Petrucha hatte für Onkel Terentij eine neue Wohnung bestimmt – es war ein kleines Zimmer hinter dem Büfett, in das durch den dünnen, mit grünen Tapeten beklebten Bretterverschlag der ganze Lärm der Schenke samt dem Branntweindunst und dem Tabaksqualm hereindrang. Es war sauber und trocken in Terentijs neuer Kammer, und doch war es unbehaglicher darin als im Keller. Das Fenster ging auf die graue Schuppenwand hinaus, die Himmel und Sonne und Sterne verdeckte, während man alles das aus dem Fenster des Kellers, wenn man niederkniete, ganz bequem sehen konnte.
Onkel Terentij kleidete sich fortan in ein fliederfarbiges Hemd, über dem er ein Jackett trug, das an ihm wie über eine Kiste gespannt hing. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend steckte er jetzt hinter dem Büfett. Er sprach nun alle Leute nur noch mit »Ihr« an, redete im übrigen nur wenig, in abgerissener, trockener Weise, wie wenn er bellte, und schaute seine Kunden hinter dem Büfett hervor mit den Augen eines Hundes an, der das Gut seines Herrn bewachte. Für Ilja kaufte er eine graue Tuchjacke, Stiefel, Paletot und Mütze, und als der Knabe diese Sachen zum ersten Male anzog, fiel ihm wieder lebhaft der alte Lumpensammler ein. Er sprach mit dem Onkel fast gar nicht, und sein Leben verlief einförmig und still. Und obschon die eigentümlichen, unkindlichen Gefühle und Gedanken, die in ihm aufgekeimt waren, seinen Geist beschäftigten, so lastete doch auf ihm der Druck einer erstickenden Langweile. Immer häufiger mußte er an das Dorf zurückdenken. Jetzt schien es ihm ganz klar und deutlich, daß es sich dort besser lebe: alles war dort stiller, einfacher, verständlicher. Er erinnerte sich der dichten Wälder von Kershenez und der Erzählungen Onkel Terentijs von dem Einsiedler Antipa, und der Gedanke an Antipa rief in ihm die Erinnerung an einen andern Einsamen wach: an Paschka. Wo war er nur? Vielleicht war er gleichfalls in die Wälder geflüchtet, hatte sich da eine Höhle gegraben und lebte darin. Der Sturmwind braust durch den Wald, die Wölfe heulen. Es ist so schauerlich und doch auch so schön anzuhören. Und im Winter, bei Sonnenschein, blitzt dort alles wie Silber, und es ist so still, daß man gar nichts hört außer dem Knirschen des Schnees unter den Füßen, und wenn man unbeweglich stehenbleibt, vernimmt man nichts weiter als das Klopfen des eignen Herzens.
In der Stadt ist es immer so wüst und geräuschvoll, selbst die Nacht ist von Lärm erfüllt. Die Menschen singen Lieder, schreien nach der Polizei, skandalieren, Droschken fahren hin und her und machen mit ihrem Gerassel die Fensterscheiben erzittern. Auch in der Schule war ein solcher Lärm, die Knaben schrien und trieben allerhand Unfug. Und die Großen auf den Gassen schimpfen und prügeln sich in der Betrunkenheit. Die Menschen sind hier alle wie von Sinnen, die einen sind Betrüger, wie Petrucha, andere böse und zornig, wie Ssawel, und wiederum andere so jammervoll elend wie Perfischka, oder Onkel Terentij, oder auch Matiza ... Ganz besonders aufgebracht war Ilja über das Benehmen des Schusters.
Eines Morgens, als Ilja sich für die Schule fertigmachte, kam Perfischka in die Schenke. Ganz zerzaust, unausgeschlafen und schweigsam stand er am Büfett und schaute Terentij an. Sein linkes Auge zuckte beständig und blinzelte, und seine Unterlippe hing in ganz seltsamer Weise herab. Onkel Terentij sah ihn an, lächelte und goß ihm ein Gläschen zu drei Kopeken ein, die gewöhnliche Morgenportion Perfischkas. Perfischka nahm mit zitternder Hand das Glas und goß es in die Kehle, schmatzte jedoch nicht dazu und bestätigte auch die Güte des Getränks nicht, wie sonst, durch einen Fluch. Wiederum schaute er dann in ganz merkwürdiger Weise mit dem linken, zuckenden Auge auf den neuen Büfettier, während das rechte trüb und unbeweglich war und gar nichts zu sehen schien.
»Was ist denn mit deinem Auge?« fragte ihn Terentij.
