»Ich hab' dort irgendein Glas zerschlagen ...«
Der Prinzipal sah ihn aufmerksam an und sagte:
»Das erstemal verzeih' ich dir – und zwar deshalb, weil du es selbst gesagt hast ... Das nächste Mal – reiß' ich dir die Ohren ab ...«
Ganz mechanisch lebte sich Ilja nach und nach in seine neue Umgebung ein – wie ein kleine Schraube sich in eine große, lärmende Maschine einfügt. Er stand um fünf Uhr des Morgens auf, putzte die Stiefel des Prinzipals, seiner Familie und der Kommis, ging dann in den Laden, fegte ihn aus und wusch die Tische und Wagschalen ab. Kamen die Kunden, so reichte er die Ware zu und trug sie in die Wohnung der Käufer, dann kehrte er wieder heim, um zu Mittag zu essen. Nach dem Mittagessen gab es wenig zu tun, und wenn man ihn nicht irgendwohin schickte, stand er in der Ladentür, schaute auf das Markttreiben und sann darüber nach, wieviel Menschen es doch auf der Welt gibt, und welche Unmengen von Fischen, Fleisch und Obst sie verzehren. Eines Tages fragte er den Kommis, der einem Uhu ähnlich war:
»Michail Ignatitsch! ...«
»Na – was denn?«
»Was werden denn die Menschen essen, wenn sie alle Fische gefangen und alles Vieh geschlachtet haben?«
»Dummkopf!« antwortete ihm der Kommis.
Ein anderes Mal nahm er ein Zeitungsblatt vom Ladentisch, stellte sich damit in die Ladentür und las darin. Der Kommis aber riß ihm die Zeitung aus den Händen, gab ihm einen Nasenstüber und sagte grob:
»Wer hat dir das erlaubt, he? Esel ...«
Dieser Kommis gefiel Ilja durchaus nicht. Wenn er mit dem Prinzipal sprach, begleitete er fast jedes Wort mit einem ehrerbietigen, pfeifenden Zahnlaut, hinter dem Rücken aber nannte er den Kaufmann Strogany einen Betrüger und rothaarigen Teufel. An jedem Sonnabend und vor den Feiertagen, wenn der Prinzipal zur Abendandacht in die Kirche gefahren war, bekam der Kommis Besuch von seiner Frau oder Schwester, und denen gab er dann ein ganzes Paket mit Fischen, Kaviar und Konserven mit. Einen Hauptspaß machte es ihm, arme Bettelleute zu foppen, unter denen so mancher alte Mann war, der Ilja an Großvater Jeremjej erinnerte. Wenn solch ein Alter in die Ladentür trat und, sich demütig verneigend, um ein Almosen bat, nahm der Kommis einen kleinen Fisch beim Kopfe und reichte ihn dem Armen hin, und sobald dieser zufaßte, stach er sich an den Rückenflossen des Fisches den Handteller blutig. Der Bettler zuckte vor Schmerz zusammen, der Kommis aber lachte höhnisch und schrie zornig auf ihn los:
»Willst ihn nicht? Ist's dir zu wenig? Dann mach', daß du fortkommst! ...«
Einmal hatte eine alte Bettlerin heimlich einen gedörrten Zander genommen und in ihren Lumpen verborgen. Der Kommis hatte es bemerkt – er packte die Alte beim Wickel, nahm ihr den gestohlenen Fisch wieder ab, drückte ihren Kopf herunter und schlug sie mit der rechten Hand von unten nach oben übers Gesicht. Sie ließ nicht einen Schmerzenslaut hören und sprach nicht ein Wort, sondern ging schweigend, mit vorgebeugtem Kopfe, hinaus, und Ilja sah, wie aus ihrer zerschlagenen Nase das dunkle Blut in zwei Strömen niederrann.
»Hast du dein Teil gekriegt?« rief der Kommis hinter ihr her.
Und zu dem zweiten Kommis Karp gewandt, sprach er:
»Ich hasse dieses Bettlervolk! ... Müßiggänger sind's! Gehn betteln – und sind dabei satt! Die wissen gut zu leben ... Die Brüder Christi nennt man sie. Und was bin ich denn für Christus? Vielleicht ein Fremder? Ich dreh' und winde mich mein ganzes Leben lang, wie ein Wurm in der Sonne – und find' keine Ruhe, werd' von niemand geachtet ...«
Der zweite Kommis, Karp, war ein schweigsamer, frommer Mensch. Er sprach nur von Kirchen, Kirchensängern und Andachtsübungen und war jeden Sonnabend sehr beunruhigt bei dem Gedanken, daß er zur Abendandacht zu spät kommen könnte. Außerdem interessierte er sich für allerhand Taschenspielerkünste, und wenn in der Stadt sich irgendein »Magier und Zauberkünstler« produzierte, ging Karp sicher hin, um sich ihn anzusehen ... Er war hochgewachsen, mager und von großer körperlicher Geschmeidigkeit: wenn die Kunden sich im Laden drängten, wand er sich zwischen ihnen wie eine Schlange hindurch, lächelte allen zu, plauderte mit allen und schielte dabei beständig nach der großen Gestalt des Prinzipals, als ob er vor diesem mit seiner Geschicklichkeit prahlen wollte. Ilja wurde von ihm mit Geringschätzung behandelt, und der Knabe war ihm gleichfalls nicht zugetan. Der Prinzipal dagegen gefiel Ilja. Vom Morgen bis zum Abend stand er hinter seinem Pult, öffnete immer wieder seinen Geldkasten und warf das Geld hinein. Ilja sah, daß er das ganz gleichgültig, ohne Habgier tat. Und es bereitete ihm ein angenehmes Gefühl, das zu sehen. Angenehm war es ihm auch, daß der Prinzipal mit ihm öfter und freundlicher sprach als mit den Kommis. In den stillen Geschäftsstunden, wenn keine Käufer da waren, redete der Kaufmann Ilja öfters an, der in Gedanken versunkenen der Ladentür stand:
»He, Ilja – schläfst du?«
»Nein ...«
»Warum bist du immer so ernst?«
»Ich ... weiß es nicht ...«
»'s ist dir wohl hier langweilig, wie?«
»Ja-a!...«
»Na, immer langweil' dich! Auch ich hab' mich mal früher gelangweilt... Vom neunten bis zum zweiunddreißigsten Jahre hab' ich mich unter fremden Leuten gelangweilt... Und jetzt seh' ich seit dreiundzwanzig Jahren zu, wie andere sich langweilen...«
Und er wiegte dabei den Kopf auf und ab, als ob er sagen wollte:
»Daran läßt sich mal nichts ändern!«
Nach zwei, drei Gesprächen dieser Art begann Ilja die Frage zu beschäftigen: warum eigentlich dieser reiche, geachtete Mensch den ganzen Tag in dem schmutzigen Laden steckte und den herben, unangenehmen Geruch der gesalzenen Fische einatmete, während er doch ein so großes, sauberes Haus besaß. Das war ein ganz merkwürdiges Haus: es ging in ihm so still und streng zu, und alles geschah darin nach einer festen, unverrückbaren Ordnung. Und obschon in seinen beiden Etagen außer dem Besitzer, seiner Gattin und seinen drei Töchtern niemand weiter wohnte als eine Köchin, die zugleich Stubenmädchen war, und ein Hausknecht, der zugleich als Kutscher fungierte, so war es doch eng darin. Alle Hausbewohner sprachen mit gedämpfter Stimme, und wenn sie über den geräumigen, sauberen Hof gingen, drückten sich alle auf die Seite, als ob sie sich fürchteten, den offenen Hofraum zu betreten. Wenn Ilja dieses ruhige, solide Haus mit dem Hause Petruchas verglich, kam er wider Erwarten zu dem Ergebnis, daß das Leben in Petruchas Hause doch vorzuziehen sei, wenn es dort auch ärmlich, lärmend und schmutzig zuging. Gar zu gern hätte er den Kaufmann gefragt, weshalb er eigentlich den ganzen Tag in der Unruhe, dem Lärm und Wirrwarr des Marktes zubringe und nicht in seinem Hause, wo es doch so still und friedlich sei.
Eines Tages, als Karp gerade irgendeinen Geschäftsgang erledigte und Michail im Keller die verdorbenen Fische für das Armenhaus aussuchte, begann der Prinzipal wieder ein Gespräch mit Ilja, in dessen Verlauf der Knabe zu ihm sagte:
»Sie könnten doch Ihr Geschäft schon aufgeben, Kiril Iwanowitsch! ... Sie sind so reich ... Bei Ihnen zu Hause ist's so hübsch, und hier ... so langweilig ...«
Strogany setzte beide Ellenbogen auf das Pult, stützte seine Stirn darauf und musterte seinen Lehrling aufmerksam. Der rote Bart des Kaufmanns zuckte dabei ganz seltsam.
»Nun?« fragte er, als Ilja schwieg. »Hast du alles gesagt?«
»Ja ...« sagte Ilja verwirrt und mit Angst im Herzen.
»Komm einmal her! ...«
Ilja trat näher an das Pult heran. Da faßte der Kaufmann sein Kinn, hob seinen Kopf empor, sah ihm mit halb zugekniffenen Augen ins Gesicht und fragte:
»Hat dir das jemand vorgesagt, oder hast du es dir selbst ausgedacht?«
»Ich selbst, bei Gott! ...«
»So–o! ... Wenn du es aus dir selbst hast, dann ... soll's gut sein ... Aber ich will dir mal etwas sagen: in Zukunft untersteh dich nicht wieder, mit mir, deinem Prinzipal – verstehst du? deinem Prinzipal! – in solcher Weise zu reden! Merk' dir das – und jetzt geh an deine Arbeit! ...«