Und als Karp zurückkam, begann der Prinzipal plötzlich, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, sich mit ihm zu unterhalten, wobei er jedoch beständig von der Seite nach Ilja schaute, und zwar so, daß dieser es wohl bemerkte:
»Der Mensch muß sein ganzes Leben lang irgendein Geschäft betreiben – sein ganzes Leben lang! ... Wer das nicht begreift, ist ein Dummkopf. Wie kann man leben, ohne etwas zu tun? Ein Mensch, der seinem Geschäft nicht mit dem rechten Eifer vorsteht, taugt zu gar nichts.«
»Stimmt vollkommen, Kiril Iwanowitsch!« ließ der Kommis sich vernehmen, während er seine Augen wie suchend durch den Laden schweifen ließ, als ob er darin eine Beschäftigung für sich suchte. Ilja sah den Prinzipal an und verfiel in Nachdenken. Immer langweiliger wurde ihm das Leben unter diesen Menschen. Die Tage zogen sich hin, einer nach dem andern, wie lange graue Fäden, die sich von einem unsichtbaren Knäuel abwickelten. Und es schien dem Knaben, daß diese Tage gar kein Ende mehr haben würden, daß er sein ganzes Leben lang an dieser Ladentür stehen und auf den Lärm des Marktes lauschen würde. Aber sein Denken, das bereits vorher durch die empfangenen Eindrücke und das Lesen der Bücher geweckt worden war, unterlag der einschläfernden Wirkung dieses einförmigen Lebens nicht, sondern arbeitete ununterbrochen, wenn auch langsam, weiter. Zuweilen war es dem ernsten, schweigsamen Knaben so peinlich, dem Treiben der Menschen zuzuschauen, daß er am liebsten die Augen geschlossen und irgendwohin recht weit fortgegangen wäre – noch weiter, als Paschka Gratschew gegangen war –, um nie mehr hierher, in diese graue Langeweile und unbegreifliche menschliche Nichtigkeit, zurückzukehren.
An den Feiertagen schickte man ihn in die Kirche. Er kehrte von dort jedesmal mit einem Gefühl zurück, als ob sein Herz in einer duftigen, warmen Flüssigkeit reingewaschen worden wäre. Den Onkel hatte er während eines halben Jahres zweimal besuchen dürfen. Dort ging alles in der alten Weise zu. Der Bucklige wurde immer magerer, und Petrucha pfiff immer lauter, während sein Gesicht, das früher rosig geschimmert hatte, jetzt ganz rot aussah. Jakow klagte Ilja, daß sein Vater ihm arg zusetze.
»Immerfort brummt er: ›Mußt endlich was Vernünftiges beginnen... Einen Bücherwurm kann ich nicht brauchen‹... Aber wenn's mir nun mal zuwider ist, hinterm Schenktisch zu stehen? Nichts als Lärm und Gezänk ... sein eigenes Wort versteht man nicht!... Ich sage: Gib mich irgendwohin in die Lehre... Vielleicht in einen Heiligenbilder-Laden... Da ist nicht viel zu tun, und ich liebe die Heiligenbilder...«
Jakows Augen blinzelten traurig, die Haut auf seiner Stirn erschien auffallend gelb und glänzte wie die Glatze auf dem Kopfe seines Vaters.
»Lest ihr noch immer Bücher?« fragte Ilja.
»Gewiß doch ... es ist noch meine einzige Freude... Solange ich lese, kommt's mir vor, als ob ich in einer andern Stadt wäre ... und ist das Buch zu Ende, dann ist mir, als ob ich von einem Kirchturm 'runterstürzte...«
Ilja schaute ihn an und sagte:
»Wie alt du geworden bist... Und wo ist denn Maschutka?«
»Ins Armenhaus ist sie gegangen, nach milden Gaben. Jetzt kann ich ihr nicht viel helfen, der Vater paßt zu scharf auf... Und Perfischka ist immerwährend krank... Da mußte Maschka ins Armenhaus gehen... Kohlsuppe gibt man ihr dort, und noch sonst was... Matiza hilft ihr auch ein bißchen ... Muß sich sehr quälen, die arme Mascha ...«
»'s ist also auch hier bei euch langweilig«, meinte Ilja nachdenklich.
»Ist's dir denn im Geschäft langweilig?«
»Ganz schrecklich! ... Ihr habt wenigstens Bücher ... und bei uns gibt's im ganzen Hause nur ein Buch, den »Neuesten Zauberer und Taschenspieler«, den hat der Kommis in seinem Koffer. Aber glaubst du, er borgt ihn mir, der Spitzbube? ... Fällt ihm nicht ein ... Es geht uns beiden nicht zum besten, lieber Freund ...«
»So scheint's wirklich, Bruder ...«
Sie plauderten noch ein Weilchen und nahmen dann, beide recht betrübt, Abschied voneinander.