Perfischka fuhr mit der Hand über das Auge, schaute dann auf die Hand und sagte laut und mit scharfer Betonung:
»Unsere Gattin Awdotja Petrowna ist mit Tode abgegangen ...«
»Was? ... Wirklich?« fragte Onkel Terentij, während er einen Blick nach dem Heiligenbilde warf und sich bekreuzte. »Der Herr sei ihrer Seele gnädig!«
»Wie?« fragte Perfischka, immer noch still in Terentijs Gesicht schauend.
»Ich meinte; der Herr sei ihrer Seele gnädig!«
»So, so ... Ja ... sie ist tot! ...« sagte der Schuster. Dann machte er plötzlich kehrt und ging hinaus.
»Ein sonderbarer Mensch,« murmelte Terentij kopfschüttelnd. Auch Ilja fand das Benehmen des Schusters recht sonderbar ... Als er in die Schule ging, sprach er auf einen Augenblick im Keller vor, um sich die Tote anzusehen. Dort war es dunkel und eng. Die Weiber aus den Dachstuben waren gekommen, sie standen in einer Gruppe um das Bett der Toten und plauderten halblaut. Matiza paßte der kleinen Maschka gerade ein Kleid an und fragte sie:
»Schneidet es unter den Armen?«
Und Mascha, die mit seitwärts gestreckten Armen dastand, sagte mit kapriziöser Stimme:
»Ja–a–a!«
Der Schuster saß, nach vorn gebeugt, auf dem Tisch und schaute seine Tochter an, während sein Auge beständig zuckte. Jlja betrachtete das bleiche, aufgedunsene Gesicht der Toten, erinnerte sich ihrer dunklen Augen, die jetzt für immer geschlossen waren, und ging hinaus, ein peinliches, nagendes Gefühl im Herzen.
Und als er aus der Schule heimkehrte und in die Schenke trat, hörte er, wie Perfischka auf der Harmonika spielte und in keckem Tone sang:
»Ach, du meine liebe Braut,
Hast das Herze mir geraubt!
Warum hast du es genommen,
Und wohin ist es gekommen?«
»Ach ja! ... Da haben mich nun die Weiber hinausgejagt! Mach', daß du fortkommst, schrien sie, Scheusal! Alter Saufsack, sagten sie zu mir ... Ich fühl' mich dadurch nicht gekränkt ... bin ein geduldiges Lamm ... Schimpft, soviel ihr wollt, schlagt mich meinetwegen ... Nur laßt mich ein bißchen aufleben! Bitte, erlaubt es! ... Ach, ihr Brüder! Jeder Mensch will doch mal das Leben genießen. Ist's nicht so? Ob's Waska oder Jakob sei – die Seele bleibt stets einerlei:
»Sagt mir doch – wer weint denn dort?
Was will er hier an diesem Ort?
Sei still, mein Freund, und klage nicht,
Steck' dir 'n Stück Brot ins Angesicht!«
Es lag ein Ausdruck verzweifelter Lustigkeit in Perfischkas Gesicht. Ilja schaute ihn an und empfand zugleich Widerwillen und Furcht. Er dachte in seinem Innern, daß Gott den Schuster für eine solche Aufführung am Todestage seines Weibes ganz bestimmt schwer strafen werde. Perfischka aber war noch am nächsten Tage betrunken, ja auch hinter dem Sarge der Frau ging er schwankend einher, blinzelte mit dem einen Auge und lächelte sogar. Alle schalten ihn wegen seines Benehmens, sogar ein paar Kopfstücke bekam er ...
»Weißt du was?« sagte Ilja am Abend des Begräbnistages zu Jakow – »der Perfischka ist doch ein richtiger Ketzer!«
»Hol' ihn der Kuckuck!« versetzte Jakow gleichgültig.
Ilja hatte schon früher bemerkt, daß Jakow sich in der letzten Zeit sehr verändert hatte. Er ließ sich gar nicht mehr im Hofe sehen, sondern saß immerfort zu Hause und schien sogar absichtlich einer Begegnung mit Ilja aus dem Wege zu gehen. Zuerst dachte Ilja, daß Jakow ihn wegen seiner Erfolge in der Schule beneide und zu Hause sitze, um für die Schule zu arbeiten. Es zeigte sich jedoch, daß er jetzt noch schlechter lernte als früher; der Lehrer mußte ihn immer wieder wegen seiner Zerstreutheit und seiner Unfähigkeit, die einfachsten Dinge zu begreifen, tadeln. Jakows Äußerung über Perfischka wunderte Ilja gar nicht: Jakow hatte für die Vorgänge im Hause nie besondere Teilnahme gezeigt. Ilja wollte jedoch um jeden Preis dahinterkommen, was eigentlich mit seinem Freunde vorging, und er fragte ihn:
»Wie bist du denn eigentlich jetzt gegen mich? Willst nicht mehr mit mir Freund sein?«