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»Immer noch bei Filimonow ...«

»So – und Jaschka sagte doch, du wärst irgendwo in einem Fischladen ...«

Mit Stolz erzählte nun Ilja dem alten Kameraden seine Erlebnisse im Hause des Kaufmanns Strogany.

»Ei der Tausend!« rief Gratschew beifällig. »Und mich haben sie gleichfalls weggejagt – aus der Buchdruckerei, weißt du, wegen Frechheit ... Bei 'nem Maler war ich dann, hab' da die Farben gemischt und so weiter ... Bis ich mich mal auf ein frischgestrichenes Schild setzte, da ging's natürlich los! Gehauen haben sie mich, die Bande – der Meister, und die Meisterin, und der Geselle ... bis sie die Arme nicht mehr rühren konnten ... Jetzt bin ich bei einem Brunnenmacher ... Sechs Rubel monatlich hab' ich ... Komme eben vom Mittagessen, und nun geht's zurück zur Arbeit ...«

»Scheinst es nicht sehr eilig zu haben mit der Arbeit?«

»Ach, hol' sie der Teufel! Wer Arbeit kennt, reißt sich nicht danach ... Ich muß doch wieder mal bei euch vorsprechen ...«

»Komm nur!« lud Ilja ihn freundschaftlich ein.

»Lest ihr immer noch Bücher?«

»Gewiß – und du?«

»Na, so gelegentlich ...«

»Und machst du auch noch Verse?«

»Auch Verse mach' ich ...«

Paschka lachte von neuem höchst vergnügt.

»Du kommst also, nicht wahr? Und vergiß die Verse nicht!«

»Gewiß komm' ich ... Will auch Schnaps mitbringen ...«

»Trinkst du denn?«

»Na, so 'n bißchen säuft man ... Aber leb' wohl!«

»Leb' wohl!« sagte Ilja.

Er ging seiner Wege, in Gedanken an Paschka versunken. Es schien ihm sonderbar, daß dieser zerlumpte Bursche beim Anblick seiner schmucken Stiefel und sauberen Kleider gar keinen Neid gezeigt hatte, ja sie überhaupt nicht bemerkt zu haben schien. Und als Ilja von seinem selbständigen, freien Leben erzählt hatte, da hatte Paschka sich ganz aufrichtig gefreut. Ilja versank in Nachsinnen und dachte bei sich: Will denn dieser Gratschew nicht dasselbe, was alle andern wollen – ein sauberes, ruhiges, unabhängiges Leben?

Ganz besonders deutlich fühlte Ilja jene Traurigkeit und Unruhe, wenn er die Kirche besucht hatte. Nur selten versäumte er den Mittags- und Abendgottesdienst. Er betete nicht, sondern stand einfach irgendwo im Winkel und lauschte, ohne an irgend etwas zu denken, auf den Kirchengesang. Die Menschen standen schweigsam und unbeweglich da, und es lag etwas Einmütiges in ihrem Schweigen. Die Wogen des Gesanges schwebten durch das Gotteshaus zugleich mit den Wolken des Weihrauchs, und zuweilen schien es Ilja, daß auch er selbst mit den Tonwellen zugleich emporgetragen werde und in den weichen, kosigen Lüften hoch oben im Kirchenraum dahinschwebe. In der feierlichen Stimmung, die das Gotteshaus erfüllte, lag etwas so Friedliches, das der Seele wohltat, das so ganz verschieden war von dem Wirrwarr des Lebens und gar nicht mit ihm vereinbar schien. Anfangs blieb dieser Eindruck in Iljas Seele gesondert von den Eindrücken des Alltagslebens, er vermischte sich mit ihnen nicht und beunruhigte ihn nicht. Dann aber war es ihm, als ob in seinem Herzen etwas lebte, das ihn gleichsam ständig beobachtete. Es blieb scheu und ängstlich in irgendeinem Winkel seiner Seele versteckt, wenn er seinen gewohnten Geschäften nachging, begann jedoch in der Kirche zu wachsen und rief in ihm einen seltsamen, beunruhigenden Gedanken hervor, der seinen Träumen von einem behaglichen, sauberen Leben entgegengesetzt war. In solchen Momenten fielen ihm stets die Erzählungen vom Einsiedler Antipa und die frommen Reden des alten Lumpensammlers ein:

