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»Ich? Nicht mehr Freund sein? Was redest du da?«

rief Jakow ganz verwundert und sagte dann plötzlich mit lebhafter Miene:

»Hör', du – geh mal jetzt nach Hause! ... Ich komme gleich nach ... Was ich dir zeigen werde!«

Er sprang auf und lief fort, während Ilja, aufs höchste gespannt, sich in seine Kammer begab. Hier erschien auch Jakow bald. Er verschloß die Tür hinter sich, ging ans Fenster und zog ein rotes Buch aus seiner Jacke.

»Komm her«, sagte er ganz leise, während er sich auf Onkel Terentijs Bett setzte und Ilja neben sich Platz machte. Dann schlug er das Buch auf, legte es auf seine Knie, beugte sich darüber und begann, mit dem Finger auf dem grauen Papier hin und her fahrend, laut vorzulesen:

»Und plötz... plötzlich sah der tapfere Ritter in der Ferne einen Berg ... so hoch, daß er bis an den Himmel reichte, und mitten darin war eine eiserne Tür. Da entflammte das Feuer des Mutes ... in seinem tap... tapferen Herzen ... Er legte die Lanze ein und stürzte mit gewaltigem Rufen vorwärts, wobei er sein Pferd ansp... spornte, und rannte mit seiner ganzen gewaltigen Kraft gegen das Tor an. Da erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag ... Das Eisen der Tür flog in Stücke ... Und zu gleicher Zeit strömte aus dem Berge Feuer und Qu... Qualm, und eine Donnerstimme ließ sich vernehmen ... von welcher die Erde erbebte und die Steine vom Berge zu den Füßen des Rosses niederrollten. ›Aha! Da bist du ja ... kecker Tollkopf! ... Ich und der Tod erwarten dich schon längst.‹ Der Ritter war von dem Feuer und Rauch geblendet ...«

»Wer ... wer ist denn das?« fragte Ilja ganz erstaunt, während er auf die vor Erregung zitternde Stimme des Freundes lauschte.

»Wie?« sagte Jakow, das blasse Antlitz vom Buche emporhebend.

»Wer ist denn ... der Ritter?«

»Das ist so einer, der auf dem Pferde reitet ... mit einer Lanze ... Raoul Ohnefurcht heißt er ... Ein Drache hat ihm seine Braut geraubt, die schöne Luisa ... Aber hör' weiter«, brach Jakow ungeduldig ab.

»Gleich, gleich! ... Sag' nur – wer ist der Drache?«

»Das ist eine Schlange mit Flügeln ... und mit Füßen, eiserne Krallen sind dran ... Drei Köpfe hat sie und atmet Feuer aus – verstehst du?«

»Wetter noch mal!« rief IIja, die Augen weit aufreißend. »Die wird's ihm aber besorgen! ...«

Dicht beieinander sitzend, feierten die beiden Knaben, zitternd vor Neugier und seltsam freudiger Spannung, ihren Einzug in eine neue Wunderwelt, in der gewaltige, böse Ungeheuer unter den mächtigen Streichen tapferer Ritter verröchelten, in der alles großartig, schön und wunderbar war und nichts dem grauen, eintönigen Alltagsleben glich. Da gab es keine betrunkenen, zerlumpten Zwergmenschen, und statt der halbverfaulten hölzernen Baracken standen da goldschimmernde Paläste und himmelaufstrebende, unnahbare eiserne Burgen. Und während sie in Gedanken dieses wunderbare, phantastische Reich der Dichtung durchwanderten, spielte nebenan der tolle Schuster Perfischka auf seiner Harmonika und sang dazu seine gereimten Schnurren:

»Und bin ich einmal mausetot,

Soll mich der Teufel doch nicht kriegen,

Weil ich schon bei lebend'gem Leib

Ihm sicher werd' erliegen!«

»Klopf lustig morgen wie heute, Gott liebt die fröhlichen Leute!«

Die Harmonika begann von neuem zu wimmern, wie wenn sie sich bemühte, die vorauseilende Stimme des Schusters einzuholen, er aber sang um die Wette mit ihr irgendeine lustige Tanzmelodie:

»Klag' nicht, daß in der Jugend du

Viel Kälte hast ertragen –

Dafür wird in der Hölle dich

Die Hitze weidlich plagen!«

Jede Strophe rief bei den Zuhörern Lachsalven und reichen Beifall hervor. In der kleinen Kabine aber, die nur durch eine dünne Bretterwand gegen dieses wirre Chaos von Tönen abgegrenzt war, saßen die beiden Knaben, über das Buch gebeugt, und der eine von ihnen las leise:

»Da packte der Ritter das Ungetüm mit seinen ehernen Armen, und es brüllte donnergleich auf vor Schmerz und Wut ...«

