen, »gerade wie heute«, sagte Harris; am andern Morgen sei er als ein Krüppel aufgestanden und seitdem Krüppel geblieben. Harris fügte noch hinzu, er wolle uns beide bei dem Mann einführen, wenn wir nach Hause kämen; das Herz werde uns bei seinem Anblick bluten.
Dies führte dann zu einer weiteren angenehmen Unterhaltung über Ischias, Fieber, Erkältungen, Lungen- und Halskrankheiten; Harris meinte, es wäre doch recht fatal, wenn einer von uns während der Nacht ernstlich krank würde, da wir so weit von einem Doktor entfernt seien.
Es schien nach diesen aufregenden Gesprächen das allgemeine Verlangen nach etwas Erheiterndem vorhanden zu sein; in einem schwachen Augenblick bat ich daher Georg, sein Banjo hervorzuholen und zu versuchen, ob er uns nicht etwas Humoristisches vortragen könne. Ich muß es Georg zu seinem Ruhm nachsagen, daß er sich nicht lange bitten ließ. Er zierte sich nicht, er machte keinen Einwand, wie »er habe seine Noten daheim« usw. Sofort fischte er sein Instrument hervor und fing das Lied »Ein blaues Aug'« zu spielen an. Bis heute abend hatte ich dieses Liedchen immer für ziemlich langweilig gehalten. Aber die reiche Ader von Traurigkeit, die Georg in demselben herauszufinden wußte, machte mich ganz erstaunen. Harris und ich konnten kaum dem Verlangen widerstehen, einander weinend um den Hals zu fallen. Nur mit großer Anstrengung gelang es uns, unsere hervorbrechenden Tränen zurückzuhalten und schweigend der wilden, sehnsuchtsvollen Melodie zu lauschen. Als der Chor einfallen sollte, machten wir sogar einen verzweifelten Versuch, lustig zu sein. Wir füllten nochmals die Gläser und fielen ein. Harris begann den Chorgesang mit vor Rührung zitternder Stimme, während Georg und ich ein paar Takte hinterdrein kamen:
»Ein blaues Auge mir zu schlagen,
Ist so etwas denn wirklich wahr!
Bloß weil ich es gewagt zu sagen:
Er sei im Unrecht offenbar.
Ein – – «
Hier brachen wir zusammen. Das unaussprechliche Pathos von Georgs Begleitung zu dem: »Ein –« waren wir bei unsrem damaligen niedergedrückten Zustand nicht länger zu ertragen fähig. Harris schluchzte wie ein kleines Kind und der Hund heulte so sehr, daß ich jeden Augenblick befürchtete, sein Herz oder sein Kiefer möchte brechen!
Georg wollte noch einen weiteren Vers singen. Er glaubte, wenn er erst die Melodie loshabe und sie etwas freier und leichter vortragen könne, so möchte es wohl weniger traurig klingen. Aber die Gefühle der Majorität widersetzten sich diesem Vorhaben. Da uns nun nichts weiter zu tun übrig blieb, so gingen wir zu Bett – d. h. wir entkleideten uns und warfen uns nachher auf dem Boden des Bootes drei oder vier Stunden lang hin und her, worauf wir dann noch ein paar Stunden, bis ungefähr fünf Uhr, schliefen; hierauf standen wir auf und frühstückten.
Der zweite Tag glich dem ersten aufs Haar. Es fuhr fort zu regnen; wir saßen, in unsere wasserdichten Mäntel eingewickelt, unter unserer Leinwanddecke und trieben langsam den Fluß hinab. Einer von uns – ich vergaß, wer es war; aber ich glaube beinahe, ich war es selbst – machte ein paar schwache Versuche, wieder die alte Zigeunerlustigkeit wachzurufen, als freuten wir uns wie freie Kinder der Natur über die Nässe – aber es wollte nicht ganz gelingen. In der Tat, dieses:
»Was geht mich doch der Regen an« usw.
war ja so offenbar der Ausdruck unserer Gefühle, daß es höchst überflüssig schien, dies auch noch zu singen. Über einen Punkt waren wir alle einig, daß wir nämlich, es möge kommen, was da wolle, den Spaß bis zu seinem bittern Ende durchkosten wollten. Wir hatten uns zu einem vierzehntägigen Vergnügen auf dem Flusse aufgemacht, das wollten wir somit auch haben, und wenn wir drauf gehen sollten! Das wäre zwar für unsere Freunde und Verwandten sehr traurig gewesen, aber zu ändern wäre das nun einmal nicht. Wir fühlten, es wäre ein mehr als schlechtes Beispiel, wenn wir in einem Klima wie dem unsrigen dem Wetter weichen wollten. »Es gilt nur noch zwei weitere Tage auszuhalten,« sagte Harris, »und wir sind ja jung und kräftig. Vielleicht können wir es doch durchmachen.«