»Der Herr sieht alles, kennt aller Dinge Maß! Außer Ihm gibt es Keinen!«

Voll innerer Unruhe und Verwirrung kam Ilja nach Hause, in dem Gefühl, daß sein Zukunftstraum mehr und mehr verblich, und daß in ihm selbst irgendein Jemand steckte, dem die Sehnsucht nach dem kleinen Galanteriewarengeschäft fremd war. Aber das Leben machte sein Recht geltend, und dieser Jemand tauchte in der Tiefe seiner Seele unter ...

Jakow, mit dem sonst Ilja über alles mögliche zu reden pflegte, erfuhr nichts von dem Zwiespalt in seiner Seele. Ihm selbst kam dieser Zwiespalt nur unwillkürlich zum Bewußtsein – niemals lenkte er freiwillig seine Gedanken auf jene ihm unbegreifliche Empfindung.

Seine Abende brachte er sehr angenehm zu. Wenn er aus der Stadt heimkehrte, ging er in den Keller zu Mascha und fragte sie, wie wenn er der Herr im Hause wäre:

»Na, Maschutka – ist der Samowar schon bereit?«

Der Samowar war schon bereit und stand brodelnd und singend auf dem Tische. Ilja brachte stets etwas Leckeres mit: Kringel, oder Pfefferkuchen, oder gar Eingemachtes, und Mascha bewirtete ihn dafür mit Tee. Das junge Mädchen hatte gleichfalls angefangen, Geld zu verdienen: Matiza hatte sie gelehrt, Blumen aus Papier zu machen, und es bereitete Mascha Vergnügen, aus den feinen, rauschenden Blättchen rote Rosen zusammenzusetzen. Sie verdiente bis zu zehn Kopeken an einem Tage. Ihr Vater war am Typhus erkrankt, hatte ein paar Monate im Krankenhaus gelegen und war ganz mager und ausgetrocknet, mit schönen, dunklen Locken auf dem Kopfe, von dort zurückgekehrt. Er hatte sich seinen zerzausten, struppigen Bart abrasieren lassen, und trotz seiner eingefallenen, gelben Backen sah er jünger aus als vorher. Er arbeitete, wie früher, in fremden Werkstellen und schlief sogar selten zu Hause, so daß seine Tochter vollkommen über die Wohnung verfügen konnte. Sie nannte ihn, wie alle andern Leute, einfach Perfischka; dem Schuster machte ihr Verhalten gegen ihn viel Spaß, und er hatte sogar Achtung vor seinem kraushaarigen Mädchen, das ebenso herzhaft zu lachen verstand wie er selber.

Die Teeabende bei Mascha wurden Ilja und Jakow ganz und gar zur Gewohnheit. Sie tranken lange und viel, gerieten dabei in Schweiß und plauderten über alle möglichen Dinge, die sie interessierten. Ilja berichtete, was er alles in der Stadt gesehen hatte, und Jakow, der den ganzen Tag las, erzählte von seinen Büchern, von den Skandalszenen in der Schenke, beklagte sich über seinen Vater und schwatzte oft ein Zeug zusammen, das Ilja und Mascha ganz ungereimt und unverständlich vorkam. Der Tee schmeckte ihnen allen ausgezeichnet, und der Samowar, der ganz von einer dicken Oxydschicht bedeckt war, grinste sie mit seiner drolligen alten Fratze pfiffig-freundlich an. Fast jedesmal, wenn die Kinder eben so recht auf den Geschmack gekommen waren, begann er gutmütig-boshaft zu summen und zu surren, und es fand sich, daß kein Wasser darin war. Mascha nahm ihn und lief damit fort, um Wasser nachzugießen – und das mußte sie an jedem Abend mehrmals wiederholen.

Wenn der Mond am Himmel stand, trug sein Licht zu dem Freudenfest der Kinder sein Teil bei. In dieser Höhle, die durch halb verfaulte Wände und eine niedrige, schwer lastende Decke eingeengt wurde, empfand man stets den Mangel an Luft und Licht; dafür ging es darin um so fröhlicher zu, und an jedem Abend wurden da viele edle Empfindungen und jugendlich naive Gedanken geboren.

Zuweilen nahm auch Perfischka an der Teegesellschaft teil. Gewöhnlich saß er in einem dunklen Winkel des Zimmers auf einer Art Gestell neben dem behäbigen, halb in die Erde eingesunkenen Ofen, oder er kletterte auf den Ofen selbst hinauf und ließ seinen Kopf ins Zimmer hineinhängen, daß man, wenn er sprach oder lachte, seine kleinen weißen Zähne durchs Dunkel schimmern sah. Seine Tochter reichte ihm eine große Kanne Tee, ein Stückchen Zucker und Brot; er nahm lachend das Dargebotene und sagte:

»Danke ganz ergebenst, Marja Perfiljewna. Bin tief gerührt von Ihrer Güte ...«

Manchmal rief er mit einem neidischen Seufzer:

»Ihr lebt wirklich nicht übel, Kinder – daß euch das Mäuslein beiße! Ganz und gar wie Menschen!«

Und dann fuhr er, lächelnd und seufzend zugleich, also fort:

»Das Leben der Menschen wird immer schöner ... von Jahr zu Jahr angenehmer wird's! Ich hab' in euren Jahren mich nur mit dem Knieriemen unterhalten. Er fuhr mir immer streichelnd über den Rücken – und ich heulte vor Vergnügen, so laut ich konnte. Hörte der Knieriemen auf – dann wurde mein Rücken böse, er begann zu schmollen und zu grollen, hatte Sehnsucht nach seinem lieben Freunde. Na, er ließ nicht lange auf sich warten – es war nämlich ein sehr gefühlvoller Knieriemen. Das war meine ganze Unterhaltung in der Lehrzeit, bei Gott! Ihr werdet nun bald größer, werdet immer gern zurückdenken ... an die Gespräche, die verschiedenen Vorkommnisse und das ganze gemütliche Leben hier. Und ich bin groß und alt geworden – sechsundvierzig Jahre zähl' ich schon – und habe nichts, woran ich mich erinnern könnte! Nicht 'nen Funken! Gar nichts ist in meinem Gedächtnis geblieben. Als ob ich taub und blind gewesen wäre in meinen jungen Jahren ... Nur daran erinnere ich mich, daß mir immer vor Hunger und Kälte die Zähne im Munde geklappert haben, und daß ich blaue Flecke im Gesicht hatte ... Wie meine Knochen, meine Ohren und Haare heil bleiben konnten – das kann ich nicht begreifen. Gehauen haben sie mich, daß die Fetzen flogen – mit Verlaub zu sagen. Ach ja, das war eine Lehrzeit ... wie 'nen Strick haben sie mich zurechtgedreht ... Aber obschon sie mich schlugen, mir das Blut aussogen und das Fell über die Ohren zogen – der Russe in mir ist doch am Leben geblieben! Eine ausdauernde Rasse, diese Russen! Im Mörser kann man sie zerstampfen – sie werden immer wieder auf dem Posten sein. Nehmt mich zum Beispieclass="underline" mich haben sie zu Mehl zermahlen und zu Spleißen zerspalten – und ich lebe vergnügt, wie der Kuckuck im Walde, flattre vergnügt von einer Kneipe zur andern und bin mit der ganzen Welt zufrieden! Gott der Herr hebt mich eben ... Wie Er mich mal sah, mußte Er lachen ... ›Ach, du bist es!‹ sagte Er – und ließ mich laufen ...«