Noch mancherlei anderes bemerkte Ilja, und alles war häßlich und unerfreulich und stieß ihn mehr und mehr von den Menschen zurück. Zuweilen riefen all die Eindrücke und Gedanken, die sich in ihm anhäuften, den lebhaften Wunsch in ihm hervor, sich mit jemand auszusprechen. Mit dem Onkel aber wollte er nicht sprechen: nach dem Tode Jeremjejs war zwischen Ilja und dem Onkel etwas wie eine unsichtbare Wand emporgewachsen, die den Knaben davon abhielt, sich dem Buckligen ebenso offen und zutraulich zu nähern wie früher. Jakow hätte ihm kaum über die Vorgänge in seinem Innern Aufklärung geben können: der lebte gleichfalls abseits von allen, wenn auch auf seine besondere Weise.
Auch ihn hatte der Tod des alten Jeremjej betrübt. Oft hatte er mit trauriger Miene seiner gedacht:
»Langweilig ist's geworden! ... Wenn doch noch Großvater Jerema lebte, der hat uns immer Märchen erzählt! Nichts Schöneres gibt es als Märchen!«
Eines Tages sagte Jakow geheimnisvoll zu Ilja:
»Soll ich dir mal was ganz Besonderes zeigen? Willst du es sehen?«
»Freilich will ich's sehen!«
»Aber schwör' mir erst, daß du es niemandem verraten wirst! Sag': Verflucht soll ich sein ...«
Ilja wiederholte die Schwurformel, worauf ihn Jakow zu der alten Linde im äußersten Winkel des Hofes führte. Dort entfernte er von dem Stamme der Linde ein künstlich daran befestigtes Rindenstück, und Ilja erblickte dahinter eine große Höhlung in dem Baumstamm. Es war ein Astloch, das mit dem Messer künstlich erweitert und mit bunten Läppchen, Papierchen und Stanniolblättchen ausgeschmückt war. In der Tiefe dieser Höhlung stand ein kleines, aus Erz gegossenes Bildnis, vor dem das Ende einer Wachskerze befestigt war.
»Hast du gesehen?« fragte Jakow, während er das Rindenstück wieder vor die Öffnung brachte.
»Ich hab's gesehen ... Was ist denn das?«
»Eine Kapelle!« erklärte Jakow. »Hierher werde ich immer in der Nacht ganz leise kommen und werde hier beten ... Ist das nicht hübsch?«
Ilja gefiel der Einfall seines Freundes, doch stellte er sich sogleich die Gefährlichkeit des Wagnisses vor.
»Und wenn man das Licht sieht? Dann gibt's gehörige Prügel vom Alten! ...«
»Wer soll's in der Nacht sehen? In der Nacht schlafen doch alle; ganz still ist's auf der Erde ... Ich bin doch klein, da hört der liebe Gott am Tage mein Gebet nicht ... In der Nacht wird er es eher hören ... Meinst du nicht?«
»Ich weiß es nicht ... Vielleicht wird er's hören«, meinte Ilja nachdenklich, während er in das großäugige, bleiche Antlitz des Kameraden schaute.
»Wirst du mit mir beten gehen?« fragte Jakow.
»Um was willst du denn beten?« fragte Ilja. »Ich würde Gott bitten, daß er mich recht klug mache ... und dann noch, daß ich immer alles habe, was ich mir wünsche. Und du?«
»Ich? Ich würde um dasselbe bitten ...« antwortete Jakow.
Nach einer Weile jedoch fügte er hinzu:
»Ich wollte es eigentlich nur so, ohne besondere Absicht ... einfach beten wollt' ich, weiter nichts! Und er mag mir geben, was er will ...«
Sie kamen überein, schon in der nächsten Nacht mit ihrem Gebet vor der Linde anzufangen, und legten sich beide mit der festen Absicht zu Bett, in der Nacht aufzuwachen und sich in dem Winkel zu treffen. Sie erwachten jedoch weder in dieser noch in der nächsten Nacht, und noch manche andere Nacht verschliefen sie. Und dann wirkten neue Eindrücke auf Ilja ein und ließen die Kapelle in den Hintergrund treten.
In den Zweigen derselben Linde, in der Jakow seine Kapelle eingerichtet hatte, pflegte Paschka seine Vogelfallen aufzustellen, um darin Zeisige und Meisen zu fangen. Er hatte ein schweres Dasein, war dürr und schmal geworden und hatte keine Zeit mehr, sich im Hofe herumzutreiben. Den ganzen Tag war er bei Perfischka beschäftigt, und nur an Feiertagen, wenn der Schuster betrunken war, sahen ihn die Kameraden. Paschka fragte sie aus, was sie in der Schule lernten, und schaute neidisch und finster drein, wenn er ihre vom Bewußtsein der eignen Überlegenheit erfüllten Berichte hörte.
