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Am Morgen dieses Tages hatte ein Polizist für ein Stück Eierseife und ein Dutzend Haken ihm erlaubt, mit seiner Ware vor dem Zirkus zu stehen, in dem gerade eine Tagesvorstellung stattfand, und Ilja hatte sich so recht bequem dicht am Eingang aufgepflanzt. Da kam der Gehilfe des Reviervorstehers, gab ihm eins in den Nacken, warf das Gestell um, auf dem sein Kasten stand – und Iljas ganzer Warenbestand lag am Boden. Einige Gegenstände fielen in den Schmutz und wurden verdorben, andere gingen verloren. Während Ilja seine Ware vom Boden aufhob, sagte er zu dem Gehilfen:

»Das ist ungesetzlich, Euer Wohlgeboren ...«

»Wa–as? ...« fragte der Beleidiger, an seinem roten Schnurrbart drehend.

»Sie dürfen nicht schlagen ...«

»Meinst du? – Migunow, führ' ihn mal auf die Wache!« sagte der Gehilfe ruhig.

Und derselbe Polizist, der Ilja erlaubt hatte, vor dem Zirkus zu stehen, führte ihn nach der Wache, wo Lunew bis zum Abend festgehalten wurde.

Schon früher hatte Lunew kleine Konflikte mit der Polizei gehabt, auf der Wache aber hatte er zum erstenmal gesessen, und zum erstenmal empfand er in seinem Innern dieses bittere Gefühl der erlittenen Schmach und des Hasses.

Er lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett und vertiefte sich ganz in die qualvolle Empfindung des schmerzlichen Druckes, der auf seiner Brust lastete. Hinter der Wand, die seine Kammer von der Schenke trennte, vernahm man ein dumpfes Getöse und Stimmengewirr, wie wenn rasche, trübe Bäche vom Berge in den nebeligen Herbsttag hinabstürzten. Man hörte das Klappern der blechernen Präsentierteller, das Klirren des Geschirrs, das laute Rufen der Gäste, die Branntwein, Tee oder Bier bestellten ... Die Kellnerburschen schrien:

»Sof–fort!«

Und den Lärm durchschnitt, wie ein zitternder Stahlfaden, eine hohe Kehlstimme, die schwermütig sang:

»Ich ho–offte nicht, dich zu verli–ieren ...«

Eine zweite Stimme, ein volltönender Baß, der in dem Chaos des Schenkenlärms zerfloß, sang leise und harmonisch weiter:

»O Ju–ugend, und nun gi–ingst du hin!«

Irgend jemand schrie mit einer Stimme, die aus einer hölzernen, trockenen, rissigen Kehle zu kommen schien:

»Red' keinen Unsinn! Denn es steht geschrieben: ›Harre aus in Geduld, und ich werde dich stärken in der Stunde der Versuchung ...‹«

»Redest selber Unsinn«, fiel eine zweite Stimme lebhaft ein. »Denn es steht ebenda geschrieben: ›Weil du weder kalt bist noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde ...‹ Siehst du! Was hast du also bewiesen? ...«

Lautes Lachen ertönte, und gleich darauf ließ sich eine quiekende Stimme vernehmen:

»Und ich gab ihr gleich eins in ihr niedliches Gesicht, und ans Ohr, und in die Zähne – schwapp, schwapp, schwapp!«

Die andern lachten, und die quiekende Stimme fuhr laut und schrill, sich überhastend, fort:

»Sie stürzt – pardauz! auf die Erde, und ich schlag' sie wieder in ihre hübsche Larve – da hast du! Hab' ich dich zuerst geküßt, darf ich dich auch hauen ...«

»Heda, du – Bibelkundiger!« rief irgend jemand höhnisch.

»Nein, ich kann mich nicht halten, ich bin mal so hitzig!«

»›Ich liebe, klage an und strafe‹ ... hast du vergessen? ... Und dann noch eins: ›Richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest!‹ ... Und die Worte König Davids – hast du die vergessen?«

Ilja hörte den Streit, das Lied und das Lachen, doch alles das fiel in seiner Seele gleichsam daneben und weckte in ihm gar keine Vorstellung. Vor ihm im Dunkel schwebte das magere Gesicht des Polizeibeamten, der ihn so tief gekränkt hatte – mit der großen Hakennase, den boshaft blitzenden Augen und dem zuckenden roten Schnurrbart. Er starrte in dieses Gesicht und biß seine Zähne immer fester zusammen. Aber das Lied hinter der Wand tönte immer lauter, die Sänger waren ganz hingerissen, und ihre Stimmen klangen immer freier und lauter. Die schwermütigen Töne fanden den Weg in Iljas Brust und brachten den eisigen Klumpen von Groll und Bitterkeit darin zum Schmelzen.

