Jakow war um die Kleine jetzt noch weit besorgter als früher. Er brachte ihr beständig von Hause Brot und Fleisch, Tee, Zucker und Petroleum in Bierflaschen, gab ihr zuweilen auch Geld, das ihm vom Bücherkaufen übrigblieb. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, das alles zu tun, und es geschah von seiner Seite alles so heimlich, daß niemand es merkte. Mascha nahm ihrerseits seine Bemühungen als etwas ganz Selbstverständliches hin und machte nicht viel Aufhebens davon.
»Jascha!« sagte sie – »es sind keine Kohlen mehr da!« Und nach einiger Zeit brachte er ihr entweder Kohlen, oder er gab ihr ein Zweikopekenstück und sagte:
»Geh, kauf welche! ... Ich konnte keine stehlen!« Er brachte Mascha eine Schiefertafel und begann das Mädchen an den Abenden zu unterrichten. Es ging mit dem Unterricht langsam, nach zwei Monaten jedoch konnte Mascha immerhin alle Buchstaben lesen und auf die Tafel niederschreiben.
Ilja hatte sich gleichfalls an diese Beziehungen gewöhnt, und alle Leute im Hause schienen sie gleichsam zu übersehen. Manchmal stahl auch wohl Ilja im Auftrage seines Freundes irgend etwas aus der Küche oder dem Büfett und schleppte es zum Schuster in den Keller. Ihm gefiel das schlanke, brünette Mädchen, das verwaist war wie er selbst, namentlich aber gefiel es ihm, daß sie es verstand, sich so allein durch die Welt zu schlagen, und alles ganz so machte wie eine Erwachsene. Er hörte Mascha gern lachen und war beständig darauf bedacht, sie zum Lachen zu bringen. Und wenn ihm das nicht gelang, ärgerte er sich und reizte das Mädchen.
»Schwarze Schmudellotte!« rief er höhnisch.
Sie blinzelte mit den Augen und höhnte ihrerseits:
»Knochiger Satan! ...«
Ein Wort gab das andere, und bald zankten sie sich in allem Ernst. Mascha wurde leicht heftig und warf sich auf Ilja in der Absicht, ihn zu kratzen, aber er lief vergnüglich lachend von ihr weg.
Eines Tages, als sie Karten spielten, wies er Mascha nach, daß sie betrogen hatte, und rief ihr in seiner Wut zu:
»Du ... Liebste von Jaschka!«
Und dann ließ er noch ein häßliches Wort folgen, dessen Bedeutung er bereits kannte. Jakow war anwesend. Anfänglich lachte er, wie er jedoch sah, daß das Gesicht seiner Freundin sich schmerzlich verzog und Tränen in ihren Augen blitzten, wurde er blaß und verstummte. Und plötzlich sprang er vom Stuhl auf, warf sich auf Ilja, versetzte ihm einen Faustschlag gegen die Nase, packte ihn bei den Haaren und warf ihn zu Boden. Alles das geschah so rasch, daß Ilja gar nicht dazu kam, sich zu verteidigen. Dann stand er auf und stürzte, blind vor Wut und Schmerz, mit dem Kopfe voran auf Jakow los.
»Wart', mein Freund! Dich will ich ...« rief er zornig.
Da sah er, wie Jakow, mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, bitterlich weinte, während Mascha neben ihm stand und mit tränenerstickter Stimme zu ihm sprach:
»Laß ihn laufen, den Heiden ... den Bösewicht! ... Sie sind alle schlecht ... sein Vater ist auf Zwangsarbeit ... und sein Onkel ist bucklig! ... Ihm wird auch ein Buckel wachsen! Gemeiner Kerl du!« schrie sie, furchtlos auf Ilja losgehend. »Ekliger Grindkopf! ... Lumpensammlerseele! Na, so komm doch her! Dir will ich schön das Gesicht zerkratzen! Na, geh doch los auf mich!«
Ilja rührte sich nicht vom Fleck. Es ward ihm schwer ums Herz beim Anblick des weinenden Jaschka, dem er nicht hatte wehtun wollen, und er schämte sich, mit einem Mädchen sich herumzuprügeln. Ihr wäre es nicht darauf angekommen, das sah er ihr schon an. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Keller und ging lange im Hofe umher, ein quälendes, bitteres Gefühl im Herzen. Dann trat er an das Fenster von Perfischkas Wohnung und spähte vorsichtig von oben hinein. Jakow spielte wieder Karten mit seiner Freundin. Mascha, deren untere Gesichtshälfte von dem Fächer der Karten bedeckt war, schien zu lachen, während Jakow in seine Karten schaute und unentschlossen mit der Hand bald die eine, bald die andere berührte. Es ward Ilja schwer ums Herz. Er spazierte noch ein Weilchen im Hofe hin und her und ging dann kühn entschlossen in den Keller zurück.
»Nehmt mich wieder auf!« sagte er, an den Tisch herantretend.
Sein Herz schlug heftig, sein Gesicht glühte, und die Augen waren niedergeschlagen. Jakow und Mascha schwiegen.
»Ich werde nicht mehr schimpfen! ... Bei Gott, ich werde es nicht mehr tun!« fuhr Ilja fort und schaute die beiden an.
»Na, dann setz' dich schon ... ach, du!« sagte Mascha.
Und Jakow fügte ernst hinzu:
»Dummkopf! Bist doch nicht mehr klein!... Mußt doch wissen, was du sprichst!«
»Nein, wir sind alle noch klein!« fiel Mascha Jakow ins Wort und schlug mit der Faust auf den Tisch auf. »Darum dürfen wir auch keine gemeinen Worte gebrauchen.«
»Du hast mich aber gehörig geschlagen!« sagte Ilja vorwurfsvoll zu Jakow.
»Hast es verdient!« warf Mascha in schulmeisterndem Tone und mit strenger Miene hin.
»Na, gut ... ich bin nicht böse darum ... Ich war schuld ...« bekannte Ilja und lächelte verlegen Petruchas Sohne zu. »Wir wollen uns wieder vertragen – was?«
»Mir ist's recht. Nimm die Karten ...«
»Wilder Teufel du!« sagte Mascha.
Damit war alles erledigt. Eine Minute später war Ilja wieder stirnrunzelnd in das Kartenspiel vertieft. Er setzte sich immer so, daß er gegen Mascha ausspielen konnte: es gefiel ihm ungemein, wenn sie verspielte, und während der ganzen Dauer des Spiels war Ilja immer nur darauf bedacht, sie hineinzulegen. Aber die Kleine spielte recht geschickt, und für gewöhnlich war Jakow der Verlierer.
»Ach, du – Glotzäugiger,« sagte dann Mascha mitleidig – »bist wieder der Dumme!«
»Hol' der Teufel die Karten!« versetzte Jakow. »'s ist langweilig, das ewige Spielen. Laßt uns lieber lesen!«
Sie holten ein zerrissenes, schmutziges Buch hervor und lasen die Leidensgeschichte der verliebten und unglücklichen »Kamtschadalin«.
Als Paschka Gratschew die drei Kinder so vergnügt sich die Zeit vertreiben sah, meinte er im Tone eines welterfahrenen Mannes:
»Ihr führt hier ein angenehmes Leben, ihr Schlauberger!«
Dann sah er auf Jakow und Mascha und fügte lächelnd, doch zugleich mit Ernst hinzu:
»Später kannst du ja Maschka heiraten, Jakow...«
»Dummkopf!« sagte Mascha lachend, und schließlich lachten alle vier im Chore.
Paschka war meist mit ihnen zusammen. Hatten sie ein Buch ausgelesen, oder machten sie eine Pause im Lesen, dann gab er seine Erlebnisse zum besten, und seine Erzählungen waren nicht weniger interessant als die Bücher.
»Wie ich's raus bekam, Brüder, daß die Sache ohne einen Paß ihre Schwierigkeiten hatte, da gebrauchte ich allerhand Kniffe. Sah ich 'nen Polizisten, so ging ich gleich schneller, wie wenn mich jemand geschickt hätte, oder ich hielt mich zu dem ersten besten Erwachsenen, als ob's mein Herr, oder mein Vater, oder sonst jemand wäre... Der Polizist guckt mich an und läßt mich laufen – er hat nichts gemerkt... In den Dörfern war's schön, dort gibt's überhaupt keine Polizisten: nur alte Männer, alte Weiber und Kinder, die Bauern sind auf dem Felde. Fragt mich jemand, wer ich bin, sag' ich: ein Bettler... Wem ich gehöre? Keinem, bin ohne Anhang... Woher ich komme? Aus der Stadt. Das ist alles! Sie geben mir zu essen, zu trinken – alles reichlich. Und gehen kannst du dort, wie du willst: kannst ganz schnell rennen oder auf dem Bauche kriechen... Überall ist Feld und Wald... Die Lerchen singen ... auffliegen möchtest du am liebsten zu ihnen. Bist du satt – dann hast du keinen Wunsch weiter, könntest immer so gehen bis ans Ende der Welt. Ganz so ist's, wie wenn dich jemand vorwärtszieht ... wie wenn die Mutter dich trägt. Aber ich hab' auch manchmal tüchtig gehungert – oho! Die Därme haben mir nur so geknurrt – so trocken war mir darin! Erde hätt' ich fressen können. Schwindlig wurde mir im Kopfe... Wenn ich dann aber ein Stück Brot kriegte und mit den Zähnen einhieb – a–ach, das schmeckte! Tag und Nacht hätt' ich essen können. Das war 'ne Lust!... Und doch war ich froh, wie ich schließlich ins Loch kam... Anfangs hatte ich schreckliche Angst, dann wurde ich aber ganz vergnügt. Ich hatte mich immer vor den Polizisten sehr gefürchtet. Ich dachte, wenn sie mich erst kriegen und zu hauen anfangen, schlagen sie mich tot. Und wie war's in Wirklichkeit? Ganz leise kommt er von hinten und faßt mich am Kragen – schwapp! Ich hatte mir bei einem Uhrmacher die Uhren im Schaufenster angesehen... Eine Masse Uhren waren da – goldene und andere. Mit einemmaclass="underline" schwapp! Ich fang' an zu brüllen. Und er fragt mich ganz freundlich: »Wer bist du? Woher kommst du?« Na, ich sagte es natürlich – sie erfahren es ja doch schließlich: sie wissen alles... »Wohin willst du?« fragen sie weiter... »Ich wandre so durchs Land«... Sie lachen... Dann geht's ins Gefängnis... Dort lachen sie auch alle. Und dann nahmen jene Herren mich zu sich... Das waren euch Teufel, hoho!«