»Ich hab' dich rufen lassen, Ilja, um dir zu sagen, daß ich dich nicht mehr brauche – nimm also deine Siebensachen und geh deiner Wege ...«
Ilja zuckte zusammen und öffnete vor Verblüffung den Mund, vermochte jedoch kein Wort herauszubringen, sondern machte kehrt und ging aus dem Zimmer.
»Halt!« rief der Kaufmann, den Arm hinter ihm ausstreckend, und während er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, rief er noch einmaclass="underline"
»Halt!«
Dann hob er den Finger auf und fuhr langsam und wohlgesetzt fort:
»Nicht darum allein hab' ich dich rufen lassen ... Nein! ... Auch eine Lehre wollt' ich dir mit auf den Weg geben ... Ich wollte dir erklären, warum ich dich nicht mehr brauchen kann. Nichts Böses hast du mir getan ... bist ein Junge, der was gelernt hat ... bist fleißig, ehrlich und kräftig ... ja wohl! Das sind deine Trümpfe – und doch bist du für mich ungeeignet ... paßt nicht für mein Geschäft ... Wieso – fragst du? ... Hm ja ...«
Ilja wunderte sich, daß man ihn zu gleicher Zeit lobte und fortjagte. Das wollte sich in seinem Kopfe durchaus nicht zusammenreimen, rief eine seltsam zwiespältige Empfindung in ihm hervor und brachte ihn auf den Gedanken, daß der Prinzipal vielleicht selbst nicht wisse, was er tue ... Er trat vor und sagte in aller Ehrerbietung:
»Sie jagen mich wohl fort, weil ich vorhin mit dem Messer losging? ...«
»Um des Himmels willen!« rief die Frau des Prinzipals ganz erschrocken. »Wie frech er ist! O Gott! ...«
»Das ist's!« sagte der Prinzipal selbstzufrieden, während er Ilja zulächelte und mit dem Finger nach ihm tippte. »Du bist – frech! Das ist das richtige Wort: frech bist du ... Ein junger Bursche, der in fremden Diensten steht, muß demütig sein ... demütig und bescheiden, wie es in der Heiligen Schrift heißt ... Er hat ganz in dem aufzugehen, was seines Herrn ist. Sein Verstand, seine Redlichkeit ... alles muß nur auf den Vorteil des Herrn gerichtet sein ... Und du hast deinen eignen Gesichtspunkt ... Das geht entschieden nicht, siehst du ... Du sagst zum Beispiel einem Menschen ins Gesicht – er sei ein Dieb! Das ist nicht schön, das ist frech ... Wenn du schon selbst so ehrlich bist, dann konntest du es mir ja sagen, was mit den Leuten los ist – aber ganz insgeheim ... Ich würde schon alles andere veranlaßt haben, dafür bin ich ja der Prinzipal! ... Und du sagst ganz laut: er stiehlt! ... Du drängst den Leuten deine Ehrlichkeit auf. Wenn von dreien nur einer ehrlich ist, so hat das für mich gar nichts zu bedeuten ...«
Strogany wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn, stieß einen Seufzer aus und fuhr mit einem Ausdruck, in dem zugleich Rührung und Selbstzufriedenheit lag, also fort:
»Dann greifst du auch gleich zum Messer ...«
»O Jesus Christus!« rief erschrocken die Frau Prinzipalin, während die drei Mädchen sich noch enger aneinander schmiegten.
»Es heißt in der Schrift: ›Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert sterben‹ ... Aus diesem Grunde kann ich dich ganz und gar nicht brauchen ... Geh deiner Wege ... hast mir nichts Schlimmes nachzutragen, so wenig, wie ich dir ... Ich schenke dir sogar den halben Rubel hier – nimm ihn! ... Gesprochen hab' ich mit dir, wie man sonst mit 'nem Jungen nicht spricht – ganz ernst, daß du's zu Herzen nimmst ... und so weiter ... Vielleicht tust du mir sogar leid ... aber du paßt eben nicht für mich! Paßt der Pflock nicht ins Loch, dann ist's am besten, ihn wegzuwerfen ... Na, geh also jetzt!«
Ilja hatte die Rede des Prinzipals mit Aufmerksamkeit angehört und sehr einfach gedeutet: der Kaufmann jagte ihn fort, weil er Karp nicht fortjagen konnte, da er sonst ohne Kommis geblieben wäre. Dieser Gedanke erleichterte sein Herz und stimmte ihn freudig, und der Prinzipal erschien ihm als ein lieber, einfacher Mensch.
»Halt nur das Geld fest!« rief Strogany.
»Leben Sie wohl!« wiederholte Ilja, während er die Silbermünze fest in der Hand hielt. »Ich dank' auch schön!«
»Seht doch! Nicht 'ne Träne hat er vergossen!« hörte Ilja die Frau des Prinzipals vorwurfsvoll hinter seinem Rücken ausrufen.