»Gewandert bi–in ich wackrer Bursche ...« sang die hohe Stimme.

»Vom hohen Berg zur Me–eeresbucht«, fuhr die zweite Stimme in dem Liede fort. Und dann vereinigten sich beide in der Klage:

»Hab' ganz Sibi–irien durchzogen.

»Den Weg zum Ha–eim hab' ich gesucht ...«

Ilja seufzte, als er die traurigen Worte des Liedes vernahm. In dem betäubenden Lärm der Schenke nahmen sie sich aus wie kleine Sterne am bewölkten Himmel. Die Wolken eilen rasch dahin, und die Sterne erscheinen und verschwinden abwechselnd ...

»Der Hunger quälte ma–eine Zunge.

»Der Frost macht' meine Gli–ieder steif ...« berichtete das Lied klar und anschaulich.

»Da singen sie nun so prächtig,« dachte Ilja bei sich, »daß das Lied einem ans Herz greift ... Und dann betrinken sie sich und prügeln sich vielleicht gar ... Nicht lange hält der Mensch beim Guten aus ...«

»Ach du mein hartes, ha–artes Schicksal«, klagte die hohe Stimme.

Und der Baß dröhnte tief und kräftig:

»Bist mir wie eine La–ast von Stahl ...«

In Iljas Erinnerung tauchte das Bild des Großvaters Jeremjej auf. Der Alte schüttelte den Kopf und sprach, während die Tränen seine Wangen netzten:

»Geschaut hab' ich, geschaut – und hab' doch die Wahrheit nie erschaut ...«

Ilja dachte daran, daß auch Jeremjej, der doch Gott so von Herzen geliebt, insgeheim Geld aufgespart hatte. Und Onkel Terentij fürchtete Gott – und hatte das Geld gestohlen. Alle Menschen sind so gleichsam in sich zerspalten. In ihrer Brust ist eine Wage, und das Herz neigt sich, als Zünglein an der Wage, bald zur einen, bald zur andern Seite und wägt so das Gute und Böse.

»Aha-a!« brüllte jemand in der Schenke. Und gleich darauf stürzte etwas zu Boden und schlug mit solcher Gewalt auf, daß sogar das Bett unter Ilja erzitterte.

»Halt! ... Um Himmelswillen ...«

»Halt ihn! ... A-ah!«

»Zu Hilfe! Polizei! ...«

Der Lärm ward mit einemmal stärker und wilder, eine Menge neuer Laute ertönte, und als ein wüstes, wirbelndes Geheul dröhnten sie in der Luft, gleich einer Meute böser, hungriger, fest aneinandergeketteter Hunde.

Ilja horchte mit Genugtuung auf das rohe Lärmen: es war ihm angenehm, zu hören, daß gerade das geschehen war, was er vorausgesetzt hatte. Es war wie eine Bestätigung dessen, was er von den Menschen dachte. Er schob die Hände unter den Kopf und überließ sich wieder seinen Gedanken.

»... Mein Großvater Antipa muß wohl eine große Sünde begangen haben, wenn er acht volle Jahre lang schweigend büßte ... Und alle Leute verziehen ihm, sprachen mit ihm voll Achtung und nannten ihn einen Gerechten ... Aber seine Kinder stürzten sie ins Verderben. Den einen Sohn schickten sie nach Sibirien, den andern jagten sie aus dem Dorfe ...«

Eine Äußerung des Kaufmanns Strogany fiel Ilja ein: »Ist unter zehn Menschen ein Ehrlicher auf neun Spitzbuben,« hatte er damals, als er ihn entließ, gesagt, »dann hat keiner was gewonnen, und der Eine geht zugrunde ... Wo mehr sind, da ist das Recht ...«

Ilja mußte lächeln. Seine Brust durchzuckte gleich einer kalten Natter ein böses Gefühl gegen die Menschen. In seinem Gedächtnis tauchten bekannte Bilder auf. Die große, plumpe Matiza wälzte sich mitten auf dem Hofe im Schmutz und ächzte:

»A–ach, mein Mütterchen! ... Mein liebes Mütterchen! Wenn du mir doch verge-eben möchtest!«

Der betrunkene Perfischka stand dabei, schwankte selbst hin und her und sagte vorwurfsvolclass="underline"

»Wie sie sich vollgetrunken hat! Das Schwein ...«

Und von der Vortreppe sah ihnen Petrucha zu, gesund, rotbäckig, und lächelte verächtlich ...

Der Skandal in der Schenke war vorüber. Drei Stimmen – zwei weibliche und eine männliche – versuchten ein Lied zu singen, es gelang ihnen jedoch nicht. Irgend jemand hatte eine Harmonika gebracht; er spielte darauf ein wenig, und zwar recht schlecht, und schwieg dann.