»Bildet euch nur nicht zu viel ein,« sagte er, »auch ich werde noch mal lernen! ...«
»Aber Perfischka wird's dir nicht erlauben! ...«
»Dann lauf ich weg«, versetzte Paschka kurz entschlossen.
Und in der Tat ging bald darauf der Schuster umher und erzählte lachend:
»Mein Geselle ist weggelaufen – der kleine Teufel!«
Es war ein regnerischer Tag. Ilja musterte den zerzausten Schuster, sah dann zu dem grauen, düstren Himmel auf und empfand Mitleid mit Paschka, der sich jetzt Gott weiß wo herumtreiben mochte. Er stand mit Perfischka unter dem Dache eines Schuppens, drückte sich gegen die Wand und schaute nach dem Hause hinüber. Es schien Ilja, daß das Haus immer niedriger wurde, als ob es in die Erde versänke. Die alten Rippen traten immer schärfer hervor, wie wenn der Schmutz, der sich seit Jahrzehnten in den Eingeweiden dieses Bauwerks angesammelt hatte, nicht mehr in ihm Platz hätte und es auseinandertriebe. Ganz und gar vom Elend durchtränkt, immer nur von wüstem Lärm und gramvollen, trunkenen Liedern erfüllt, beständig zerstampft und durch Fußtritte mißhandelt, vermochte dieses Haus nicht länger sein Leben zu fristen und zerfiel langsam, indem es mit den trüben Glasaugen traurig in Gottes Welt hinausschaute.
»Äh,« meinte der Schuster, »die alte Bude wird bald zusammenkrachen, und der ganze Krempel wird auf der Erde herumkollern. Und wir, die wir drin wohnen, gehen in alle Winde ... Neue Löcher werden wir uns anderwärts suchen ... Wir werden schon welche finden, nicht schlechter als diese hier. Ein ganz neues Leben wird dann beginnen: andre Fenster, andre Türen werden wir haben, sogar andre Wanzen werden uns beißen! ... Wenn's nur recht bald wäre! Hab' ihn schon über, diesen Palast.«
Doch der Traum des Schusters sollte sich nicht erfüllen: das Haus krachte nicht zusammen, sondern wurde von dem Büfettier Petrucha gekauft. Sobald der Kauf perfekt geworden war, kroch Petrucha zwei Tage lang in allen Ecken und Winkeln herum und befühlte und untersuchte den alten Rumpelkasten an allen Enden. Dann wurden Ziegelsteine und Bretter angefahren, das Haus ward mit einem Gerüst umgeben, und zwei Monate lang hintereinander ächzte und bebte es nun unter der Axtschlägen der Werkleute. Es wurde daran herumgesägt und herumgehackt, Nägel wurden eingeschlagen, alte Rippen wurden unter lautem Krachen und Aufwirbeln von Staub herausgebrochen und neue dafür eingesetzt, und zu guter Letzt wurde um die alte Bude eine Bretterverkleidung gelegt, nachdem ihre Fassade um einen neuen Anbau verbreitert worden war. Untersetzt und breit ragte das Haus jetzt über den Erdboden empor, gerade und fest, wie wenn es neue Wurzeln tief in ihn hineingetrieben hätte. An der Fassade hatte Petrucha ein großes Aushängeschild anbringen lassen, das in Goldlettern auf blauem Grunde die Aufschrift trug:
»Fröhlicher Zufluchtsort der Freunde des P. J. Filimonow.«
»Und inwendig ist es doch durch und durch verfault«, meinte Perfischka spöttisch.
Ilja, zu dem er die Bemerkung machte, lächelte verständnisinnig. Auch ihm erschien das Haus nach seinem Umbau als ein großer Betrug. Er dachte an Paschka, der jetzt irgendwo an einem andern Orte lebte und ganz andre Dinge sah. Auch Ilja träumte, wie der Schuster, von anderen Fenstern, Türen, Menschen ... Jetzt ward es im Hause noch ungemütlicher als früher. Die alte Linde war der Axt zum Opfer gefallen, der trauliche Winkel in ihrem Schatten war verschwunden und auf dem Platze ein neuer Anbau entstanden. Auch die übrigen Lieblingsplätzchen, an denen die Kinder früher plaudernd zusammengesessen hatten, waren nicht mehr vorhanden. Nur an der Stelle, wo früher die Schmiede gestanden, hinter einem großen Haufen von Spänen und modrigem Holz, war ein stilles Plätzchen geblieben. Aber dort zu sitzen, war nicht geheuer – Ilja hatte immer das Gefühl, als ob unter dem Holzhaufen Ssawels Weib mit dem zerschmetterten Schädel läge.