VII

Nach dem Buche vom Ritter und dem Drachen kam ein ähnliches wunderbares Buch an die Reihe: »Guak oder die unbesiegliche Treue«, dann folgte die »Geschichte vom tapferen Prinzen Franzil von Venedig und der jungen Königin Renzivena«. Die Eindrücke der Wirklichkeit machten in Iljas Seele ganz den Rittern und Damen Platz. Die beiden Kameraden stahlen abwechselnd aus der Ladenkasse Zwanzigkopekenstücke und hatten somit durchaus keinen Mangel an Büchern. Sie machten sich mit den kühnen Fahrten des »Jaschka Smertenskij« bekannt. Sie gerieten in Entzücken über »Japantscha«, den tatarischen Räuberhauptmann, und entfernten sich immer mehr von der unbarmherzigen Wirklichkeit des Lebens in ein Gebiet, in dem die Menschen stets die drückenden Fesseln des Schicksals zu zerreißen und allezeit das Glück zu erjagen wissen.

Eines Tages wurde Perfischka auf die Polizei gerufen. Mit ziemlich bangem Gefühl ging er hin, kam jedoch um so vergnügter wieder zurück und brachte Paschka Gratschew mit, den er an der Hand festhalten mußte, damit er ihm nicht wieder fortlief. Paschkas Augen blickten noch immer so scharf und hell wie früher, er war jedoch ganz schrecklich abgemagert und gelb geworden, und sein Gesicht hatte nicht mehr den alten, vorwitzigen Ausdruck. Der Schuster brachte ihn mit in die Schenke und begann dort zu erzählen, während sein linkes Auge krampfartig zuckte:

»Seht nur, meine Lieben, da haben wir Herrn Pawlucha Gratschew wieder, in eigenster Person! Eben ist er aus der Stadt Pensa angelangt, per Polizeischub ... Was gibt's doch für Menschen auf Gottes Erden – wollen daheim nicht glücklich werden! Kaum haben sie sich auf zwei Beine gestellt, suchen sie's Glück in der weiten Welt!«

Paschka stand neben ihm, die eine Hand in der Tasche seines zerrissenen Beinkleides haltend, während er die andere aus der Hand des Schusters zu befreien suchte, den er von der Seite finster ansah. Irgend jemand riet Perfischka, Paschka ordentlich durchzuprügeln. Dieser aber sagte ernsthaft, indem er Paschka losließ:

»Weshalb? Mag er doch wandern durch die Welt, vielleicht findet er mal sein Glück dabei.«

»Aber er wird gewiß Hunger haben!« warf Terentij ein, und während er dem Jungen ein Stück Brot reichte, sagte er freundlich:

»Da – iß, Paschka!«

Gelassen nahm Paschka das Brot und ging nach der Schenkentür zu.

»Fi–juh!« pfiff der Schuster hinter ihm her. »Auf Wiedersehen, liebes Freundchen!«

Ilja, der diese Szene von der Tür seiner Kammer aus beobachtet hatte, rief Paschka zurück. Dieser besann sich einen Augenblick, bevor er Iljas Rufe folgte, ging dann jedoch zu ihm hinein und fragte, während er sich mißtrauisch in dem Kämmerchen umsah:

»Was willst du von mir?«

»Guten Tag wollt' ich dir sagen ...«

»Na, guten Tag!«

»Setz' dich doch!«

»Warum?«

»So! Wir wollen plaudern ...«

Die mürrischen Fragen Gratschews und seine heisere Stimme machten auf Ilja einen schmerzlichen Eindruck. Er hätte Paschka gar zu gern gefragt, wo er gewesen, und was er alles gesehen. Aber Paschka, der auf dem Stuhle Platz genommen hatte und an dem Stück Brot kaute, begann seinerseits ihn auszufragen:

»Bist du schon fertig mit der Schule?«

»Zum Frühjahr komme ich raus ...«

»Und ich hab' schon ausgelernt, siehst du! ...«

»Wieso denn?« rief Ilja ungläubig.

»Das ging schnell bei mir, was?«

»Wo hast du denn gelernt?«

»Im Gefängnis, bei den Arrestanten! ...«

Ilja ging näher zu ihm heran, und während er respektvoll in Paschkas mageres Gesicht schaute, fragte er:

»War's dort schlimm?«

»Durchaus nicht! ... Vier Monate ... hab' ich gesessen, ich war in vielen Gefängnissen und in verschiedenen Städten. Feine Leute hab' ich dort kennengelernt, mein Lieber, auch Damen waren darunter!... Wirkliche Herrschaften! Redeten alle möglichen Sprachen... Ich hab' ihnen immer die Zelle aufgeräumt. Sehr vergnügte Leute waren es, wenn's auch Arrestanten waren...«