Die Kinder schauten voll Spannung auf Jakow, dessen Augen mit lächerlichem Ausdruck unter der Stirn hervorquollen.
»Ja, darüber hab' ich auch schon nachgedacht«, meinte Ilja.
»Es heißt immer: er ist gestorben«, fuhr Jakow leise und geheimnisvoll fort. »Aber was ist denn das – – ›gestorben‹?«
»Die Seele ist fortgeflogen«, erklärte Paschka finster.
»In den Himmel«, fügte Mascha hinzu, und während sie sich an Jakow anschmiegte, schaute sie zum Himmel empor.
Dort waren bereits die Sterne aufgeflammt; einer von ihnen – ein großer, heller Stern, der gar nicht flimmerte – war der Erde näher als die andern und schaute wie ein kaltes, unbewegliches Auge auf sie nieder. Nach Mascha hoben auch die drei Knaben ihre Köpfe empor. Paschka blickte auf und lief gleich darauf irgendwohin weg. Ilja schaute lange und scharf hinauf, mit furchtsamem Ausdruck, und Jakows große Augen irrten an dem blauen Himmel auf und ab, als ob sie dort oben irgend etwas suchten.
»Jakow!« rief sein Kamerad und senkte wieder den Kopf.
»Was?«
»Ich denke immer darüber nach ...« Ilja hielt in seiner Rede inne.
»Worüber denkst du nach?« fragte Jakow ebenso leise wie jener.
»Über die Leute ... Da ist ein Mensch totgeschlagen worden ... Und alle laufen hin und her und tun so wichtig ... und reden allerhand ... aber keiner hat geweint ... nicht ein einziger! ...«
»Jeremjej hat geweint.« »Der hat immer Tränen in den Augen ... Aber Paschka ... wie der sich aufführt! Als ob er ein Märchen erzählte ...«
»Er stellt sich nur so ... Ihm tut sie schon leid, aber er schämt sich vor uns ... Und jetzt ist er irgendwohin gelaufen und heult jedenfalls, was das Zeug hält ...«
Fest aneinandergeschmiegt, saßen sie noch ein paar Minuten da. Mascha war auf Jakows Knien eingeschlafen, das Gesicht noch immer zum Himmel gewandt.
»Hast du Angst?« fragte Jakow ganz leise.
»Ja«, versetzte Ilja ebenso leise.
»Jetzt wird ihre Seele hier umgehen ...«
»Ja – a ... Und Mascha ist eingeschlafen ...«
»Wir müssen sie in die Wohnung bringen ... Ich habe sogar Angst, hier wegzugehen ...«
»Gehen wir zusammen!«
Jakow legte den Kopf des schlafenden Mädchens gegen seine Schulter, umfaßte ihren schmächtigen Körper mit den Armen und erhob sich mit Anstrengung, wobei er Ilja, der ihm im Wege stand, zuflüsterte:
»Wart', laß mich vorausgehen ...«
Unter seiner schweren Last schwankend, schritt er die Kellerstufen hinab, während Ilja, der ihm folgte, fast mit der Nase an seinen Nacken stieß. Es war Ilja, als ob eine unsichtbare Gestalt hinter ihm herschliche, als ob er ihren kalten Hauch an seinem Halse fühlte und jeden Augenblick fürchten müßte, von ihr gepackt zu werden. Er stieß den Freund in den Rücken und rief ihm kaum hörbar zu:
»Geh schneller!«
V
Bald nach diesem Ereignis begann der alte Jeremjej zu kränkeln. Immer seltener ging er aus, um Lumpen zu sammeln, hielt sich meist zu Hause, drückte sich gelangweilt im Hofe herum oder lag auf dem Bett in seiner dunklen Kabine.
Der Frühling kam heran, und wenn die Sonne warm vom blauen Himmel niederstrahlte, saß der Alte irgendwo an einem sonnigen Plätzchen, zählte mit besorgter Miene irgend etwas an seinen Fingern ab und bewegte tonlos seine Lippen. Immer seltener erzählte er den Kindern Geschichten, immer schwerer wurde dabei seine Zunge. Kaum hatte er angefangen zu reden, so mußte er auch schon husten. In seiner Brust röchelte etwas heiser, als ob es um Befreiung bäte ...
»So erzähl' doch weiter«, bat ihn Mascha, die seine Geschichten ganz besonders liebte.
»Wa – arte«, sprach der Alte, mühsam Atem holend. »Gleich ... wird's aufhören ...«
Aber der Husten hörte nicht auf, sondern schüttelte den ausgemergelten Körper des Alten immer heftiger. Zuweilen gingen die Kinder auseinander, ohne das Ende der Geschichte abzuwarten. Wenn sie fortgingen, schaute ihnen Jeremjej mit wehmütigem Blicke nach.
Ilja hatte bemerkt, daß die Krankheit des Lumpensammlers den Büfettier Petrucha und Onkel Terentij ganz besonders beunruhigte. Mehrmals am Tage erschien Petrucha auf der Hoftreppe der Schenke, hielt mit seinen pfiffigen grauen Augen Umschau nach dem Alten und fragte ihn dann:
»Na, wie geht's Geschäft, Großvater? Fühlst dich besser, wie?«
Selbstbewußt sah man seine stämmige Gestalt in dem rosa Baumwollhemd einherschreiten, die Hände in den Taschen der weiten, in blankgewichsten Faltenstiefeln steckenden Tuchhosen. Immer hörte man Geld in seinen Taschen klimpern. Sein runder Schädel begann über der Stirn bereits kahl zu werden, doch saß noch ein tüchtiger Schopf dunkelblonden, gelockten Haares darauf, und er liebte es, wie ein Geck sein langes Haar in den Nacken zu werfen. Ilja war ihm nie recht zugetan gewesen; und jetzt wuchs dieses Gefühl der Abneigung bei dem Knaben immer mehr. Er wußte, daß Petrucha Großvater Jeremjej nicht liebte, und eines Tages hörte er, wie der Büfettier dem Onkel bezüglich des Alten Verhaltungsmaßregeln gab.
»Hab' nur acht auf ihn, Terecha! Er ist ein alter Filz! ... Er muß 'nen hübschen Batzen Geld im Kopfkissen eingenäht haben. Halt ja die Augen offen! ... Hat nicht mehr lange zu machen, der alte Maulwurf; du bist ihm befreundet, und er hat keine lebendige Seele auf der Welt! ... Merk' dir das, mein Lieber! ...«
Die Abende brachte Großvater Jeremjej, wie früher, in der Schenke bei Terentij zu; er unterhielt sich mit dem Buckligen über Gott und die menschlichen Angelegenheiten. Der Bucklige war, seit er in der Stadt lebte, noch mißgestalteter geworden. Es war, als wenn er von seiner Arbeit aufgeschwemmt worden wäre. Seine Augen hatten einen trüben, scheuen Ausdruck bekommen, und der Körper war gleichsam in dem heißen Dunst der Schenke zerschmolzen. Das schmutzige Hemd kroch ihm beständig auf den Buckel hinauf und ließ seine nackten Lenden sehen. Wenn Terentij mit jemandem sprach, hielt er die ganze Zeit seine Hände auf dem Rücken und suchte beständig mit rascher Handbewegung das Hemd zurechtzuzupfen, was den Eindruck erweckte, als ob er etwas in seinen Buckel hineinzustopfen suchte.
Wenn Großvater Jeremjej draußen im Hofe saß, ging Terentij auf die Vortreppe und schaute nach ihm aus, wobei er die Augen zusammenkniff und mit der Hand beschattete. Das strohgelbe Bärtchen in seinem spitzen Gesichte zuckte, wenn er den Alten mit schuldbewußter Stimme fragte:
»Großväterchen Jerema! Habt Ihr nicht was nötig?«
»Danke schön! ... Habe nichts nötig ... nichts hab' ich nötig! ...« versetzte der Alte.
Der Bucklige machte langsam auf seinen dürren Beinen kehrt und ging in die Schenke zurück.
»'s wird wohl nichts mehr werden mit mir«, sagte Jeremjej immer häufiger, »'s ist wohl Zeit für mich, zu sterben! ...«
Eines Tages, als er sich in seinem Winkel schlafen legte, begann er nach einem Hustenanfall zu murmeln:
»Zu früh sterb' ich, o Herr! Hab' mein Werk noch nicht vollbracht! ... Geld hab' ich angehäuft ... so manches Jahr lang ... für eine Kirche in meinem Heimatsdorfe ... Gar not tut es den Menschen, daß sie Gottestempel haben, die uns eine Zuflucht sind ... Zu wenig hab' ich gesammelt ... o Gott! Das Rabenvolk flattert um mich her, es spürt den fetten Bissen!... Merk' dir's, Iljuschka: ich hab' Geld ... Sag's keinem Menschen, aber merk' dir's! ...«
Ilja horchte auf das Geflüster des Alten – er fühlte sich gehoben als Mitwisser eines wichtigen Geheimnisses und begriff, wen der Alte mit dem Rabenvolk meinte. Und ein paar Tage später, als er aus der Schule kam und sich in seinem Winkel auszog, hörte er, wie Jeremjej röchelte und schluckte, als wenn ihn jemand würgte, und dabei ganz seltsame Laute ausstieß:
»Ksch ... kschsch ... weg da! ...«
Ängstlich versuchte der Knabe die Tür zur Kammer des Alten zu öffnen, doch sie war verschlossen. Hinter der Tür ließ sich als Antwort nur ein ängstliches Flüstern vernehmen: