»Ksch ... kschsch! ... O Herr ... erbarme Dich ... erbarme Dich! ...«
Ilja trat an den Bretterverschlag und schaute, zitternd vor Erregung, durch eine Spalte. Er sah den Alten auf seinem Bett liegen und mit den Armen in der Luft fuchteln.
»Großväterchen!« rief der Knabe noch einmal voll Angst.
Der Alte fuhr zusammen, hob den Kopf auf und murmelte laut:
»Ksch! ... Petrucha ... laß sein, denk' an Gott! Ihm gehört's! ... Einen Tempel will ich ihm davon bauen ... Ksch!... Weg, du Rabe! ... O Herr ... es ist Dei–ein! ... Schütze es ... Nimm's an Dich ... erbarme Dich ... erbarme Dich!«
Ilja erbebte vor Furcht und vermochte nicht, sich von der Stelle zu rühren: er sah nur immer, wie die schwarze, dürre Hand Jeremjejs sich kraftlos in der Luft bewegte und mit dem gekrümmten Finger drohte.
»Schau her! Es gehört Gott! ... Rühr's nicht an! ...«
Dann erhob sich der Alte und saß plötzlich aufrecht auf seinem Bett. Sein weißer Bart zitterte wie der Fittich einer Taube im Fluge. Er streckte die Arme vor, als ob er mit dem letzten Kraftaufwand jemanden von sich stoßen wollte, und stürzte zu Boden.
Ilja schrie auf und rannte davon. In seinen Ohren klang immerzu das Zischen:
»Ksch ... ksch ...«
Der Knabe stürzte in die Schenke und rief atemlos:
»Er ist gestorben ...«
Terentij stieß ein erstauntes Ach! aus, trippelte unruhig auf einer Stelle hin und her und zupfte krampfhaft an seinem Hemd, wobei er Petrucha ansah, der hinter dem Büfett stand.
»Na, was wartest du denn?« sagte Petrucha streng und bekreuzte sich. »So geh doch! Gott sei seiner Seele gnädig! Ein wackerer Alter war es ... Ich will mal hingehen ... will ihn sehen ... Ilja, bleib so lange hier ... Wenn was nötig sein sollte, dann hol' mich – hörst du? Jakow, geh hinters Büfett ...«
Petrucha verließ ohne besondere Eile die Schenke, wobei er laut mit den Absätzen auftrat. Die Knaben hörten, wie er hinter der Tür von neuem auf den Buckligen einredete:
»Lauf doch, lauf rasch, du Tölpel! ...«
Ilja hatte von allem, was er gesehen und gehört, einen heftigen Schrecken bekommen, der ihn jedoch nicht hinderte, genau zu beobachten, was ringsum vorging.
»Hast du gesehen, wie er gestorben ist?« fragte Jakow, der hinter dem Schenktisch stand.
Ilja sah ihn an und fragte, statt zu antworten, seinerseits:
»Weshalb sind sie nur hingegangen?«
»Um sich ihn anzusehen! ... Du hast sie doch gerufen! ...«
Ilja schloß die Augen und sagte:
»Schrecklich war's! ... Wie er ihn von sich stieß ...«
»Wen?« fragte Jakow, neugierig den Kopf vorstreckend.
»Den Teufel! ...« versetzte Ilja nach einem Weilchen.
»Hast du den Teufel gesehen?« rief Jakow gespannt, während er hastig auf Ilja zutrat. Doch Ilja hatte die Augen wieder geschlossen und antwortete nicht.
»Bist wohl sehr erschrocken?« forschte Jakow weiter und zupfte Ilja am Ärmel.
»Wart'!« sagte Ilja plötzlich. »Ich lauf noch mal hin ... auf einen Augenblick ... ja? Sag' deinem Vater nichts!«
Von heftigem Argwohn getrieben, war Ilja im nächsten Augenblick wieder unten im Keller, stahl sich geräuschlos wie eine Maus an den Spalt in dem Verschlage und spähte wieder hindurch. Der Alte lebte noch und röchelte: er lag auf dem Fußboden, zu Füßen zweier schwarzen Gestalten, die im Halbdunkel zu einem einzigen großen, unförmlichen Wesen verwachsen schienen. Dann sah Ilja seinen Onkel neben dem Bett des Alten knien und ein Kissen hastig vernähen. Ganz deutlich hörte man den Faden durch, das Zeug des Inletts schwirren. Petrucha stand hinter Terentij, beugte sich über ihn und flüsterte:
»Mach' rascher ... Ich sagte dir immer: Halt Nadel und Zwirn bereit ... Aber nein, du mußt erst lange einfädeln ... Ach, du!«
Das Flüstern Petruchas, die gurgelnden Seufzer des Sterbenden, das Schwirren des Fadens und das eintönige Rieseln des Wassers, das in die Grube vor dem Fenster rann – all das floß zu einem dumpfen Geräusch zusammen, unter dessen Einfluß das Bewußtsein Iljas sich verwirrte. Er verließ leise den Spalt, an dem er gelauscht hatte, und huschte aus dem Keller. Ein großer, schwarzer Fleck drehte sich wie ein Rad schwirrend vor seinen Augen. Er mußte sich, während er die Treppe zur Schenke hinaufstieg, am Geländer festhalten und fühlte eine seltsame Schwere in den Beinen. Als er endlich die Tür erreicht hatte, blieb er stehen und begann still zu weinen. Jakow war auf ihn zugeeilt und sprach lebhaft auf ihn ein. Dann erhielt er einen Stoß in den Rücken und vernahm Perfischkas Stimme:
»Wer? ... Was ist los? So sprich doch! Er ist tot? Ach! ...«
Und von neuem stieß der Schuster Ilja in die Seite und stürzte so hastig hinaus, daß die Treppenstufen unter seinen Schritten erzitterten. Als er aber unten stand auf der letzten Stufe, schrie er laut und kläglich:
»Ach, diese Spitzbuben!«
Dann hörte Ilja, wie der Onkel und Petrucha die Treppe heraufkamen; er wollte vor ihnen nicht weinen, doch vermochte er seine Tränen nicht zurückzuhalten.
»Ach, du!« sagte Perfischka, der mit ihnen heraufgekommen war, zu Petrucha. »So wart ihr also schon dort bei ihm? ...«
Terentij schritt an seinem Neffen vorüber und vermochte ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Petrucha aber legte seine Hand auf Iljas Schulter und sagte:
»Du weinst, mein Junge? Das ist recht ... Es zeigt, daß du ein dankbares Herz hast und begreifst, was der Alte für dich getan hat. Er war dir ein gro–oßer Wohltäter! ...«
Dann schob er Ilja leicht auf die Seite und sagte:
»Darum brauchst du aber nicht gerade hier in der Tür zu stehen.«
Ilja wischte sich mit dem Hemdärmel die Tränen vom Gesichte und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen. Petrucha stand schon wieder hinter dem Büfett und schüttelte seine Locken. Vor ihm stand Perfischka und grinste höhnisch. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, als ob er eben sein letztes Fünfkopekenstück in »Schrift oder Adler« verspielt hätte.
»Na, woran fehlt es denn, Perfischka?« fragte Petrucha barsch und zog die Brauen empor.
»Zum besten gibst du wohl nichts?« versetzte Perfischka plötzlich.
»Ich soll was zum besten geben? ... Aus welchem Anlaß?« fragte der Büfettier gleichmütig.
»Ach, du Schelm!« rief der Schuster ärgerlich und stampfte mit dem Fuße auf. »Da hält man nun's Maul offen – und die gebratene Taube fliegt vorbei! Na, 's ist mal geschehen! ... Wünsche von Herzen Glück, Peter Jakimytsch!«
»Was schwatzt du?« fragte Petrucha und lächelte dabei so harmlos wie möglich.
»Ich rede nur so ... aus lauter Herzenseinfalt ...«
»Ein Gläschen möchtest du also trinken – darauf willst du doch hinaus? He he!«
»Hahaha!« ließ sich laut das muntere Lachen des Schusters vernehmen.
Ilja bewegte heftig den Kopf, wie wenn er etwas herausschütteln wollte, und verließ die Schankstube.
Er legte sich diesmal nicht unten in seinem Kellerwinkel schlafen, sondern in der Schenke, unter dem Tische, auf dem Terentij das Geschirr wusch. Dort machte der Bucklige seinem Neffen ein Lager zurecht, während er selbst die Tische abzuwaschen begann. Auf dem Schenktisch brannte eine Lampe, welche die bauchigen Teekannen und die Flaschen im Wandschrank beleuchtete. In der Schenke selbst war es dunkel. Ein feiner Regen schlug gegen die Scheiben, und der Wind rauschte leise ...
Einem großen Igel gleichend, kroch Terentij zwischen den Tischen umher und seufzte. Sooft er in die Nähe der Lampe kam, warf seine Gestalt einen großen, schwarzen Schatten auf den Fußboden. Es schien Ilja, daß die Seele des alten Jeremjej hinter dem Onkel herschleiche und ihm ins Ohr zische:
»Ksch ... kschsch! ...«
Dem Knaben war ängstlich zumute, und er fröstelte. Der feuchte Dunst der Schenke bedrückte ihn. Es war Sonnabend. Der Fußboden war eben gewaschen worden und strömte einen modrigen Geruch aus. Ilja wollte den Onkel bitten, sich doch so rasch wie möglich neben ihm niederzulegen, doch hielt ihn ein peinliches, widerstrebendes Gefühl zurück, ihn anzureden. Er sah im Geiste die krumme Gestalt des alten Jeremjej mit dem weißen Barte, und seine freundlichen Worte klangen ihm heiser im Ohre wieder: