»Der Herr kennt das Maß aller Dinge! ... Merk' dir's!«
»Leg' dich doch schon hin!« stieß Ilja endlich ärgerlich hervor.
Der Bucklige fuhr zusammen und blickte erschrocken auf. Dann antwortete er leise und schüchtern:
»Gleich! Gleich!« Und er begann rasch, wie ein Kreisel, sich um die Tische zu drehen. Ilja merkte, daß auch der Onkel sich fürchtete, und er dachte im stillen:
»Recht so, fürchte dich nur! ...«
In feinen Wirbeln trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Die Flamme der Lampe zuckte auf. Ilja bedeckte seinen Kopf mit der Pelzjacke des Onkels und lag, den Atem anhaltend, da. Plötzlich begann sich neben ihm etwas zu bewegen. Ein Schauer überlief ihn – ängstlich steckte er den Kopf heraus und sah, wie Terentij auf der Erde kniete, den Kopf vorgeneigt, so daß sein Kinn die Brust berührte. Und Ilja hörte, wie er flüsternd betete:
»O Herr und Vater im Himmel ... O Herr! ...«
Dieses Flüstern erinnerte ihn an das Röcheln des sterbenden Jeremjej. Das Dunkel im Zimmer geriet gleichsam in Bewegung, auch der Boden schien sich im Kreise zu drehen, und in den Schornsteinen heulte der Wind.
»Laß das Beten!« rief Iljas helle Stimme.
»Wie? Was ist dir denn?« rief der Bucklige halblaut. »Schlaf doch, um Christi willen!«
»Laß das Beten!« wiederholte der Knabe eindringlich.
»Gut ... ich will's lassen ...«
Die Feuchtigkeit und das Dunkel in dem Zimmer drückten immer schwerer auf Ilja, er atmete beklommen, und sein Inneres war erfüllt von Furcht, von Trauer um den heimgegangenen Alten und von einem tiefen Groll gegen den Onkel. Er warf sich auf dem Fußboden hin und her, richtete sich auf und stöhnte vernehmlich.
»Was willst du denn? Was ist?« rief der Onkel erschrocken und legte seinen Arm um ihn.
Ilja stieß ihn zurück und sprach mit tränenerstickter Stimme, aus der bittre Pein und Entsetzen klang:
»O Gott! Wenn ich doch ... irgendwohin laufen ... mich irgendwo verstecken könnte! ... O Gott! ...«
Er konnte vor Tränen nicht sprechen. Mühsam atmete er die dumpfe Luft der Schenke und barg das Gesicht schluchzend in seinem Kissen.
VI
Diese Ereignisse hatten zur Folge, daß im Charakter des Knaben eine starke Wandlung vor sich ging. Früher hatte er sich nur von seinen Mitschülern ferngehalten, denen nachzugeben er nicht geneigt war. Zu Hause war er gegen alle offen und zutraulich gewesen, und schenkte ihm jemand von den Großen auch nur einige Beachtung, so bereitete ihm das eine ganz besondere Freude. Jetzt hielt er sich fern von allen und erschien weit über sein Alter ernst. Sein Gesicht zeigte eine unfreundliche Miene, die Lippen waren fest zusammengekniffen, er beobachtete mit Aufmerksamkeit die Erwachsenen und horchte mit einem forschenden Aufblitzen der Augen auf ihre Reden. Schwer lastete auf ihm die Erinnerung an das, was er am Todestage des alten Jeremjej gesehen, und es schien ihm, daß auch er gleich Petrucha und dem Onkel dem Verstorbenen gegenüber schuldig sei. Vielleicht war der Alte, als er sterbend dalag und sah, wie man sein Besitztum plünderte, der Meinung gewesen, daß er, Ilja, ihnen den Schatz verraten habe. Dieser Gedanke hatte sich Iljas unmerklich bemächtigt, er füllte seine Seele mit Verwirrung und qualvoller Pein und steigerte sein Mißtrauen gegen alle Welt. Sobald er an jemand etwas Schlechtes bemerkte, ward ihm leichter ums Herz, als ob seine eigene Schuld dem Toten gegenüber dadurch vermindert würde.
Und er sah so viel Schlechtes rings um sich! Alle Leute nannten den Büfettier Petrucha einen Hehler und Betrüger. Ins Gesicht jedoch schmeichelten ihm alle, verneigten sich respektvoll vor ihm und bedachten ihn mit der ehrenvollen Anrede Peter Akimytsch. Die große Matiza aus der Dachstube bezeichneten sie mit einem häßlichen Schimpfwort; war sie betrunken, dann stießen und schlugen sie alle, und eines Tages, als sie schwer bezecht unter dem Küchenfenster saß, hatte der Koch ihr gar einen Eimer Spülicht über den Kopf gegossen. Und doch nahmen alle von ihr kleine Gefälligkeiten und Dienste an, ohne ihr je dafür anders als mit Scheltworten und Rippenstößen zu danken. Perfischka rief sie häufig, daß sie ihm seine kranke Frau wasche, Petrucha ließ sie vor den Feiertagen ohne Entgelt die Schenkstube scheuern, und für Terentij nähte sie umsonst die Hemden. Sie ging zu allen, machte alles ohne Murren und sehr geschickt, pflegte mit Hingebung die Kranken und liebte es, mit den Kindern zu spielen ...
Ilja sah, daß der fleißigste Mensch im ganzen Hause, der Schuster Perfischka, von allen als ein lächerlicher Patron angesehen wurde, und daß sie nur dann von ihm Notiz nahmen, wenn er betrunken, mit seiner Harmonika auf dem Schoße, in der Schenke saß oder sich auf dem Hofe herumdrückte und seine lustigen kleinen Lieder auf dem Instrument begleitete. Niemand jedoch mochte es sehen, wie behutsam derselbe Perfischka seine gelähmte Frau auf die Treppe hinaustrug, wie er seine kleine Tochter zu Bett brachte, sie mit Küssen bedeckte und ihr, um sie zu unterhalten, allerhand drollige Grimassen schnitt. Niemand mochte ihm zusehen, wenn er lachend und scherzend Mascha das Mittagessen kochen und das Zimmer aufräumen lehrte, sich dann an die Arbeit setzte und bis spät in die Nacht hinein, über irgendeinen schmutzigen, krummen Stiefel gebeugt, dasaß.
Als der Schmied ins Gefängnis abgeführt worden war, hatte sich kein Mensch außer dem Schuster um seinen Jungen gekümmert. Dieser hatte Paschka sogleich zu sich genommen, und der wilde Bursche pichte ihm den Schusterdraht, fegte das Zimmer, holte Wasser und ging zum Krämer nach Brot, Kwas und Zwiebeln. Alle hatten den Schuster am Feiertage betrunken gesehen, aber niemand hatte es gehört, wie er am nächsten Tage, als er nüchtern geworden, sich vor seiner Frau entschuldigte:
»Verzeih mir, Dunja! Ich bin ja doch schließlich kein Trunkenbold, sondern nahm nur so, zur Erheiterung, ein Schlückchen. Die ganze Woche arbeitet man – zu langweilig ist's! Na, und da trinkt man mal einen! ...«
»Aber beschuldige ich dich denn? Du lieber Gott – ich bedaure dich doch bloß«, versetzte seine Frau mit ihrer heiseren Stimme, die wie ein Schluchzen in der Kehle klang. »Meinst du, ich seh' nicht, wie du dich quälst? Wie einen schweren Stein hat der Herr mich dir an den Hals gehängt. Wenn's doch schon ans Sterben ginge! ... Dann wärst du befreit von mir ...«
»Rede nicht so! Ich hör' solche Worte von dir nicht gern. Ich hab' dich gekränkt, nicht du mich! ... Aber ich tat es nicht aus Schlechtigkeit, sondern weil ich schwach wurde ... Laß es gut sein, wir wollen in 'ne andere Gasse ziehen. Dann soll alles anders werden, die Fenster, die Tür ... alles! Die Fenster werden auf die Straße gehen, einen Stiefel wollen wir aus Papier ausschneiden und ans Fenster kleben. Das ist dann unser Schild! Alle Welt wird zu uns gelaufen kommen. Da wird unser Geschäft erst blühen! ... Immer klopf, immer klopf – schaff Grütze in den Topf!«
Ilja kannte das Leben Perfischkas bis ins kleinste. Er sah, wie er sich quälte gleich einem Fisch, der durchs Eis brechen möchte, und achtete ihn darum, weil er stets mit aller Welt scherzte, allezeit lachte und so prächtig auf der Harmonika spielte.
Inzwischen saß Petrucha hinter seinem Büfett, spielte eine Partie Dame nach der andern, trank vom Morgen bis zum Abend Tee und schimpfte auf die Kellnerburschen. Bald nach dem Tode Jeremjejs hatte er Terentij als Verkäufer hinter das Büfett gestellt, während er selbst sich darin gefiel, pfeifend auf dem Hofe hin und her zu spazieren, das Haus von allen Seiten zu betrachten und seine Wände mit den Fäusten zu beklopfen.