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Ilja vernahm plötzlich in der Schenke Perfischkas helle Stimme, die aus dem Lärm und Geräusch deutlich hervorklang. Der Schuster rief laut in seiner raschen, singenden Weise:

»Ei, so schenk' ein ins Glas, schenk' ein, schenk' ein! Nicht soll deines Herrn Gut leid dir sein! Laß uns trinken und lieben die Frauen und die weite Welt uns anschauen! Und wer etwas hat dagegen, mag den Strick um den Hals sich legen, und kann er nicht leiden den Strick, so brech' er sich das Genick ...«

Vergnügtes Lachen und Beifallsrufe ertönten. Ilja stand auf, ging in den Hof hinaus und blieb auf der Vortreppe stehen. Eine Sehnsucht ergriff ihn, irgendwohin zu entfliehen – wohin, wußte er selbst nicht. Es war schon spät; Mascha schlief; mit dem Sonderling Jakow ließ sich nicht reden, und er lag wohl auch schon zu Hause in seinem Bett. Ilja besuchte ihn überhaupt nicht gern, da Petrucha jedesmal, wenn er hinkam, unangenehm berührt schien und die Stirn in Falten zog. Ein kalter Herbstwind wehte. Dichte, fast schwarze Finsternis erfüllte den Hof, und der Himmel war nicht sichtbar. Die zahlreichen Anbauten im Hofe erschienen wie große, im Winde festgeronnene Stücke der Finsternis. In der feuchten Luft vernahm man ein Huschen, Rauschen und Flüstern, das an die Klagen des Menschen über den Jammer des Lebens gemahnte. Der Wind streifte Iljas Brust, fuhr ihm rauh ins Gesicht, blies ihm seinen kalten Atem hinter den Kragen ... Ein Frostschauer überlief Ilja. So geht's unmöglich weiter, dachte er, ganz unmöglich! Nur weg aus all diesem Schmutz, dieser Unruhe, diesem Wirrwarr! Einsam wollte er leben, rein und still ...

»Wer steht denn da?« ertönte plötzlich eine dumpfe Stimme.

»Ich ... Ilja ... Und wer spricht da?«

»Ich ... Matiza...«

»Wo bist du denn eigentlich?«

»Hier sitz' ich, auf dem Holzstoß...«

»Warum?«

»So ...«

Und beide verstummten.

»Heute ist der Sterbetag meiner Mutter«, tönte nach einer Weile Matizas Stimme aus dem Dunkel.

»Ist sie schon lange tot?« fragte Ilja, um nur irgend etwas zu sagen.

»Schon sehr lange ... an die fünfzehn Jahre ... oder noch mehr... Und deine Mutter, lebt die noch?«

»Nein ... sie ist auch schon tot ... Wie alt bist du denn schon?«

»So gegen dreißig«, sagte Matiza nach einer Weile... »Der Fuß tut mir weh ... Ganz geschwollen ist er, wie 'ne Melone, und schmerzt so ... Ich hab' schon eingerieben, eingerieben, mit allerhand ... es wird nicht besser.«

Irgend jemand öffnete die Tür der Schenke: ein Schwall von lauten Tönen drang auf den Hof hinaus. Der Wind fing sie auf und verstreute sie rings in der Dunkelheit.

»Und du ... warum stehst du denn hier?« fragte Matiza.

»So ... Ich hatte Langeweile ...«

»Ganz wie ich ... Bei mir oben ist's wie in einem Sarge ...«

Ilja vernahm einen schweren Seufzer. Dann sprach Matiza zu ihm:

»Wollen wir zu mir hinaufgehen?«

Ilja schaute nach der Richtung, aus der die Stimme des Weibes kam, und antwortete gleichgültig:

»Gehen wir...«

Matiza ging vor Ilja die Treppe hinauf nach ihrer Dachstube. Sie setzte immer den rechten Fuß zuerst auf die Stufen und zog dann langsam, unter leisem Ächzen, den linken nach. Ilja folgte ihr gedankenlos, ebenfalls langsam, als ob er durch seine innere Verstimmtheit behindert würde, wie Matiza durch ihr krankes Bein.

Die Kammer Matizas war schmal und lang, und ihre Decke hatte in der Tat die Form eines Sargdeckels. Neben der Tür stand ein holländischer Ofen, und an der Wand, mit dem Kopfende an den Ofen anstoßend, befand sich ein breites Bett; gegenüber dem Bett – ein Tisch und zwei Stühle, ein dritter Stuhl stand vor dem Fenster, das als ein dunkler Fleck an der grauen Wand erschien. Ganz deutlich hörte man hier oben das Heulen und Rauschen des Windes. Ilja setzte sich auf den Stuhl am Fenster, beschaute sich die Wände und fragte, auf ein kleines Bild in einer Ecke deutend:

»Was für ein Bild ist denn das?«

»Die heilige Anna ...« sagte Matiza leise und andachtsvoll.

»Und wie heißt du eigentlich?«

»Auch Anna ... wußtest du es nicht?«

»Nein ...«

»Kein Mensch weiß es!« sagte Matiza, während sie schwerfällig auf ihrem Bett Platz nahm. Ilja sah sie an, doch hatte er nicht den Wunsch, mit ihr zu sprechen. Auch Matiza schwieg. So saßen sie stumm eine ganze Weile da, und keins schien die Anwesenheit des andern zu bemerken. Endlich fragte Matiza:

»Nun, was werden wir denn machen?«

»Ich weiß es nicht ...« antwortete Ilja.

»Das wär' auch!« rief das Frauenzimmer und lächelte mißtrauisch.

»Was also?«

»Kannst mich erst mal bewirten. Geh, hol' einen Krug Bier ... Oder nein: kauf mir lieber was zu essen! ... Nichts weiter, nur etwas zu essen ...«

Sie stockte in ihrer Rede, hustete und sagte dann, wie wenn sie sich schuldig fühlte:

»Seit mir nämlich das Bein weh tut, siehst du, hab' ich nichts verdient ... Weil ich doch gar nicht ausgehen kann ... Was ich hatte, ist alles aufgezehrt ... Schon den fünften Tag sitz' ich zu Hause ... Gestern schon war's recht knapp ... Und heute hab' ich überhaupt nichts gegessen ... bei Gott, 's ist wahr!«

Jetzt erst kam es Ilja zum Bewußtsein, daß Matiza eine Dirne war. Er blickte scharf in ihr großes Gesicht und sah, daß ihre Augen fast unmerklich lächelten, und daß ihre Lippen sich bewegten, als ob sie etwas Unsichtbares einsaugten ... Er empfand ihr gegenüber eine gewisse Unbeholfenheit und zugleich ein ganz besonderes, ihm selbst nicht klares Interesse.

»Ich hol' dir gleich was ...«

Er erhob sich rasch, eilte hastig die Treppe hinunter und blieb im Flur der Schenke, vor der Küchentür, stehen. Plötzlich empfand er einen Widerwillen dagegen, wieder nach der Dachstube zurückzukehren. Aber dieser Widerwille zuckte in dem trostlosen Dunkel seiner Seele nur wie ein Fünkchen auf und verlöschte sogleich wieder. Er ging in die Küche, kaufte beim Koch für zehn Kopeken Fleischabfälle, dazu ein paar Schnitten Brot und noch irgend etwas Eßbares. Der Koch legte alles in ein schmutziges Sieb. Ilja nahm dieses wie eine Schüssel in beide Hände, ging damit auf den Flur hinaus und blieb im Nachdenken darüber, wie er wohl zu dem Bier gelangen könnte, eine Weile stehen. Er selbst konnte es am Büfett nicht holen, Terentij hätte ihn gleich ausgefragt. Er rief den Aufwäscher aus der Küche und bat ihn, ihm das Bier zu holen. Der Aufwäscher lief nach dem Büfett, kam gleich wieder zurück, stellte ihm schweigend die Flaschen zu und faßte nach der Klinke der Küchentür.

»Hör' mal,« sagte Ilja – »das ist nicht für mich ... Ein Freund ist bei mir zu Besuch ... für den ist es ...«

»Wie?« fragte der Aufwäscher.

»Einen Freund bewirt' ich ...«

»Ach so ... na, was schadet's denn?«

Ilja fühlte, daß er gar nicht nötig hatte zu lügen, und empfand ein leichtes Unbehagen. Die Treppe hinauf ging er ohne Eile, aufmerksam lauschend, ob nicht jemand ihn anrief. Doch außer dem Tosen des Sturmes war nicht ein Laut zu hören, niemand hielt den Jüngling zurück, und er kehrte mit einem ihm vollkommen klaren, wenn auch noch schüchternen Gefühl der Wollust in die Dachstube zu dem Weibe zurück.

Matiza stellte das Sieb auf ihren Schoß, holte daraus schweigend mit ihren großen Fingern die grauen Fleischstücke hervor, steckte sie in den Mund und begann laut schmatzend zu essen. Ihre Zähne waren groß und scharf, und bevor sie ihnen einen Bissen anvertraute, betrachtete sie ihn aufmerksam von allen Seiten, als ob sie die schmackhafteste Stelle an ihm heraussuchen wollte.

Ilja schaute sie trotzig an, suchte sich vorzustellen, wie er sie umarmen würde, und fürchtete andrerseits, daß er sich dabei ungeschickt anstellen und von ihr ausgelacht werden würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm abwechselnd heiß und kalt.