Als Ilja, mit dem Bündel auf dem Rücken, aus dem schweren Tor des Kaufmannshauses trat, war's ihm, als ob er aus einem grauen und öden Lande käme, von dem er in einem Buche gelesen hatte, in dem es nichts gab, keine Menschen, keine Dörfer, sondern nur Steine – und mitten unter diesen Steinen lebte ein guter, alter Zauberer, der freundlich jedem, dessen Schritt sich in dieses Land verirrte, den Weg aus demselben zeigte.
Es war am Abend eines klaren Frühlingstages. Die Sonne ging unter, in den Fenstern der Häuser flammte ihr roter Feuerschein. Das rief in Ilja die Erinnerung an jenen andern Tag wach, da er zum erstenmal vom Ufer des Flusses die Stadt erblickte. Das Bündel mit seinen Habseligkeiten lastete schwer auf seinem Rücken, und er verlangsamte seinen Schritt. Auf dem Bürgersteig hasteten die Menschen daher und stießen in der Eile gegen sein Bündel an; Equipagen rollten an ihm vorüber; in den schrägen Strahlen der Sonne tanzte der Staub, und überall herrschte lautes, lebhaftes, munteres Treiben. Im Gedächtnis des Knaben ward alles das lebendig, was er während all der Jahre in der Stadt erlebt hatte. Er fühlte sich als erwachsenen Menschen, sein Herz schlug stolz und frei, und in seinen Ohren klangen die Worte des Kaufmanns:
»Du bist ein Junge, der was gelernt hat, bist nicht dumm, bist kräftig und nicht träg ... Das sind deine Trümpfe ...«
»Wir wollen das Spiel wagen!« sagte sich Ilja im stillen, während er seinen Schritt wieder beschleunigte. Ein berauschendes Gefühl der Freude erfüllte ihn, und unwillkürlich lächelte er bei dem Gedanken, daß er am nächsten Morgen nicht mehr nach dem Fischladen zu gehen brauchte ...
IX
In das Haus des Petrucha Filimonow zurückgekehrt, überzeugte sich Ilja mit Genugtuung davon, daß er in der Tat während der Zeit, die er in dem Fischgeschäft verbracht hatte, recht groß geworden war. Alle Leute im Hause begegneten ihm mit Aufmerksamkeit und schmeichelhafter Neugier, und Perfischka reichte ihm sogar die Hand.
»Meine Hochachtung dem Herrn Kommis!« begrüßte ihn der Schuster. »Na, Bruder, hast du deine Zeit abgedient? Ich hab' von deinen kühnen Streichen gehört – ha ha! Sie lieben es, Bruder, daß ihnen die Zunge die Fersen leckt, aber nicht die Wahrheit steckt ...«
Als Mascha Ilja erblickte, rief sie hocherfreut:
»Oho! Wie groß du geworden bist!«
Auch Jakow freute sich darüber, den Kameraden wieder zu sehen.
»Das ist schön«, sprach er. »Jetzt können wir wieder zusammen leben, wie früher ... Weißt du, ich hab' ein Buch, ›Die Albigenser‹ heißt es – eine Geschichte, sag' ich dir! Da kommt einer vor, Simon Montfort heißt er – ein wahres Ungeheuer!«
Und Jakow bemühte sich in seiner wirren, hastigen Art, den Inhalt des Buches wiederzugeben. Ilja schaute ihn an und dachte im stillen mit Befriedigung, daß sein großköpfiger Kamerad doch eigentlich genau derselbe geblieben war, der er früher gewesen. In Iljas Benehmen gegenüber dem Kaufmann Strogany sah Jakow nichts Besonderes. Er sagte ganz einfach:
»Das war recht so ...«
Petrucha hatte, als er Iljas Bericht über die Vorgänge in dem Laden vernommen, die Aufführung des Knaben gutgeheißen und mit seinem Beifall nicht zurückgehalten.
»Recht geschickt hast du's ihnen gegeben, mein Lieber! Sehr geschickt! ... Na, Kiril Iwanowitsch konnte natürlich seinen Karp nicht deinetwegen laufen lassen ... Karp kennt das Geschäft und ist schwer zu ersetzen ... Du hast es mit der Wahrheit gehalten, hast mit offenen Karten gespielt ... Da mußte eben der andere die Oberhand behalten ...«
Tags darauf jedoch meinte Onkel Terentij leise zu seinem Neffen:
»Hör' mal ... sei gegen Petrucha nicht zu offenherzig! ... Nur vorsichtig ... Er hat dich nicht gern ... schimpft in einem fort ... Seht doch, sagt er, wie wahrheitsliebend er ist!«