Noch ein paar Wochen gingen auf diese Weise hin, bis plötzlich in Iljas Leben eine jähe Wendung eintrat. Eines Morgens, als das Geschäft gerade recht lebhaft war, begann der Prinzipal irgend etwas auf seinem Pult sehr eifrig zu suchen. Zornesröte bedeckte seine Stirn, und die Adern an seinem Halse schwollen dick an.
»Ilja!« schrie er – »sieh doch mal auf dem Fußboden nach ... ob da nicht ein Zehnrubelschein liegt! ...«
Ilja schaute den Kaufmann an, ließ dann seinen Blick rasch über den Fußboden gleiten und sagte ruhig:
»Nein, es liegt nichts da ...«
»Ich sag' dir: sieh nach, wie es sich gehört!« brüllte der Prinzipal mit seiner groben Baßstimme ihn an.
»Ich hab' doch schon nachgesehen ...«
»Hm ... wart', du trotziger Schelm!« drohte ihm der Kaufmann.
Und als die Kunden fort waren, rief er Ilja zu sich heran, faßte mit seinen kräftigen, dicken Fingern sein Ohr und zerrte es hin und her, wobei er mit seiner knarrenden Stimme ihn angrunzte:
»Wenn man dich suchen heißt – dann suche, wenn man dich suchen heißt – dann suche...«
Ilja stemmte sich mit beiden Händen kräftig gegen den Bauch des Prinzipals, entzog sein Ohr dessen Fingern und schrie, am ganzen Leibe vor Empörung zitternd, laut und heftig:
»Warum prügeln Sie mich? Das Geld hat Michail Ignatitsch heimlich weggenommen! – Es steckt in seiner linken Westentasche...«
Das Uhugesicht des Kommis verlängerte sich plötzlich, es nahm einen bestürzten Ausdruck an und begann zu beben. Und dann holte er mit dem rechten Arm aus und schlug Ilja gegen das Ohr. Der Knabe sprang jäh auf, stürzte mit lautem Stöhnen zu Boden und kroch heftig weinend auf allen vieren in eine Ecke des Ladens. Wie im Traume vernahm er den dröhnenden Ruf des Prinzipals:
»Halt! Wohin? Gib das Geld heraus!...«
»Aber er lügt ja!...« ließ die quiekende Stimme des Kommis sich vernehmen.
»Ich werf' dir die Gewichte an den Schädel!...«
»Kiril Iwanytsch ... es ist mein Geld!... Der Schlag soll mich treffen...«
»Halt's Maul!...«
Dann ward es still. Der Prinzipal begab sich in sein Zimmer, und gleich darauf vernahm man von dort das laute Klappern der Kugeln am Rechenbrett. Ilja saß am Boden, hielt mit den Händen seinen Kopf und schaute voll Haß auf den Kommis, der in einer zweiten Ecke des Ladens stand und dem Knaben seinerseits grimmige Blicke zuwarf.
»Na, du Strolch – hast du's ordentlich gekriegt von mir?« fragte er leise und fletschte die Zähne.
Ilja zuckte die Achseln und schwieg.
»Wart', ich will dir gleich noch ... 'nen Denkzettel geben!«
Er schritt langsam auf den Knaben los und sah ihm mit seinen runden, boshaften Augen ins Gesicht. Ilja aber erhob sich vom Boden, nahm mit einer raschen Bewegung ein langes, schmales Messer vom Ladentisch und sagte:
»Komm her!«
Da blieb der Kommis stehen, maß mit starren Augen die stämmige, kräftige Gestalt mit dem Messer in der einen Hand und murmelte verächtlich:
»Pah, du ... Sträflingsbrut! ...«
»So komm doch her, komm her!« wiederholte der Knabe und ging ihm einen Schritt entgegen. Vor Iljas Augen drehte sich alles im Kreise, in seiner Brust aber fühlte er eine große Kraft, die ihn kühn vorwärtstrieb.
»Leg' das Messer hin!« ließ sich die Stimme des Prinzipals vernehmen.
Ilja fuhr zusammen, als er den roten Bart und das blutunterlaufene Gesicht des Kaufmanns erblickte, doch rührte er sich nicht vom Fleck.
»Das Messer sollst du hinlegen, sag' ich!« wiederholte der Kaufmann leiser.
Ilja legte das Messer auf den Ladentisch, schluchzte laut auf und setzte sich wieder auf den Fußboden. Er hatte einen Schwindelanfall, der Kopf schmerzte ihn, und sein wundes Ohr gleichfalls. Ein schwerer Druck, der auf seiner Brust lastete, benahm ihm den Atem, hemmte seinen Puls und stieg langsam, ihn am Reden hindernd, in seine Kehle empor. Wie irgendwoher aus der Ferne vernahm er die Stimme des Prinzipals: